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Fünfzig Charaktere von Hanns-Josef Ortheil
Als Pendant zum Leipziger Literaturinstitut baute der Romancier Hanns- Josef Ortheil ab 1990 einen Studiengang für Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim auf, erst als Poetikdozent, dann als Professor und Institutsdirektor. Das Entwerfen und Skizzieren literarischer Figuren gehörte bei seinen Studierenden wohl zu den täglichen Fingerübungen. Jetzt, im Ruhestand, versucht sich darin auch der Übungsleiter. Dabei liegt es nahe, für eine Genealogie menschlicher Schwächen und Fehler an die prägnanten "Charaktere" des antiken Autors Theophrast anzuknüpfen. Dessen dreißig Skizzen, etwa über Aberglauben, Geiz, Geschwätzigkeit, Nörgelei, Pedanterie, Ruhmsucht, Schmeichelei, Selbstgefälligkeit, Übereifer, Taktlosigkeit, sind schließlich völlig zeitlos. Träger solcher Züge werden bei Theophrast, so stellt Ortheil im Vorwort fest, in einer geschickten Balance zwischen allgemeinem Typus und besonderer Individualität porträtiert.
Eine modernisierende Fortsetzung dieser alten Charakterisierungskunst kann sich nicht auf bloße Nachahmung beschränken. Elias Canetti hatte das 1974 beherzigt, als er in seinem Buch "Der Ohrenzeuge" ebenfalls fünfzig "lebende Ein-Mann-Raketen" nach Theophrast zündete. Sein Esprit zeigte sich bereits in den wortschöpferischen Titeln: Der "Tränenwärmer" ist ein Kinoenthusiast, der "Leichenschleicher" überbringt Todesnachrichten, die "Silbenreine" ist eine Wortgoldwägende, der "Nimmermuß" ein Neinsager, die "Bitterwicklerin" bewahrt das Unglück aller anderen.
Solche wortspielerischen Rätsel gibt Hanns-Josef Ortheil nirgends auf. Der stets gut proviantierte "Appetitor", der genießerische "Hedomat" oder der aus dem Dienst scheidende "Codaist" führen zwar exotische Namen, die meisten Figuren kleiden sich aber in keine raffinierten Hüllen, bleiben also zu durchschaubar. Eine "Aber-Sagerin", "Gutstrukturierte", "Monologistin" oder "Schönfärberin" umgibt kein Geheimnis über ihre jeweils dominante Verhaltensform.
Sicher entspricht das der Absicht, einen klaren Katalog des Menschlichen und Allzumenschlichen vorzulegen. Und sicher glänzen einzelne Typologien auch durch scharfe Beobachtungen und prägnante Attribute. Wer ist nicht schon der "Promovendin" begegnet, die jede Nichtigkeit zur Doktorarbeit erhebt, fein zergliedert, systematisch durchdringt, umständlich entwickelt und dennoch nie zum Ende kommt? Auch der "Internet-Rezensent" findet endlich einmal Beachtung (Theophrast und Canetti natürlich noch unbekannt): Printmedien lehnt er ab und bespricht mit wichtiger Gebärde angeforderte Freiexemplare, um sie dann gleich wieder zu verkaufen. Die "Bestellfreudige" ist ebenfalls ein Kind unserer Zeit: Kommt das ausgewählte Kleidungsstück endlich an, wirft sie sich hinein, postet das Foto auf Instagram und schickt dann die Bestellung zurück.
Das Problem von Ortheils neuen Charakteren ist ihre Absehbarkeit. Wohlwollend schmunzelt man über die ausgestellten Eigenwilligkeiten, von denen uns manche auch selbst vertraut sein mögen. Der Humor ist so freundlich sympathisierend wie auf Bildern Carl Spitzwegs. Vielleicht teilt Hanns-Josef Ortheil mit diesem berühmten Maler des Biedermeiers sogar noch mehr - seine Charakterminiaturen sind handwerklich gut gemacht, literarisch aber doch von allzu begrenzter Zündkraft. ALEXANDER KOSENINA
Hanns-Josef Ortheil: "Charaktere in meiner Nähe".
Reclam Verlag, Ditzingen 2022. 128 S., geb., 18,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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