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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Auf der Suche nach der inneren Wahrheit: Jan Philipp Reemtsma zieht in seiner klugen und persönlichen Biographie des Dichters Christoph Martin Wieland die Summe einer Jahrzehnte langen Beschäftigung.
Von Tilman Spreckelsen
Menander liebt Glycerion, und Glycerion liebt Menander. Damit könnte es sein Bewenden haben, nichts ist schöner und nichts zugleich literarisch unergiebiger als eine solche Konstellation. Doch Menander, der berühmte, gerade eben noch junge Komödiendichter, weiß nicht recht, was er will. Bevor er Glycerion, die Blumenkranzverkäuferin, traf, sehnte er sich nach einem Mädchen, wie sie in seinen Augen ist: "eine kunstlose, offene, im Bewusstsein ihrer Unschuld freie und fröhliche Seele". Nun, da er mit der Sechzehnjährigen zusammengekommen ist, macht ihn das nach einiger Zeit unruhig. Er enttäuscht Glycerions Erwartungen im Bewusstsein, nach jeder Eskapade wieder zu ihr zurückkehren zu können. Am Ende ist der Dichter allein, Glycerion aber, die nun Anfang zwanzig ist, schreibt gelassen an ihre Freundin, wie erstaunt sie die Erinnerung an die Zeit mit Menander mache, und seziert, was in ihr vorging, als sie sich verliebt glaubte. Sie erzählt davon, wie sie noch vor der ersten Begegnung mit Menander bereits mit dessen Texten vertraut war, wie es kam, dass sie sich von ihm angezogen fühlte und wie sie das erste Anzeichen übersehen konnte, dass nicht nur Menanders Gefühle, sondern vor allem ihre eigenen für eine dauerhafte Beziehung nicht ausreichen würden: "Man kann diese Gefühle und Gesinnungen Liebe nennen", schreibt Glycerion, "wie vielerlei Liebe gibt es nicht? Aber dass es nicht die Liebe war, der dieser Name in der eigentlichsten Bedeutung zukommt, hätte ich, wenn man einen Begriff von ihr haben könnte, bevor man sie wirklich erfährt, schon aus der Gleichgültigkeit erkennen müssen, worin mich seine erste Untreue liess."
Christoph Martin Wielands kurzer Briefroman "Menander und Glycerion", angesiedelt im vierten vorchristlichen Jahrhundert, erschien 1803, sein Autor war damals siebzig Jahre alt und seit zwei Jahren Witwer. Seinen Traum vom Leben auf dem heute noch (oder: wieder) hinreißend schönen Gut Oßmannstedt hatte er in derselben Zeit begraben müssen; für die letzten zehn Jahre seines Lebens zog er zurück nach Weimar. Den Liebesroman färben diese Umstände, so scheint es, nicht ein, weder ist die Leidenschaft des Anfangs dadurch herabgestimmt noch die Abgeklärtheit des Endes forciert. Es geht dem Autor, so heißt es in der Vorrede, um eine "innere Wahrheit, um Verbindung aller Theile zu Einem harmonischen Ganzen, um Übereinstimmung der Personen mit sich selbst und dem Geist ihrer Zeit", dagegen sei es ihm weniger "um strenge historische Wahrheit zu thun".
Natürlich war auch diese dem Autor nicht egal, um das Mindeste zu sagen, natürlich überlegte er sich genau, in welchem historischen Rahmen er seine Geschichten mit ihrer jeweiligen "inneren Wahrheit" ansiedelte. "Die Zeiten spiegeln sich ineinander, und Wieland legt Wert darauf, dass es zwanglos geschieht", schreibt der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma mit Blick auf den 1766 erschienenen Roman "Geschichte des Agathon". Und warnt davor, etwa Wielands satirische "Abderiten" als schieres Porträt der Verhältnisse in Biberach zu lesen, der Heimatstadt des Autors. Warum auch sollte er dafür die Antike bemühen?
