Italien und die Musik. In keinem anderen Land hat die Musik einen vergleichbaren Stellenwert. Mehr als jede andere Kunst ist sie in der Lage, das Land zu erklären und alle tausendfach gestellten Fragen zu beantworten. Musik ist dauerpräsent. In einem Land, in dem Opernarien gepfiffen werden, überall Denkmäler namhafter Sänger herumstehen und die Einschaltquoten eines fünftägigen Liederwettbewerbs jede Sportübertragung in den Schatten stellen, kommt man an der Musik schlicht nicht vorbei. Entlang von herzergreifenden Canzoni und unwiderstehlichen Ohrwürmern erzählt Eric Pfeil von der Zerrissenheit eines Landes zwischen Dolce Vita und undurchdringlicher Bürokratie, vom Erbe Silvio Berlusconis, von der Mafia und gesellschaftlichem Aufbruch, der Erfolgsgeschichte von Italiens uncoolster Band und immer wieder von der Liebe.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2024Es lebe die Tomatensuppe mit Brot
Jedes Thema taugt zum Sommerhit: Eric Pfeil sucht abermals nach den Perlen der italienischen Popmusik
Auf italienischen Festen, bei Nachmittagen mit Freunden (und in Neapel eigentlich überall und immer) kann es vorkommen, dass plötzlich gesungen wird. Stundenlang, ohne dass jemand den Text nachschauen müsste. Während es in Deutschland wenige Lieder gibt, die generationsübergreifend bekannt sind, scheint in Italien ein nie niedergeschriebenes, jedoch von den meisten geteiltes Liederbuch zu existieren, das sich ständig erweitert und aktualisiert. Italien anhand von Songs zu erklären ist deshalb eine hervorragende Idee.
Der Musikjournalist Eric Pfeil hatte vor zwei Jahren schon "Azzurro" veröffentlicht, einen Reiseführer in hundert Songs. Nun ist der zweite Band "Ciao Amore, ciao" erschienen, die B-Seite sozusagen, und wer dank "Azzurro" alle Hits zu kennen glaubte, der täuscht sich. Denn wenn man wie Pfeil die gesamte Popmusik betrachtet, von der Musica Leggera der Sechzigerjahre über die politischen Liedermacher der Siebziger, den tanzbaren Italo-Disko-Sound der Achtziger bis hin zu Rap und Autotune, dann hat man auch mit zweihundert Songs noch lange nicht alle Highlights abgehandelt.
Das zeigt sich allein daran, dass Pfeil nicht nur auf die im Titel erwähnten hundert Lieder eingeht, sondern auch auf zahllose andere Stücke und besonders sehenswerte Musikvideos verweist. Betrachtet man das ganze Spektrum der italienischen Nachkriegsmusik, so sind Italo-Pop und Italo-Disko in Deutschland zweifellos am bekanntesten, Genre-Begriffe, die Tanzflächen unter warmem Sommerhimmel und spritzige Drinks gefühlt schon im Namen tragen.
Diese Assoziation ist nicht falsch, wird der italienischen Popmusik jedoch nur in Teilen gerecht. Denn hinter so manch eingängiger Melodie verbirgt sich sowohl musikalisch als auch textlich eine ungeahnte Komplexität. Es ist dieser Gegensatz, der Pfeil reizt, das Talent der Italiener, der Schwere des Lebens mit Leichtigkeit zu begegnen, ohne sie dabei zu verharmlosen. Und, andersherum, scheinbare Nichtigkeiten wichtig zu nehmen. So erzählt der auf den ersten Blick launig und etwas albern wirkende Song "Viva la pappa col pomodoro" ("Es lebe die Tomatensuppe mit Brot") von Rita Pavone eigentlich davon, dass eine satte Bevölkerung keine Revolution anzettelt.
Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland anspruchsvolle Popmusik. Nur füllt die selten Hallen. In Italien kann man jedoch, so schreibt Pfeil, "mit Songs über nahezu jedes Thema einen Sommerhit landen". Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass jeder Sommerhit eine intellektuelle Perle wäre. Aber manche sind es eben.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Musik des 2021 verstorbenen Franco Battiato, dessen Album "La voce del padrone" Anfang der Achtzigerjahre die erste italienische Platte war, die sich mehr als eine Million mal verkaufte. Darauf gelingt es ihm, über eine oberflächliche, geldgetriebene Gesellschaft, über die Verfehlungen der Politik zu singen und dabei nicht nur zahlreiche andere Songs, die "Ilias" und Adornos "Minima Moralia" zu zitieren - er präsentiert all das auch noch zu tanzbarer Musik. Pfeil schreibt über den Sänger: "Wie so oft in Italien resultiert auch im Falle Franco Battiatos die Zuneigung seiner Landsleute daraus, dass er sich gerade nicht rangeschmissen hat, volkstümlich oder leicht verständlich war. Battiato fordert die Italiener, und genau das liebten sie an ihm."
