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Ein Pole in Paris: Thomas Kabisch hat einen hinreißenden Führer durch die Klaviermusik Chopins geschrieben.
Von Jan Brachmann
Seit Frédéric Chopin ist die Welt der Musik eine andere. Obwohl er in seinen neununddreißig Lebensjahren fast nichts anderes als Klaviermusik schrieb, war sein Einfluss auf das Form-, Satz- und Tonalitätsverständnis künftigen Komponierens und Improvisierens immens. Insofern ist der scharfsinnige Band von Thomas Kabisch über Chopins Klaviermusik in der Beck-Reihe "Wissen" überfällig und zugleich unangemessen. Wo man "Bachs Passionen" oder "Mozarts Streichquintetten" jeweils einen eigenen Band gewidmet hat, wird es dem Rang Chopins nicht gerecht, ihn in diesem Format zusammenzuraffen. Schon die Mazurken allein hätten einen eigenen Band verdient.
Auf dem knapp bemessenen Platz leistet Kabisch gleichwohl Großartiges. Das fängt mit dem Grundlagenkapitel an: Es beschreibt Chopin als Polen in Paris, dessen Musik gleichzeitig als universell und spezifisch polnisch wahrgenommen wird. Zugleich trage diese Musik den romantischen Widerspruch zwischen dem Schönen (kodifiziert in verbindlichen Formen) und dem Charakteristischen in sich aus. Chopins Komponieren übe oft Kritik an der Diskursivität, Rationalität und Konflikt-Versöhnung der Sonatenform. Wesentlich für ihn seien ferner satztechnische Kippfiguren von Figuration und Kontrapunkt, also von Zierrat, der jederzeit den Charakter selbständiger Stimmen annehmen könne, wie sich umgekehrt ein strenger Satz in luftigen Zierrat aufzulösen vermag.
Mit konsequentem Ernst wird Chopins Werk als "Salonmusik" erfasst, was die Rückbindung abenteuerlicher Freiheit an den Verständigungsprozess innerhalb vertrauter Bezugsgruppen meint. Die Abneigung gegen Provokation und Originalitätssucht korrespondiere im Salon, so Kabisch, mit der Aufgeschlossenheit gegenüber Ungewohntem. Zugleich sei der Komponist entlastet vom Zwang, alle Probleme der musikalischen Kommunikation textimmanent lösen zu müssen. Gerade durch die Einbettung in die lebensweltliche Realität eines Wechselspiels von Konvention und Nuance konnte Chopin viel innovativer sein als jene Komponisten, die für die Anonymität des Konzertsaals schrieben.
Auch Chopins eigene Pianistik war auf den Salon ausgerichtet. In einem eminenten Sinn gehöre die Darbietung bei Chopin zum Werk, das im Text allein, in der Partitur, nicht aufgehe. Das hat Folgen für die Analyse: Ein Höhepunkt des Buches wird dort erreicht, wo Kabisch in der Besprechung der Mazurka op. 33 Nr. 4 auf ein Youtube-Video mit Vladimir Horowitz aus dem Jahr 1987 zurückgreift, um zu demonstrieren, dass der Pianist "den Unterschied von sprach- und bewegungsgenerierter Musik" zuvor so deutlich herausgearbeitet habe, damit der Absturz in die Einstimmigkeit, also die Reduktion des Satzes, als Kulmination des ganzen Stückes erscheinen könne.
Weitere Glanzpunkte des analytischen Teils bieten die Besprechung der Nocturnes op. 62. Im ersten der beiden werden aus Stimmen, die ursprünglich ordnungsbefestigend wirken, im Verlauf des Stücks "separatistische Partisanen", die alles zu zersetzen drohen. Auch im zweiten der beiden Nocturnes ist es die rationale Technik des Kanons im Mittelteil, die integrierend und zerstörend in einem wirkt.
Kabischs Analysen beschränken sich aufs Innermusikalische und beglücken, indem sie Chopins denkerische Brillanz auf den Begriff bringen, ohne ihr den klingenden Reiz zu rauben. Immer wieder kommt die schlüssige Haptik des pianistischen Greifens als Quelle harmonischer Innovation zur Sprache. Mit zwei denkenden Händen hat Chopin unbekannte Regionen der Tonalität erschlossen.
Ein Missverständnis scheint beim Kapitel zu den Polonaisen vorzuliegen, die Kabisch ebenfalls im Salon beheimatet und die er nur als "statische" Formen begreift. Dabei ist gerade die fis-Moll-Polonaise op. 44 dramatisch-prozesshaft. Sie steuert auf den Moment des Zusammenbruchs zu und lässt sich als Erzählung über das Schicksal der Nation hören. Die Polonaise als Genre erinnerte in Polen immer an den Staat, der 1795 von Europas Landkarte verschwunden war. Dass das Pariser Publikum um 1835 bei "Polonaise" an Suiten von Bach und Telemann dachte, wie Kabisch schreibt, darf bezweifelt werden. Eher hatte sich die Polonaise schon in Form von Alla-Polacca-Finalsätzen in Konzerten bei Beethoven und Spohr der Verstehenskonvention eines "Rausschmeißers" unterworfen, oft mit dem Unterton einer Huldigung an den russischen Zaren Alexander I. als Bezwinger Napoleons. Daran mochten die Franzosen vielleicht nicht allzu gern erinnert werden.
Kabischs Buch hat, bei der Knappheit zwangsläufig, einige Fehlstellen: Es blickt bei der Nachwirkung Chopins nur nach Frankreich auf Fauré, Debussy und Boulez und unterschlägt die Wirkung in Russland auf Blumenfeld, Ljadow, Skrjabin, Rachmaninow und Prokofjew. Vermissen muss man auch eine Analyse von Chopins Harmonik. Man findet nichts über die Emanzipation der Dissonanz, die als reiner Farbwert einerseits und Funktionswert innerhalb der Kadenzharmonik andererseits genauso oszilliert wie Chopins Verständnis von Figuration und Kontrapunkt. Dass Chopin die Dissonanz aus der Kadenz befreite, ohne die Tonalität zu zerstören, sicherte ihm seinen Einfluss bis in die Gegenwart des Jazz.
Doch wenn man Kabischs Analyse der vierten Ballade op. 52 gelesen hat - eine Erzählung über die Kraft, die von der Grundtonart f-Moll aufgeboten wird, um der Gravitation der Subdominant-Variante B-Dur entgegenzuwirken, bis diese Kraftanstrengung die Musik zerreißt und sie ins Vormusikalische des Geräuschs abzustürzen droht, also eine Erzählung über einen Sieger, der sich durch seinen Sieg selbst zerstört -, dann möchte man dieses glänzende Buch über Chopin nicht mehr missen.
Thomas Kabisch: "Chopins Klaviermusik". Ein musikalischer Werkführer.
C. H. Beck Verlag, München 2021. 128 S., br., 9,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, Jan Brachmann