In ihrer Parallelgeschichte zum Bestseller Die Kieferninseln schreibt Marion Poschmann humorvoll, poetisch und höchst originell über Kontrollverlust, aufdringliche Freundinnen und aufbegehrende Mütter, über den Frevel an der Natur und ihre fragile Schönheit, über die Dämonisierung von Frauen und die Kraft der Verbundenheit.
Mathildas Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne Erklärung. Ob ihr das Sorge bereitet, lässt sie sich nicht anmerken. Sie, die Studienrätin für Mathematik und Musik, betrachtet die Dinge mit nüchterner Gelassenheit. Als eine Freundin aus Kindertagen auftaucht, ihre sonst so zurückhaltende Mutter plötzlich über eine geheimnisvolle Macht zu verfügen scheint und sie selbst von Visionen heimgesucht wird, kippt jedoch ihre rationale Welt ins Unheimliche. Hat sie von ihrer Mutter das Zweite Gesicht geerbt? Es kommt zu Waldbränden und skurrilen Heilritualen, es kommt Wind auf, dessen Flüstern ihr seltsam vertraut erscheint. Hört sie tatsächlich den Chor der Erinnyen?
Mathildas Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne Erklärung. Ob ihr das Sorge bereitet, lässt sie sich nicht anmerken. Sie, die Studienrätin für Mathematik und Musik, betrachtet die Dinge mit nüchterner Gelassenheit. Als eine Freundin aus Kindertagen auftaucht, ihre sonst so zurückhaltende Mutter plötzlich über eine geheimnisvolle Macht zu verfügen scheint und sie selbst von Visionen heimgesucht wird, kippt jedoch ihre rationale Welt ins Unheimliche. Hat sie von ihrer Mutter das Zweite Gesicht geerbt? Es kommt zu Waldbränden und skurrilen Heilritualen, es kommt Wind auf, dessen Flüstern ihr seltsam vertraut erscheint. Hört sie tatsächlich den Chor der Erinnyen?
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
C. G. Jung unterscheidet zwischen den seelischen Archetypen Animus für Geist und Gedächtnis und Anima für Wind, Atem und Seele, erinnert Rezensentin Beate Tröger, die in Marion Poschmanns Heldin Mathilda ein Sinnbild der Anima erkennt. Mathilda, Lehrerin und noch immer unter der Knute der strengen Mutter, versucht das Verschwinden des Ehemanns zu verschleiern, bis nach und nach Risse im System auftauchen: Ihr Schriftbild verändert sich, Tassen fallen zu Boden und spätestens wenn Mathilda sich mit Freundinnen in eine Waldhütte zurückzieht, ein gigantischer Sturm aufzieht und endgültig alle Ordnung zusammenbricht, staunt die Kritikerin, wie intellgent, dicht und humorvoll Poschmann das Verdängen der Anima gestaltet: Nicht einfach als simple Darstellung des Geschlechterverhältnisses, sondern als Frage nach allen Facetten des Unheimlichen. Wie Poschmann inneres Erleben und "entfesselte Natur" verknüpft, Verweise und Nebenstränge einflicht und beschreibt, wie alles außer Balance gerät, findet Tröger schlicht meisterhaft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2023In einem Jahr mit nach Frauen benannten Tiefdruckgebieten
Das neuntausend Kilometer ferne Gegenstück: Marion Poschmanns neuer Roman "Chor der Erinnyen" ist eine große Gesellschaftsallegorie
Mathilda? Doch, die kennen wir, aber was wir bisher über sie wussten, entstammte der Vorstellung ihres Mannes, Gilbert Silvester. Nicht dass er es dabei an objektiven Fakten hätte fehlen lassen: "Sie unterrichtete Musik und Mathematik an einem Gymnasium und bildete Lehrkräfte aus. Sie galt als Koryphäe der Fachdidaktik, als Kommunikationsgenie und Wunderwaffe, sie wurde, gemessen an seinem eigenen Gehalt, sehr gut bezahlt und war äußerst gefragt." Doch da hören wir auch schon jenen Basso continuo des ehelichen Missmutes heraus, der Herrn Silvester zu dem Kurzentschluss getrieben hat, sich ohne jede Ankündigung nach Japan abzusetzen. Solle Mathilda doch sehen, wie sie mit ihrer Beliebtheit allein zurechtkommt: "Nach allem, was passiert war, lag es klar bei ihr, den ersten Schritt zu tun", sagt sich der in neuntausend Kilometer Entfernung Entschwundene. So die Ausgangslage im vor sechs Jahren erschienenen Roman "Die Kieferninseln" von Marion Poschmann. Mathilda selbst sprach darin kein Wort, und den ersten Schritt wollte am Schluss dann doch Gilbert Silvester selbst tun: "Er würde sie anrufen, sagte er sich. Mathilda, Liebste, würde er sagen. Wir treffen uns in Tokyo, nahm er sich vor zu sagen, es ist alles ganz einfach, komm zu mir nach Japan. Die Laubfärbung beginnt."
