Freie Kunst und freie Liebe
Da ihr Vater das Familienvermögen durchgebracht hatte, blieben Sidonie-Gabrielle Colette nur zwei Möglichkeiten: sie konnte Lehrerin werden oder warten, bis ihre Eltern einen Mann fanden, der sie auch ohne Mitgift nahm. Doch sie suchte sich ihren Ehemann selbst aus:
Henry Gaulthier-Villars, der mit ihrem Bruder zusammen studiert hatte. Er sah zwar nicht besonders gut…mehrFreie Kunst und freie Liebe
Da ihr Vater das Familienvermögen durchgebracht hatte, blieben Sidonie-Gabrielle Colette nur zwei Möglichkeiten: sie konnte Lehrerin werden oder warten, bis ihre Eltern einen Mann fanden, der sie auch ohne Mitgift nahm. Doch sie suchte sich ihren Ehemann selbst aus: Henry Gaulthier-Villars, der mit ihrem Bruder zusammen studiert hatte. Er sah zwar nicht besonders gut aus, beeindruckte sie aber mit seinem schriftstellerischen Schaffen und seiner Weltgewandtheit. Gegen die Warnung ihrer Mutter und Freunde heiratet sie den 14 Jahre älteren, sehr erfahrenen Mann. Schon bald nach der Hochzeit kommen ihr Zweifel an seinen Gefühlen und Intensionen. Er ist fasziniert von ihrem kindlichen Aussehen und der Naivität, die sie umgibt, brüstete sich vor seinen Freunden damit, eine kleine Wilde eingefangen zu haben, da ihre Vorfahren zum Teil Martinique stammen und sie als Naturkind nach den Lehren des Sozialreformers Charles Fourier erzogen wurde.
Aber so kann Henry sie auch nach seinem Willen formen. Er schleift sie durchs Pariser Nachtleben, bestimmt ihre Kleidung, Frisur und Bücher, die sie lesen soll, kritisiert sie vor anderen – natürlich nur, damit sie daraus etwas lernt. Wenn sie sich ihm widersetzten will, macht er sie durch Nichtbeachtung und Drohungen gefügig. „Ich verlange unbedingte Loyalität. Blamiere mich nie wieder, oder du wirst es bereuen.“ (S. 190) Ihr Bild von ihm bekommt schnell Risse. Aber sie liebt ihn und kämpft um seine Zuneigung, fühlt sich geehrt, dass sie seine Arbeit machen und die Texte seiner anderen Lohnschreiber Korrekturlesen darf. Bald schreibt sie ganze Artikel für ihn. Trotzdem ist das Geld immer knapp, Henry lebt zu gern auf großem Fuß. Also sperrt er sie in ihr Arbeitszimmer, damit sie einen fiktiven Roman über ihre Schulzeit schreibt, den er mit erotischen Szenen aufpeppt - „Claudine“ wird ein Riesenerfolg. Natürlich steht nicht ihr Name auf dem Einband, sondern seiner … „Henry war ihr dunkler Spiegel, ein notorischer Lügner, ein Hochstapler, der sich an ihren Fähigkeiten bereicherte.“ (S. 314)
Pia Rosenberger beschreibt in ihrem neuesten Buch Colettes langen und steinigen Weg zur gefeierten Journalistin, Schriftstellerin und Varietékünstlerin. Ich wusste kaum etwas über sie und war schockiert, wie Henry seine Kleinmädchenfantasien an ihr (und später anderen jungen Frauen und Mädchen) auslebte. Er war ein Mann, der niemanden neben sich duldete, schon gar keine Frau. Mit Zuckerbrot und Peitsche hielt er sie gefügig, lobte sie erst für ihre Leistungen, nur um ihr im nächsten Satz zu sagen, dass sie ohne ihn nichts war „Vergiss nicht, dass allein die Tatsache, dass Du eine Frau bist, dir Grenzen setzt.“ (S. 34) Und da er ständig untreu war, „erlaubte“ (besser befahl) er ihr Beziehungen zu anderen Frauen, damit sie ihr Spektrum erweiterte. Ich habe mich beim Lesen manchmal richtiggehend vor ihm und seinen Ansichten geekelt und mich gefragt, wie sie es so lange bei und mit ihm ausgehalten hat.
Colette war zwar noch jung und naiv, als sie ihn kennenlernte, aber sie hatte eine Vision: „Ich will kein Anhängsel sein, sondern etwas Unvergängliches schaffen. Etwas, das für sich steht, frisch und rein und ewig.“ (S. 34) Und so sehr Henry sie auch unterdrückte, letztendlich begann sie wegen ihm mit dem Schreiben und um ihren Namen und ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, als sie begriff, wie gut sie war. Die Leser sollten wissen, dass sie hinter den Claudine-Romanen stand!
Henry und Colette lebten in einer Zeit, da in Paris die freie Kunst und freie Liebe propagiert wurde und probierten vieles aus. Sie hatten einen großen Freundeskreis und standen mit vielen Berühmtheiten auf Du und Du. Dieses mondäne, leicht verruchte Flair bringt Pia Rosenberger sehr gut rüber. Allerdings beleuchtet sie Colettes und Henrys Ehe in meinen Augen etwas zu ausführlich, dafür kamen mir ihr Kampf um ihre Freiheit und Unabhängigkeit und die Art und Weise, wie sie das macht, etwas zu kurz. An der Stelle überwogen die Einblicke in ihr Privat- und Liebesleben, obwohl das natürlich auch eine Rolle gespielt hat.
Mein Fazit: Eine sehr ausführliche und bildhafte Romanbiographie über Colettes erste Ehe und ihre Befreiung daraus.