Natürlich beschäftigen sich nicht alle italienischen Sänger mit Adorno und der nächsten Revolution; auf zum Teil sehr banale Weise geht es dafür oft um die Liebe. Und zweifelsohne gibt es im Italo-Pop jede Menge Trash. Pfeil gelingt es jedoch, selbst auf diesem Gebiet jene Sommerohrwürmer, die sogenannten tormentoni, zu finden, die hängen bleiben. Dabei hat er keinesfalls den Anspruch, kritische Distanz zu wahren. Pfeil ist Fan und schreibt aus dieser Haltung heraus. Es ist seine Begeisterung, die den Band ausmacht, eine Begeisterung, die auch Absurdes einschließt. So finden sich unter den hundert Stücken nicht nur bekannte Klassiker wie "Caruso" von Lucio Dalla, sondern auch Songs wie "Baciami la vena varicosa" ("Küss meine Krampfader") von Clem Sacco. Man muss nicht alle vorgestellten Lieder mögen, doch man möchte sie nach Pfeils Texten unbedingt hören.
Der einzige Nachteil an diesem unterhaltsamen Buch ist die Anordnung der Kapitel. Pfeil geht nicht chronologisch, sondern alphabetisch vor, was zu einem geordneten Inhaltsverzeichnis, aber stilistischen Sprüngen führt. Anstatt die musikalische Entwicklung mit der dazugehörigen Spotify-Playlist nachvollziehen zu können, wird man beim Hören von den Sechzigern in die unmittelbare Gegenwart und wieder zurück katapultiert.
Das ist schade, zeigt Pfeil doch immer wieder auf, wie sich gesellschaftliche und politische Veränderungen in der Musik widerspiegeln, dass die "anni di piombo", die bleiernen Jahre der späten Sechziger bis frühen Achtziger, ebenso ihre musikalischen Spuren hinterlassen haben wie die Ära Berlusconis. Zusammenhänge, die man in einer chronologischen Erzählung besser hätte nachvollziehen können. So ist der Band eher eine Sammlung von Anekdoten geworden, die man aber natürlich in der Reihenfolge lesen kann, die einem beliebt. Und danach, vielleicht sogar dabei, sollte man hören, wippen, singen, tanzen. ANNA VOLLMER
Eric Pfeil: "Ciao Amore, ciao". Mit 100 neuen und alten Songs durch Italien.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2024. 368 S., br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Jedes Thema taugt zum Sommerhit: Eric Pfeil sucht abermals nach den Perlen der italienischen Popmusik
Auf italienischen Festen, bei Nachmittagen mit Freunden (und in Neapel eigentlich überall und immer) kann es vorkommen, dass plötzlich gesungen wird. Stundenlang, ohne dass jemand den Text nachschauen müsste. Während es in Deutschland wenige Lieder gibt, die generationsübergreifend bekannt sind, scheint in Italien ein nie niedergeschriebenes, jedoch von den meisten geteiltes Liederbuch zu existieren, das sich ständig erweitert und aktualisiert. Italien anhand von Songs zu erklären ist deshalb eine hervorragende Idee.
Der Musikjournalist Eric Pfeil hatte vor zwei Jahren schon "Azzurro" veröffentlicht, einen Reiseführer in hundert Songs. Nun ist der zweite Band "Ciao Amore, ciao" erschienen, die B-Seite sozusagen, und wer dank "Azzurro" alle Hits zu kennen glaubte, der täuscht sich. Denn wenn man wie Pfeil die gesamte Popmusik betrachtet, von der Musica Leggera der Sechzigerjahre über die politischen Liedermacher der Siebziger, den tanzbaren Italo-Disko-Sound der Achtziger bis hin zu Rap und Autotune, dann hat man auch mit zweihundert Songs noch lange nicht alle Highlights abgehandelt.
Das zeigt sich allein daran, dass Pfeil nicht nur auf die im Titel erwähnten hundert Lieder eingeht, sondern auch auf zahllose andere Stücke und besonders sehenswerte Musikvideos verweist. Betrachtet man das ganze Spektrum der italienischen Nachkriegsmusik, so sind Italo-Pop und Italo-Disko in Deutschland zweifellos am bekanntesten, Genre-Begriffe, die Tanzflächen unter warmem Sommerhimmel und spritzige Drinks gefühlt schon im Namen tragen.
