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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Materialreichtum allein reicht für eine gute Biographie nicht aus: Christoph Schwandt erzählt sich durch das Leben von Carl Maria von Weber
Carl Maria von Weber ist, trotz aller Anstrengungen, jener Ein-Werk-Komponist geblieben, zu dem er vor allem durch die Apodiktik Richard Wagners gemacht worden ist. Die anderen Opern, die Orchester- und Klavierwerke, die Lieder und Ensembles - alles verblasst noch immer neben dem "Freischütz" und führt auf den Bühnen und Konzertpodien trotz mancher bedeutender Anwälte allenfalls ein Schattendasein.
Die Wucht dieser Begrenzung wurde nicht gemildert, sondern eher verschärft durch die Gunst, die gerade diesem "Freischütz" in der dem Kanon verfallenen regietheaterlichen Zerstörungswut zuteilgeworden ist. Vielleicht ist es daher mehr denn je an der Zeit für einen neuen, einen anderen Blick auf den Komponisten - zumal die kleine, aber rührige Gruppe der Weber-Philologen um Joachim Veit dafür vorzügliche Grundlagen geschaffen hat. Christoph Schwandt, von Haus aus Theatermann und als Autor einiger Komponistenbiographien hervorgetreten, hat nun ein solches Buch vorgelegt, im Modus einer erzählenden Biographie.
Ganz unabhängig von der grundsätzlichen Frage, ob dieses Genre an sich wirklich noch angemessen sein kann, erhält es hier doch sein Recht durch den einfachen Umstand, dass eine maßstabsetzende Referenz-Biographie Webers bis heute nicht existiert. Das Buch füllt also eine Lücke, und zwar, erfreulicherweise, einmal ganz unabhängig von Jahrestagen und Gedenkritualen.
Und doch, der Lektüre-Eindruck ist eigenartig. Der Verfasser erzählt Webers Leben, er breitet es einschüchternd detail- und namenverliebt aus, auf bald sechshundert Druckseiten - und das in einer bemerkenswerten Ausschließlichkeit. Selbst die Verheißung des Titels, es gehe dabei um das Leben "in seiner Zeit", also in den dramatischen Verwerfungen der Jahre zwischen 1790 und 1820, erfüllt sich im Grunde nicht, sickern diese Zeitumstände doch höchstens in der Form ergänzender Exkurse in die Erzählung ein.
Der Text gliedert sich in acht riesenhafte Kapitel, die strikt der Weberschen Lebenschronologie folgen, und jedes dieser Kapitel wartet mit einer verwirrenden Fülle von Akteuren, Orten und Kleinigkeiten auf. Wer in der Zeit um 1800 nicht bewandert ist, wird einige Mühe haben, sich im Text überhaupt zurechtzufinden. Schlechterdings gar nichts bleibt unerwähnt, von den amourösen Abenteuern bis zu den Modalitäten von Reise- und Speiseplänen. Nicht, dass hier ein voyeuristischer Blick walten würde: Der Duktus Schwandts weiß sich ganz dem gewissenhaften Ton des Historiographen verpflichtet. Und dennoch, die bloße Fülle vermag eben noch keinen wirklichen Zusammenhang zu stiften, keine Perspektive zu eröffnen.
Dieser Mangel betrifft aber nicht allein die Zeitumstände, die wie eine Dreingabe zur Vita anmuten, sondern erstaunlicherweise gerade die Musik. Webers kompositorisches Schaffen wird, wenn überhaupt, nur mit wenigen Sätzen gewürdigt. Dabei kann es immer wieder zu Schieflagen kommen. So zielt die Behauptung, die erste Sinfonie komme ohne die "klassische Sonatenhauptsatzform" aus, punktgenau am Sachverhalt vorbei, wurde gerade diese Norm doch erst später aus den Werken Beethovens abgeleitet. Selbst die Bemerkungen zum "Freischütz" sind kurz, sie richten sich im Grunde nur auf einige Auffälligkeiten der Dramaturgie. Und gerade diese Oper ist den Zeitgenossen ja als Verheißung und Erfüllung gleichermaßen erschienen, ihr Habitus, ihr ,Ton' wurden als eine Art von Signatur empfunden - eine Signatur, mit der die Widersprüche der Zeit zugleich aufgedeckt und geheilt werden konnten. Der Verfasser meidet derartige Fragen ganz.
Der erdrückende Materialreichtum hatte offenbar seinen Preis. So besitzen die zahlreichen Abbildungen höchst unterschiedliche Qualität, auch darf man die Legenden getrost als mangelhaft bezeichnen. Dem Autor sind im Fluss des Erzählens immer wieder die Tempora durcheinandergeraten, manche Quellen hätten zudem genauer belegt werden können - und Goethe-Briefe sollte man nicht nach "zeno.org" zitieren. Für den Leser bleibt es besonders bedauerlich, dass eine Zeittafel fehlt, denn sie hätte eine leichtere Orientierung bieten können - wie auch ein kurzer biographischer Index mit wenigstens den wichtigsten Personen. Der Verzicht auf ein Werkverzeichnis ist schmerzlich, denn der als Referenz angegebene Katalog in "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" dürfte nicht jedem schnell verfügbar sein.
Es ist keine Frage, Schwandts Buch ist eine Liebeserklärung an seinen Gegenstand. Man muss nun keineswegs jenen bösen Zungen folgen, nach denen solche Liebe weniger förderlich als hinderlich sei. Dieses Defizit macht sich eher in dem befremdlich mit Klischees gesättigten Vorwort von Jürgen Flimm bemerkbar. Aber die lange Erzählung bringt uns nicht näher an den Komponisten heran.
LAURENZ LÜTTEKEN
Christoph Schwandt: "Carl Maria von Weber in seiner Zeit". Eine Biografie.
Schott Verlag, Mainz 2014. 608 S., geb., 35,- [Euro].
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