Ungewöhnlich, fesselnd und stark: Die Verwandlung einer Frau
"Es war, als versuchte sie im wörtlichen Sinn über sich hinauszuwachsen.“
Eine junge Frau will sich verwandeln, ihr Ziel sind innere und äußere Stärke sowie absolute Unabhängigkeit. Grund hierfür ist eine traumatische Erfahrung mit
ihrem Exfreund.
"Sie wiederholte mehrfach, er sei nie gewalttätig geworden, womit sie meinte,…mehrUngewöhnlich, fesselnd und stark: Die Verwandlung einer Frau
"Es war, als versuchte sie im wörtlichen Sinn über sich hinauszuwachsen.“
Eine junge Frau will sich verwandeln, ihr Ziel sind innere und äußere Stärke sowie absolute Unabhängigkeit. Grund hierfür ist eine traumatische Erfahrung mit ihrem Exfreund.
"Sie wiederholte mehrfach, er sei nie gewalttätig geworden, womit sie meinte, dass er sie nicht geschlagen, geschubst oder getreten hatte. Weder hatte er ihr Haare ausgerissen, noch hatte er Dinge zerstört. Er nahm er kein Geld weg und drängte sich ihr sexuell nie auf. Sie hatte viel über häusliche Gewalt gelesen und nicht den Eindruck, dass sie ein besonders schlimmes Beispiel dafür sei. Sie wusste nicht genau, was er tun würde, sollte sie Widerstand leisten, aber sie leistete keinen Widerstand und erfuhr es folglich nie."
Der Aufbau des Buchs ist ungewöhnlich. Man erlebt die Verwandlung der namenlosen Protagonistin aus drei Perspektiven: der eines Fremden (Elliot), der ihrer Mutter Bella und der einer ehemaligen Arbeitskollegin/Freundin (Susie).
Man mag skeptisch sein angesichts der Tatsache, dass man nie weiß, was in der Protagonistin selbst vorgeht, sondern immer nur aus der Perspektive von drei Außenstehenden auf sie blickt - doch unerwarteterweise funktioniert diese Art des Erzählens ganz hervorragend. Es macht das Buch sogar sehr vielschichtig und noch interessanter. Außerdem greift diese Art des Erzählens das inhaltliche Thema, also dieses von außen bewertet und beobachtet werden, bereits stilistisch auf.
Den ersten Teil der Erzählung übernimmt Elliot, ein schüchterner Einizelgänger, der sie zufällig im Fitnessstudio kennenlernt und sofort von ihr fasziniert ist:
"Aber sie war ohnehin nicht gekommen, um in einer fremden Aufführung mitzuwirken, denn sie hatte ihr eigenes Ziel vor Augen. Sie hat mich etwas über Fokus gelehrt: Wenn man seinem Lebensweg folgt und eine Mission hat, rückt alles andere in den Hintergrund. Für mich war das eine wertvolle Lektion, und seit ich sie verinnerlicht habe, fühle ich mich unbeschwerter."
Als nächstes kommt ihre Mutter zu Wort, hier erfährt man viel über die Kindheit der Protagonistin. Zuletzt kommt ihre Arbeitskollegin und Freundin Susie zu Wort.
Die drei Abschnitte greifen teilweise ineinander und zeigen so die Geschichte der Verwandlung aus mehreren Perspektiven. Das fand ich wirklich sehr gelungen, ein großes Lob an die Autorin.
Die Hauptperson mag mit ihrem rigorosen Handeln polarisieren und nicht bei allen Lesser*innen Sympathien hervorrufen. Auch das Vermarkten ihrer Transformation in den sozialen Medien kann (und sollte) man kritisch sehen.
"Einige Leute fühlten sich von ihren Ideen provoziert - sie wollten nicht allein leben. Sie nannten sie ein Symbol für alles, was in der Gesellschaft schieflief - das Konkurrenzdenken, die Priorisierung der eigenen Interessen, das Ausblenden fremder Bedürfnisse. Aber diejenigen, die ihre Videos mochten, schienen fürs Alleinsein einen guten Grund zu haben. Indem sie sich auf ein neues Leben in der Isolation vorbereiteten, bildeten sich selbst eine Art Gemeinschaft. Zusammen überlegten sie, auf wie viel Zivilisation man verzichten konnte und wie viel man behalten musste."
Ich fand ihre Zielstrebigkeit und Stärke jedoch auch faszinierend.
Auch den Titel „Chrysalis“ hat Anna Meltcalfe perfekt gewählt, denn damit ist ein Insekt in der Metamorphose gemeint.
Das Buch lässt viele Fragen offen, bietet so viel Raum zum Nachdenken und für eigene Interpretationen.
Für mich war dieser beeindruckende Debütroman (eine Zufallsentdeckung, über die ich sehr glücklich bin) ein unheimlich starkes Leseerlebnis und in gewisser Weise ein wahres Kunstwerk – unbedingt lesenswert!
"Vielleicht ist sie ein Vorbild, weil sie gelernt hat, sich von der Welt nicht mehr beeinflussen zu lassen."