Diese Assoziation ist nicht falsch, wird der italienischen Popmusik jedoch nur in Teilen gerecht. Denn hinter so manch eingängiger Melodie verbirgt sich sowohl musikalisch als auch textlich eine ungeahnte Komplexität. Es ist dieser Gegensatz, der Pfeil reizt, das Talent der Italiener, der Schwere des Lebens mit Leichtigkeit zu begegnen, ohne sie dabei zu verharmlosen. Und, andersherum, scheinbare Nichtigkeiten wichtig zu nehmen. So erzählt der auf den ersten Blick launig und etwas albern wirkende Song "Viva la pappa col pomodoro" ("Es lebe die Tomatensuppe mit Brot") von Rita Pavone eigentlich davon, dass eine satte Bevölkerung keine Revolution anzettelt.
Selbstverständlich gibt es auch in Deutschland anspruchsvolle Popmusik. Nur füllt die selten Hallen. In Italien kann man jedoch, so schreibt Pfeil, "mit Songs über nahezu jedes Thema einen Sommerhit landen". Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass jeder Sommerhit eine intellektuelle Perle wäre. Aber manche sind es eben.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Musik des 2021 verstorbenen Franco Battiato, dessen Album "La voce del padrone" Anfang der Achtzigerjahre die erste italienische Platte war, die sich mehr als eine Million mal verkaufte. Darauf gelingt es ihm, über eine oberflächliche, geldgetriebene Gesellschaft, über die Verfehlungen der Politik zu singen und dabei nicht nur zahlreiche andere Songs, die "Ilias" und Adornos "Minima Moralia" zu zitieren - er präsentiert all das auch noch zu tanzbarer Musik. Pfeil schreibt über den Sänger: "Wie so oft in Italien resultiert auch im Falle Franco Battiatos die Zuneigung seiner Landsleute daraus, dass er sich gerade nicht rangeschmissen hat, volkstümlich oder leicht verständlich war. Battiato fordert die Italiener, und genau das liebten sie an ihm."
Natürlich beschäftigen sich nicht alle italienischen Sänger mit Adorno und der nächsten Revolution; auf zum Teil sehr banale Weise geht es dafür oft um die Liebe. Und zweifelsohne gibt es im Italo-Pop jede Menge Trash. Pfeil gelingt es jedoch, selbst auf diesem Gebiet jene Sommerohrwürmer, die sogenannten tormentoni, zu finden, die hängen bleiben. Dabei hat er keinesfalls den Anspruch, kritische Distanz zu wahren. Pfeil ist Fan und schreibt aus dieser Haltung heraus. Es ist seine Begeisterung, die den Band ausmacht, eine Begeisterung, die auch Absurdes einschließt. So finden sich unter den hundert Stücken nicht nur bekannte Klassiker wie "Caruso" von Lucio Dalla, sondern auch Songs wie "Baciami la vena varicosa" ("Küss meine Krampfader") von Clem Sacco. Man muss nicht alle vorgestellten Lieder mögen, doch man möchte sie nach Pfeils Texten unbedingt hören.
Der einzige Nachteil an diesem unterhaltsamen Buch ist die Anordnung der Kapitel. Pfeil geht nicht chronologisch, sondern alphabetisch vor, was zu einem geordneten Inhaltsverzeichnis, aber stilistischen Sprüngen führt. Anstatt die musikalische Entwicklung mit der dazugehörigen Spotify-Playlist nachvollziehen zu können, wird man beim Hören von den Sechzigern in die unmittelbare Gegenwart und wieder zurück katapultiert.
Das ist schade, zeigt Pfeil doch immer wieder auf, wie sich gesellschaftliche und politische Veränderungen in der Musik widerspiegeln, dass die "anni di piombo", die bleiernen Jahre der späten Sechziger bis frühen Achtziger, ebenso ihre musikalischen Spuren hinterlassen haben wie die Ära Berlusconis. Zusammenhänge, die man in einer chronologischen Erzählung besser hätte nachvollziehen können. So ist der Band eher eine Sammlung von Anekdoten geworden, die man aber natürlich in der Reihenfolge lesen kann, die einem beliebt. Und danach, vielleicht sogar dabei, sollte man hören, wippen, singen, tanzen. ANNA VOLLMER
Eric Pfeil: "Ciao Amore, ciao". Mit 100 neuen und alten Songs durch Italien.
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2024. 368 S., br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Pfeil ist Fan, und er schreibt aus dieser Haltung heraus. Es ist seine Begeisterung, die den Band ausmacht, eine Begeisterung, die auch Absurdes einschließt. (...) Man muss nicht alle vorgestellten Lieder mögen, aber man möchte sie nach Pfeils Texten unbedingt hören.« Anna Vollmer FAZ 20240703