Nun lernen wir Mathilda richtig kennen: in Poschmanns neuem Roman, "Chor der Erinnyen". Dessen Titel könnte eine Rachephantasie der verlassenen Gattin vermuten lassen, zumal sich in diesem Buch fast ausnahmslos Frauen tummeln. Doch weit gefehlt. Zwar ist Mathilda ratlos über das plötzliche Verschwinden von Gilbert (der namentlich nie erwähnt wird; man muss schon das Vorgängerbuch kennen, um zu wissen, warum und wohin er sich abgesetzt hat), doch ziemlich am Schluss von "Chor der Erinnyen" findet sich eine Passage zur durch die Herbstwinde stapfenden Mathilda - die Erzählhaltung ist dieselbe auktorial-subjektive wie in "Die Kieferninseln" - bei einer Vision: "Sie sah ihren abwesenden Mann, wie sie mit ihm Hand in Hand den herzroten Wald durchwanderte, ein tiefes, schwingendes Rot wie auf einem abstrakten Gemälde, ein Vorhang aus Blattelementen, hinter dem ein zweiter kam und ein nächster und immer so weiter [. . .] Ihr wiedererinnerter, wiedergefundener Gatte, verloren und wiedergefunden, wie sie ihn an der Hand nahm und durch diesen tiefroten Wald führte, durch diese seltsam bekannte Landschaft." Und wer den Vorgängerroman kennt, der weiß, dass hier nicht vom deutschen, sondern vom japanischen Wald die Rede ist und also alles bereitet ist für eine Aussöhnung. Wobei der Anruf, der Mathilda dann beim Spaziergang erreicht, (noch) nicht aus Japan kommt, sondern von ihrer Mutter.
Die ist eine von drei Frauen rund um Mathilda, die in der knapp einwöchigen Frist, von der dieser Roman erzählt, zu Korrektiven werden: Gegenmodellen, aber auch Vorbildern für die Verlassene. Die Mutter, ehedem depressionskrank, hat, von der Tochter bislang unbemerkt, zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Und die Freundinnen Olivia und Birte - Erstere die engste Vertraute und Expertin für Sepulkralkultur, Zweitere nach der Schulzeit für Jahrzehnte verschüttgegangen und nunmehr Caféhausbetreiberin in Nordfriesland - stehen Mathilda unfreiwillig (und in Birtes Fall auch durchaus unerwünscht) ebenfalls bei im Bemühen, sich selbst und damit uns Auskunft zu geben über ein durch den Abgang des Mannes in Zweifel gezogenes Leben, in dem bisher alles mathematisch klar und musikalisch harmonisch erschien. Poschmanns neuer Roman ist eine große Allegorie aufs Frauendasein in unserer Gesellschaft, doch dabei federleicht geschrieben. Und wie eine Feder lässt sie das Ganze auch immer wieder aufwirbeln durch Naturphänomene, deren Mathilda nunmehr immer neu gewahr wird: Sturm vor allem, aber auch Feuer und Vögel.
Marion Poschmann ist Lyrikerin, und das zeigt sich nicht nur darin, dass es insgesamt neun "Chöre" (wie sie selbst diese Gedichte nennt) im neuen Roman gibt, sondern auch an der Sorgfalt, mit der motivische Konstanten ins Textgewebe eingearbeitet sind: neben den genannten auch noch Harpyien, Füße, Herzen - und nicht zuletzt Kreide als Sinnbild der Lehrertätigkeit, aber auch um gängige Assoziationen wie "Kreide fressen" oder Kreidekreischen auf der Tafel zu wecken. Sprachlich ist "Chor der Erinnyen" ein Fest, eine leider nur knapp zweihundert Seiten währende Erholung von all der banal alltagssprachlichen Prosa, die weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ausmacht: "Sie sah sich selbst mit Engelsgeduld wieder und wieder um den allzu bekannten Teich schreiten, die Frage war doch, wie und warum sie das alles so lange ausgehalten hatte, ob es nicht schon länger an der Zeit gewesen wäre, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die Frage war doch, hätte sie nicht selbst längst die Flucht ergreifen müssen, sich einfach vom Boden lösen und in die Luft verschwinden, aber nun war nicht einmal dieser Wendepunkt in ihrem Leben, dieser doch wohl so zu nennende Einschnitt ihre eigene Entscheidung gewesen."
