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Wie gelingt es, ihm nicht zu verfallen? Der Theologe Rainer Bucher legt sich den Kapitalismus zurecht
In dieser Welt können Christen nicht ganz zu Hause sein. Das tritt vor allem zutage, wenn gesellschaftlich dominante Institutionen den Einzelnen nahelegen, Rücksicht auf ihre Mitmenschen hintanzustellen. Für viele religiöse Menschen zementieren Institutionen des globalen Kapitalismus Strukturen des Egoismus, deren Sogwirkung man sich eigentlich entziehen müsste, es aber nur mit Mühe und in Grenzen kann - so auch für den Grazer Pastoraltheologen Rainer Bucher, der unter den aktuell lehrenden Praktischen Theologen wohl der einflussreichste katholische Impulsgeber ist.
"Wie heute im Kapitalismus leben, ohne ihm zu verfallen?" lautet die Frage, der Bucher in seinem neuen Buch nachgeht. Dabei rückt er nicht die kapitalistische Wirtschaftsweise sowie die Ungerechtigkeiten und den Naturverschleiß, die mit ihr verbunden sind, in den Mittelpunkt. Vielmehr konzentriert er sich auf die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus, die er in der Omnipräsenz von Denk- und Handlungsmustern der individuellen Vorteilssuche sieht. In der Gegenwart zeige sich dies vor allem im Subjektivierungsprogramm des "unternehmerischen Selbst" (Ulrich Bröckling), also in Lebensentwürfen einer permanenten, auf künftige Markterfolge ausgerichteten Selbstoptimierung.
Die gegenwärtige Situation des Christentums beschreibt Bucher eindrücklich als Leben in den Ruinen der eigenen Vergangenheit. Durch den säkularen Verfassungsstaat eines Großteils ihrer äußeren Macht entledigt, hatten sich die Kirchen auf ihre "Pastoralmacht" (Michel Foucault) über die Seelen der Menschen konzentriert. So konnten "Hirten" noch einige Zeitlang ihre "Schäfchen" anleiten, das sündige Ich zu überwinden und die christliche Wahrheit über Erlösung und Heiligung des Menschen zu verwirklichen. Aber auch diese individualisierende Macht der Kirchen über das Subjektive ist längst erodiert. Die vernunft- und freiheitsbestimmte Moderne hat den Wahrheitsanspruch der Kirchen an die stets revidierbare Zustimmung der Einzelnen gebunden, der Kapitalismus die "unternehmerische" an die Stelle der frommen und moralischen Selbstoptimierung gesetzt. Letzterer lenke die Wünsche und Ziele der Menschen auf materiellen Erfolg und exquisite Konsummöglichkeiten und verbreite die Illusion, dass damit "das Leben schon gelebt wäre".
Mit der heutigen Vielfalt der Optionen, auch der Angebote intensiven und dichten Lebens sowie der möglichen Unterbrechungen des Alltags hat Religion massiv an Relevanz für die Individuen eingebüßt. Sie dient zwar gelegentlich noch dem einen oder der anderen als Quelle der Orientierung und Lebensbewältigung. Statt die Menschen als Personen mit den verschiedenen Facetten ihres Lebens zu integrieren, gelingt es den Kirchen aber nur noch, ihnen situative Möglichkeiten erlebnisorientierter Partizipation anzubieten.
Für Bucher steht der Sieg des Kapitalismus auf absehbare Zeit nicht in Frage. Das dominante Subjektivierungsprogramm ist das des "unternehmerischen Selbst", die soziale Ordnung ist weithin geprägt von der "gewinnorientierten Verwaltung der Welt". Dabei zielt "Verwaltung" im Anschluss an Jean-Luc Nancy auch auf die Überraschungsfreiheit routinierter Bearbeitungsvorgänge, die kein Außen, keine Relativierung des Gegebenen mehr zulässt. Die hegemoniale Kultur des Kapitalismus bietet in allem und für jeden die naheliegenden Sichtweisen und Orientierungen, schließt aber abweichende Perspektiven nicht völlig aus. Auch die Religion, die Kirchen oder einzelne Gläubige konnten und können sich gegen die kapitalistische Kultur nicht immunisieren.
Es ist kennzeichnend für Ruinen, dass der ursprüngliche Zusammenhang, der dem Ganzen und seinen Teilen Sinn gab, verlorengegangen und dass das zuvor ausgesperrte Außen nun überall präsent ist. So stehen Christen heute Tag für Tag vor der Aufgabe, kapitalistischen Lebenszielen, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern wenigstens partiell zu entkommen. Dem Kapitalismus nicht zu verfallen, das ist für Bucher vor allem möglich durch kreative Praktiken wie Tanz und Spiel und durch überraschende Ereignisse, in denen Glauben als prekäre Balance zwischen Persönlichem und Politischem, zwischen freier Mitwirkung und Gottes Gnade situativ gelingen soll.
Gnadenhafte Ereignisse aber lassen sich nicht planen. Sofern die Kirchen bei Bucher als Institutionen überhaupt in den Blick kommen, sieht er ihre Aufgabe lediglich darin, "Anders-Orte" gegenüber der kapitalistischen Verwertungskultur zur Verfügung zu stellen, etwa Klöster, Kirchenräume, oder auch Gottesdienste, in denen sich dann für die Einzelnen etwas "ereignen" kann.
Buchers eingängig geschriebenes Buch ist eine anregende Lektüre. Dem Autor gelingt es immer wieder, mit wenigen Strichen Skizzen wesentlicher Zusammenhänge zu zeichnen. Allerdings ist zu fragen, ob das Motiv der individuellen Vorteilssuche, mit dem Bucher die hegemoniale Kultur des Kapitalismus zu identifizieren sucht, nicht viel zu allgemein ist, da es letztlich jede Form von Eigeninteresse oder Egoismus als kapitalistisch identifiziert. Zugleich dürfte das Subjektivierungsprogramm des "unternehmerischen Selbst" doch wohl nur für eine von mehreren kapitalistischen Orientierungen stehen.
Damit wird aber das in dem Buch zentrale Motiv der kapitalistischen Kultur nicht präzise bestimmt. Deshalb bleibt undeutlich, worin genau die beiden deutschen Großkirchen beziehungsweise ihre jeweiligen theologisch-pastoralen Mehrheitspositionen kapitalistisch affiziert sind. Problematisch dürften zudem die Abwertung von "Verwaltung" und die einseitige Hervorhebung des Ereignishaften gelingenden Glaubens sein. Vermutlich leidet die Pastoral in der deutschen katholischen Kirche eher an zu wenig als an zu viel Planung, Evaluation, Reflexion und Qualitätssteuerung.
BERNHARD EMUNDS
Rainer Bucher:
"Christentum im
Kapitalismus". Wider
die gewinnorientierte
Verwaltung der Welt.
Echter Verlag, Würzburg 2019. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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