Wieland gilt gemeinhin als einstmals hochgeschätzter, heute weitgehend vergessener Autor, und das nun schon so lange, dass man sich fragt, wie es um eine Vergessenheit bestellt sein mag, an die von so vielen permanent und derart hartnäckig erinnert wird. Wer wäre jedenfalls berufener als Reemtsma, nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Wieland nun dessen Biographie vorzulegen? Wir verdanken ihm bereits eine Vielzahl von erhellenden Studien zu einzelnen Texten oder Werkgruppen, darunter eine Dissertation zu "Aristipp und einige seiner Zeitgenossen", außerdem die Förderung von Editionen, die Wielands Werke überhaupt erst wieder zugänglich gemacht haben, von seinem Wirken in Oßmannstedt zu schweigen, wo erst kürzlich die Dauerausstellung zum einstigen Bewohner gründlich überarbeitet worden ist (F.A.Z. vom 6. September 2022).
Das allein entscheidet nicht über das Glücken oder Scheitern einer solchen Biographie. Aber es ist kein schlechtes Fundament für ein siebenhundert Seiten starkes Buch, dem man gleichwohl in jedem Kapitel ansieht, dass sein Autor sich kurz fasst gemessen daran, was er wohl erzählen könnte. Reemtsma, der im vergangenen November seinen siebzigsten Geburtstag feierte, zeichnet ein detailliertes Bild von Leben und Werk Wielands, von Weggefährten und Widersachern des Autors und von denen, für die beides zutrifft. Er geht, wo es nötig ist, ins Detail, vor allem was das Werk angeht, und verliert dabei die großen Linien nicht aus dem Auge, was keine geringe Leistung ist. Dazu trägt die kluge Komposition des Bandes bei, die Lebensstationen - Biberach, Zürich, Bern, nochmals Biberach, Erfurt, Weimar, Oßmannstedt, ein letztes Mal Weimar - und die entstehenden Werke voneinander getrennt diskutiert, was erstaunlich gut gelingt.
Reemtsma widmet sich den Übersetzungen, Verserzählungen, Briefromanen, den Libretti und nicht zuletzt den literaturkritischen Arbeiten mit vorbehaltloser Ernsthaftigkeit, mit Hochachtung, wo Wieland der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert neue Wege bahnt, was häufig der Fall ist, aber auch mit begründeten ästhetischen Urteilen - manches, was seinen berechtigten Platz in der Literaturgeschichte beanspruchen mag, empfiehlt der Biograph nicht unbedingt zur eigenen Lektüre. Für andere Texte dagegen wirbt er klug und engagiert, und so interessiert, mitunter gebannt man diese Biographie liest, ist doch die Versuchung groß, sie zur Seite zu legen, um in der einst von Reemtsmas Stiftung finanzierten Reprint-Ausgabe der Werke Wielands eine der - oft in ausgiebigen Zitaten - vorgestellten Preziosen anzusehen, um etwa dem Befund Reemtsmas zur Vokalharmonie nachzugehen.
Insgesamt hat der Biograph keine Scheu vor entschiedenen und dabei nicht notwendig begründeten ästhetischen Urteilen. So gibt er im Vorübergehen Tolkiens Werken einen mit ("mediokres Zeug", der "Hobbit", immerhin, sei ein "achtenswertes Kinderbuch") oder nennt Wolframs "Parzival" in einem Atemzug mit Fouqué.
Für die auffallenden Züge in Wielands Persönlichkeit ist Reemtsma keineswegs blind, er findet deutliche Worte dafür, etwa wenn es um seine "Selbstgerechtigkeit" geht oder um eine Brautwerbung, die einem bestimmten Mädchen gilt - falls sie nicht will, so schreibt Wieland vorsorglich an ihren Vater, den Biberacher Bürgermeister, würde er auch die jüngere Schwester der Umworbenen nehmen.
Aber Reemtsmas erster Zugang zur Person Wielands ist immer von Verständnis geprägt. "Seine Art, oft auf sich selbst zu sprechen zu kommen, befremdete, man nannte es Eitelkeit und sagte ihm nach, das Gelobtwerden nicht satt zu bekommen. Das mag sein, aber was soll's. Da soll einer Vortreffliches schreiben, funkeln und ergötzen, aber sonst fein stille sein, und ob man ihn auf Grund seiner Leistung bewundert oder nicht, soll ihm ganz gleichgültig sein?"