Doch im Jahr der Handlung, zweimal wird das bemerkt, tragen die wüsten Winde Frauennamen, und einmal charakterisiert sich Mathilda selbst als Sturmtief. Immer mehr findet sie zu sich selbst, und immer mehr finden die anderen Frauen um sie zueinander, sodass Mathilda am Schluss allein steht, aber nicht alleinstehend ist. Denn irgendwo in einer fernen Herbstwaldröte ist der namenlose Mann, und wenn beide wieder zusammenkommen sollten, dann wird es kein Paar mehr sein wie vor der Trennung. "Chor der Erinnyen" hat nicht nur die Figur der Mathilda belebt, sondern auch die des Gilbert aus "Die Kieferninseln" verwandelt. Was für ein Kunststück, und womöglich folgt ja auf diese beiden virtuosen Seitenstücke irgendwann noch eine Mitteltafel. ANDREAS PLATTHAUS
Marion Poschmann:
"Chor der Erinnyen".
Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023. 191 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das neuntausend Kilometer ferne Gegenstück: Marion Poschmanns neuer Roman "Chor der Erinnyen" ist eine große Gesellschaftsallegorie
Mathilda? Doch, die kennen wir, aber was wir bisher über sie wussten, entstammte der Vorstellung ihres Mannes, Gilbert Silvester. Nicht dass er es dabei an objektiven Fakten hätte fehlen lassen: "Sie unterrichtete Musik und Mathematik an einem Gymnasium und bildete Lehrkräfte aus. Sie galt als Koryphäe der Fachdidaktik, als Kommunikationsgenie und Wunderwaffe, sie wurde, gemessen an seinem eigenen Gehalt, sehr gut bezahlt und war äußerst gefragt." Doch da hören wir auch schon jenen Basso continuo des ehelichen Missmutes heraus, der Herrn Silvester zu dem Kurzentschluss getrieben hat, sich ohne jede Ankündigung nach Japan abzusetzen. Solle Mathilda doch sehen, wie sie mit ihrer Beliebtheit allein zurechtkommt: "Nach allem, was passiert war, lag es klar bei ihr, den ersten Schritt zu tun", sagt sich der in neuntausend Kilometer Entfernung Entschwundene. So die Ausgangslage im vor sechs Jahren erschienenen Roman "Die Kieferninseln" von Marion Poschmann. Mathilda selbst sprach darin kein Wort, und den ersten Schritt wollte am Schluss dann doch Gilbert Silvester selbst tun: "Er würde sie anrufen, sagte er sich. Mathilda, Liebste, würde er sagen. Wir treffen uns in Tokyo, nahm er sich vor zu sagen, es ist alles ganz einfach, komm zu mir nach Japan. Die Laubfärbung beginnt."
Nun lernen wir Mathilda richtig kennen: in Poschmanns neuem Roman, "Chor der Erinnyen". Dessen Titel könnte eine Rachephantasie der verlassenen Gattin vermuten lassen, zumal sich in diesem Buch fast ausnahmslos Frauen tummeln. Doch weit gefehlt. Zwar ist Mathilda ratlos über das plötzliche Verschwinden von Gilbert (der namentlich nie erwähnt wird; man muss schon das Vorgängerbuch kennen, um zu wissen, warum und wohin er sich abgesetzt hat), doch ziemlich am Schluss von "Chor der Erinnyen" findet sich eine Passage zur durch die Herbstwinde stapfenden Mathilda - die Erzählhaltung ist dieselbe auktorial-subjektive wie in "Die Kieferninseln" - bei einer Vision: "Sie sah ihren abwesenden Mann, wie sie mit ihm Hand in Hand den herzroten Wald durchwanderte, ein tiefes, schwingendes Rot wie auf einem abstrakten Gemälde, ein Vorhang aus Blattelementen, hinter dem ein zweiter kam und ein nächster und immer so weiter [. . .] Ihr wiedererinnerter, wiedergefundener Gatte, verloren und wiedergefunden, wie sie ihn an der Hand nahm und durch diesen tiefroten Wald führte, durch diese seltsam bekannte Landschaft." Und wer den Vorgängerroman kennt, der weiß, dass hier nicht vom deutschen, sondern vom japanischen Wald die Rede ist und also alles bereitet ist für eine Aussöhnung. Wobei der Anruf, der Mathilda dann beim Spaziergang erreicht, (noch) nicht aus Japan kommt, sondern von ihrer Mutter.