Vor allem aber bringt der Biograph das Kunststück fertig, seinen Gegenstand weder gewaltsam zu aktualisieren noch ihn so sehr in seine historische Zeit zu betten, dass er darin verschwindet. Wieland wird von Reemtsma keineswegs strikt nach Arno Schmidts berühmter Forderung "als immerfort mitlebend" behandelt (höchstens insofern, als er ihm mit dem Respekt begegnet, den man auch einem lebenden Gegenüber zollen sollte), zumal die Frage, inwiefern Wieland tatsächlich "in Liebe und Hass" geschrieben hätte, wie es das Schmidt-Zitat voraussetzt, eine komplizierte Erörterung zur Folge hätte - was heißt das hier, wie würde Wieland selbst Liebe und Hass definieren?
Der Hass wenigstens scheint ihm fremd gewesen zu sein, wenn es um einzelne Personen geht; Wieland ließ sich, wie sein Biograph mehrfach schildert, auch durch persönliche Angriffe nicht in Feindschaften hineinziehen, sondern beharrte stattdessen auf seinem Recht, die Texte derer noch immer zu schätzen, die ihn mit Schmähungen überzogen hatten. Das Verhältnis zu den drei anderen Weimarer Klassikern Goethe, Schiller und Herder scheint wechselvoll und mitunter anstrengend gewesen zu sein, auf Wielands Seite aber lässt sich eine oft genug erstaunliche Langmut konstatieren.
Anders sieht es mit Gemeinwesen aus, in denen er leben musste und aus denen er sich befreien wollte. Zum Beispiel Biberach, wo er herkam, dem er entfloh und wohin er 1760 zurückkehrte, um eine Stelle als Kanzleiverwalter anzutreten - die Stadt ist ein "elendes Todtenaß eines an der Sonne modernden stinckenden Reichsstädtchens", wo Wieland unter "travestierten Hottentotten" lebt, "die mir noch Ehre anzuthun glauben, wenn sie mich für ihresgleichen halten". Einen Ausweg sieht er nicht, "das Übel ist unheilbar".
Und nun die Liebe? Reemtsma, der seinem Gegenstand bescheinigt, zwar einmal jung an Jahren, nie aber eigentlich "jugendlich" gewesen zu sein, analysiert die Posen, die er im Liebesdiskurs mit realen Frauen einnahm, darunter auch solche, die er erst lange nach den ersten feurigen Liebesbriefen kennenlernte oder, wie die Fürstin Elisabeth Solms-Laubach gegen Ende seines Lebens, auch überhaupt nicht: "Diese Distanz-Liebe", schreibt Reemtsma, "ist kurios und doch wieder nicht. Er konnte derlei ja, hatte sich auch als ganz junger Mann in eine Liebe zu Sophie La Roche hineingesteigert, ohne sie je gesehen zu haben. Manchmal scheint er nur die Rolle eines verliebten alten Mannes zu spielen, um zu amüsieren, manchmal denkt man, er meine es ganz ernst."
Zugleich stammen von Wieland die tiefsinnigsten und poetischsten Erörterungen zum Entstehen und Vergehen der Liebe, die nicht nur sein tändelndes Jahrhundert aufzuweisen hat. Sein Biograph versteckt in einer Fußnote, wie sehr uns solche Sätze bewegen können. So zitiert er aus dem Versepos "Musarion" die Zeile "Oft fragt der Liebesgott uns nur nicht, ob wir wollen?" und berichtet im Kleingedruckten, der Vorbesitzer seines "Musarion"-Exemplars hätte das "Oft" und das "nur nicht" durchgestrichen und "Nie" darüber geschrieben: Die Zeile "traf auf ein empfängliches Herz zu rechter Stunde, wie es scheint, und das empfängliche Herz wollte sich über die Zeiten mitteilen. Der Verfasser, der 'Musarion' zu ähnlicher Stunde las, winkt über die Zeiten zurück."
So gesehen muss man um die künftige Wieland-Rezeption nicht bange sein.
Jan Philipp Reemtsma: "Christoph Martin Wieland". Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. Eine Biographie.
Verlag C. H. Beck, München 2023. 704 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Laudatio von Moritz Baßler auf "Christoph Martin Wieland" im Rahmen der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2023
"Erfinder der Weimarer Klassik ist Christoph Martin Wieland ... Jan Philipp Reemtsma hat nun die erste große Biografie seit 70 Jahren vorgelegt."
Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandfunk im März 2023
"Wer wäre berufener als Reemtsma, nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit Wieland nun dessen Biographie vorzulegen? ... Er zeichnet ein detailliertes Bild von Leben und Werk, geht, wo es nötig ist, ins Detail, vor allem was das Werk angeht, und verliert dabei die großen Linien nicht aus dem Auge."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tilman Spreckelsen
"Eine Sprache, selten reich, präzise und lebendig: Jan Philipp Reemtsmas großes Buch über Christoph Martin Wieland."
Süddeutsche Zeitung, Thomas Steinfeld
"Größten Wert legt Reemtsma darauf zu zeigen, welch ungeheure sprachliche und literarische Erneuerungskraft Wieland besaß."
Welt am Sonntag, Thomas Schmid
"Grosse Wieland-Biografie, die man mit Vergnügen und Gewinn liest, weil sie über das Leben des Dichters hinaus das Panorama einer Epoche entfaltet."
Neue Zürcher Zeitung, Roman Bucheli
"Christoph Martin Wieland: Man wird seinen Namen ab sofort wieder neben Goethe, Herder und Schiller nennen. Das ist Jan Philipp Reemtsma gelungen."
ZEIT Magazin Newsletter, Christoph Amend
"Wie nebenbei zeigt Reemtsma auf, was im deutschen Sprachgebrauch von Wieland herrührt. Vieles davon ahnt man nicht einmal im Ansatz."
taz, Helmut Böttiger
"Sein Buch ist eine wunderbare Einladung, einen vergessenen Autor neu zu entdecken."
dpa, Johannes von der Gathen
"Es ist Zeit, Wieland als wichtigen Part der deutschen Literaturgeschichte wieder zu entdecken. Dank Reemtsmas gewaltiger Biografie ist der Weg dorthin geebnet."
Dresdner Neueste Nachrichten
"Mit seiner Biographie erinnert Jan Philipp Reemtsma daran, dass Wielands Werk nach wie vor ein besonderes ist."
SWR2 Lesenswert, Judith Reinbold
"Diese große Lebensgeschichte, so leicht und elegant erzählt, ist etwas. Ein Buch, das uns in den Zustand versetzen kann, Wielands Literatur neu entdecken zu wollen. Und die Geschichte seines Lebens ebenso."
Bayerischer Rundfunk, Niels Beintker
"Groß ist nicht nur der Umfang dieses Buches, gewaltig nicht nur der Inhalt, den es abzudecken gilt. Imposant ist vor allem die dramaturgische und stilistische Meisterschaft Reemtsmas, seine Fähigkeit, profundes Wissen auf geradezu hinreißende, kluge, manchmal ironische, manchmal schön parteiische Weise zu verdichten."
MDR Kultur, Ulrich Rüdenauer
"Wieland hat die moderne deutsche Literatur erfunden. ... [Dies] wiederentdeckt, präzis und klug beschrieben zu haben, ist Reemtsmas großes Verdienst."
Der Tagesspiegel, Eberhard Geisler
"Jan Philipp Reemtsma zeigt, wie im Namen des Dichters Leidenschaft und Gelehrsamkeit zusammenfinden."
Stuttgarter Zeitung, Stefan Kister
"Eine Biografie, die zum Klassiker werden dürfte."
FOCUS
"Eine monumentale Biografie ... Das Resultat einer lebenslangen Auseinandersetzung."
Berliner Morgenpost, Tobias Schwartz
"Monumental"
Der Standard, Ronald Pohl
"Ein Buch wie ein Weckruf."
Wiener Zeitung, Oliver vom Hove
"In dieser Biographie von Jan Philipp Reemtsma über Wieland ist zu entdecken: die Begegnung mit einem Jahrhundertgenie."
SWR Lesenswert, Denis Scheck
"Christoph Martin Wieland hat die Weimarer Klassik quasi erfunden, wurde jedoch nie zu einem ihrer echten Helden. Wie gut, dass der Autor und Wissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, der sich beinahe sein Leben lang schon mit Wieland beschäftigt hat, jetzt seine wunderbare 700-Seiten-Biografie über ihn vorgelegt hat."
Spiegel online, Susanne Beyer