Die ist eine von drei Frauen rund um Mathilda, die in der knapp einwöchigen Frist, von der dieser Roman erzählt, zu Korrektiven werden: Gegenmodellen, aber auch Vorbildern für die Verlassene. Die Mutter, ehedem depressionskrank, hat, von der Tochter bislang unbemerkt, zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Und die Freundinnen Olivia und Birte - Erstere die engste Vertraute und Expertin für Sepulkralkultur, Zweitere nach der Schulzeit für Jahrzehnte verschüttgegangen und nunmehr Caféhausbetreiberin in Nordfriesland - stehen Mathilda unfreiwillig (und in Birtes Fall auch durchaus unerwünscht) ebenfalls bei im Bemühen, sich selbst und damit uns Auskunft zu geben über ein durch den Abgang des Mannes in Zweifel gezogenes Leben, in dem bisher alles mathematisch klar und musikalisch harmonisch erschien. Poschmanns neuer Roman ist eine große Allegorie aufs Frauendasein in unserer Gesellschaft, doch dabei federleicht geschrieben. Und wie eine Feder lässt sie das Ganze auch immer wieder aufwirbeln durch Naturphänomene, deren Mathilda nunmehr immer neu gewahr wird: Sturm vor allem, aber auch Feuer und Vögel.
Marion Poschmann ist Lyrikerin, und das zeigt sich nicht nur darin, dass es insgesamt neun "Chöre" (wie sie selbst diese Gedichte nennt) im neuen Roman gibt, sondern auch an der Sorgfalt, mit der motivische Konstanten ins Textgewebe eingearbeitet sind: neben den genannten auch noch Harpyien, Füße, Herzen - und nicht zuletzt Kreide als Sinnbild der Lehrertätigkeit, aber auch um gängige Assoziationen wie "Kreide fressen" oder Kreidekreischen auf der Tafel zu wecken. Sprachlich ist "Chor der Erinnyen" ein Fest, eine leider nur knapp zweihundert Seiten währende Erholung von all der banal alltagssprachlichen Prosa, die weite Teile der deutschen Gegenwartsliteratur ausmacht: "Sie sah sich selbst mit Engelsgeduld wieder und wieder um den allzu bekannten Teich schreiten, die Frage war doch, wie und warum sie das alles so lange ausgehalten hatte, ob es nicht schon länger an der Zeit gewesen wäre, der Wahrheit ins Auge zu sehen, die Frage war doch, hätte sie nicht selbst längst die Flucht ergreifen müssen, sich einfach vom Boden lösen und in die Luft verschwinden, aber nun war nicht einmal dieser Wendepunkt in ihrem Leben, dieser doch wohl so zu nennende Einschnitt ihre eigene Entscheidung gewesen."
Doch im Jahr der Handlung, zweimal wird das bemerkt, tragen die wüsten Winde Frauennamen, und einmal charakterisiert sich Mathilda selbst als Sturmtief. Immer mehr findet sie zu sich selbst, und immer mehr finden die anderen Frauen um sie zueinander, sodass Mathilda am Schluss allein steht, aber nicht alleinstehend ist. Denn irgendwo in einer fernen Herbstwaldröte ist der namenlose Mann, und wenn beide wieder zusammenkommen sollten, dann wird es kein Paar mehr sein wie vor der Trennung. "Chor der Erinnyen" hat nicht nur die Figur der Mathilda belebt, sondern auch die des Gilbert aus "Die Kieferninseln" verwandelt. Was für ein Kunststück, und womöglich folgt ja auf diese beiden virtuosen Seitenstücke irgendwann noch eine Mitteltafel. ANDREAS PLATTHAUS
Marion Poschmann:
"Chor der Erinnyen".
Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023. 191 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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