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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nach fast einem halben Jahrhundert kommt ein zentraler Roman schwarzer Selbstvergewisserung auf Deutsch: "Corregidora" von Gayl Jones
Gayl Jones wurde 1949 in Kentucky geboren. Ihr Debütroman "Corregidora", 1975 in den Vereinigten Staaten erschienen und jetzt endlich auch auf Deutsch, setzt im Jahr 1948 ein und beginnt mit einem Sturz. Die fünfundzwanzigjährige Icherzählerin Ursa, so alt wie ihre Autorin bei der Niederschrift des Romans, kann sich danach zwar nicht erinnern, wie sie gestürzt ist, doch es geschah bei einem Eifersuchtsanfall ihres frisch angetrauten Ehemanns Mutt. Ein paar Seiten später unterhält sich Ursa mit Cat, ihrer besten Freundin, über das Ereignis. Als Cat es als Unfall bezeichnet, lautet Ursas Antwort: "Du klingst, wie wenn er hier sitzt, genau das würd er sagen. Oach, Süße, ich war betrunken. Oach, Süße, das warn Unfall. Das wollt ich ja gar nicht. Hätt ich doch nie getan, weißt du doch." Bei dem Sturz hat Ursa innere Verletzungen erlitten, die die Entfernung ihrer Gebärmutter erforderten. Und mutmaßlich hat sie auch ein Kind verloren, mit dem sie schwanger war. Das deutet der Roman nur an. Aber die Tatsache, dass der handlungsauslösende Sturz und die Geburt der Autorin in enger zeitlicher Nachbarschaft stehen, ist bedeutsam.
Der Roman heißt "Corregidora". Das ist der Familienname von Ursa, deren familiäre Herkunft gewaltgeprägt ist. Der Urgroßvater, dessen Namen sie trägt, war aus Portugal nach Brasilien gegangen und dort als Plantagenbesitzer zu Reichtum gekommen. Unter seinen Sklavinnen befand sich Ursas Urgroßmutter, die von Corregidora erst zur Prostituierten und dann zu seiner eigenen Favoritin gepresst worden war. Auch die gemeinsame Tochter wurde vom Vater vergewaltigt und floh, nun selbst schwanger, in die Vereinigten Staaten. Dort kam Ursas Mutter zur Welt, abermals ein Kind von Corregidora, der seinen Zugriff auf die von ihm begehrten Frauen selbst aus der Ferne nicht lockerte; auch Ursa sieht sich noch mit ihm konfrontiert, wenn auch nur in den Erzählungen ihrer Vorfahren, die, kursiv abgesetzt, wie böse Albträume ihren Bericht vom eigenen Schicksal durchsetzen. Denn jede Frau hat der jeweiligen Tochter und deren Tochter erzählt, was ihr angetan worden ist, damit die Erinnerung an all die erlittenen Grausamkeiten nicht verloren geht. Deshalb ist Fortpflanzung Pflicht für die Corregidora-Frauen. "Generationen machen" lautet ihre immer weitergegebene Erwartung - der Ursa nach dem Sturz aber nicht mehr gerecht werden kann.
Dieses Trauma des Traditionsabbruchs ist jedoch zugleich eine Befreiung aus dem Bann des Dämons Corregidora und des Hasses gegen ihn. Der Roman "Corregidora" ist doppeldeutig in vielerlei Hinsicht: im Titel natürlich schon, denn der Name steht eben nicht nur für Ursa, sondern genauso für den Vergewaltiger und Menschenschinder wie für dessen Zwangsgeliebte. Und jegliche Liebe im Roman ist durchdrungen von Hass. So hat die Mutter von Ursa ihr einmal davon erzählt, dass sie mit ihrem amerikanischen Geliebten zunächst nicht schlafen mochte, bis der sie fragte, was sie sich nie zu fragen getraut habe: "Was daran Hass auf Corregidora war und was Liebe."
An der Anklage, die Gayl Jones mit ihrem Roman erhebt, gibt es indes keinen Zweifel: Ihre Ursa ist eine Symbolfigur durch und durch, nicht nur der phonetischen Verwandtschaft ihres Vornamens mit den USA wegen, sondern auch durch die erzwungene Kinderlosigkeit, die ihr auferlegt, eine andere Form der Gewaltbewältigung zu finden. Die selbst nicht der Gewalt komplett entsagen kann. Dass es zum Finale nach jahrelanger Trennung ausgerechnet wieder Mutt ist, von dem sie sich nach dem "Unfall" hatte scheiden lassen, mit dem Ursa zusammenkommt, ist ein unheimlich anmutendes Handlungsmoment, aber eines, das konsequent zu Ende gedacht ist: Hass ist von Liebe nicht zu trennen, wenn man solche Erfahrungen gemacht hat wie die vier Corregidora-Frauen. In einem Liebesakt, der von Jones wie ein Wechselgesang inszeniert ist, wiederholt Ursa auf die mehrfache Bemerkung Mutts, er wolle keine Frau, die einem wehtut, immer nur: "Dann willst du mich nicht." Aber natürlich will er sie. Und sie will ihn auch.
Es ist die Sprache des Blues, derer sich Jones immer wieder bedient: explizit wie im Schema des call & reponse bei diesem Schlussdialog und auch schon diverser Erzählpassagen zuvor und implizit durch die Profession von Ursa: Sie ist Sängerin. Und die Liebe zur Musik, die Bewunderung für Della Reese, Ella Fitzgerald und vor allem Billie Holiday, führt sie und Mutt schließlich wieder zusammen. Dieser Roman ist wie ein großer Klagegesang, der aber gerade dadurch Trost bereithält, dass er erklingt. Das unterscheidet Jones' "Corregidora" von den zwei Generationen älteren Romanen der Harlem Renaissance als erster erfolgreichen Artikulation einer eigenständigen schwarzen Literatur in den Vereinigten Staaten. Gayl Jones erzählt nicht nur von ihrer schwarzen Herkunftswelt, sie erzählt - literarisch transponiert - auch in deren eigener Ausdrucksform.
Wie kann man dafür eine deutsche Stimme finden? Pieke Biermann hatte es 2020 mit dem Roman "Oreo" von Fran Ross vorgemacht, für dessen Übersetzung sie den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, und mit "Corregidora" liefert sie jetzt ihr Meisterstück ab. In einem zehnseitigen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel "This is (not) a love-song" beschreibt sie Jones' und damit auch die eigene Vorgehensweise auf der Suche nach einer literarischen Bluesstimme, und was besonders beeindruckt an dieser Selbstauskunft, ist, dass Biermann sich gar nicht erst aufhält mit identitätspolitischen Fragen wie etwa der nach der Übertragung des von Jones in wörtlicher (schwarzer) Figurenrede gebrauchten Wortes "Nigger" oder auch nach der Berechtigung einer weißen Übersetzerin, sich dieses Textes anzunehmen. Das Resultat spricht jeweils für sich.
Auch verliert sie kein Wort über die vielfältigen Kontroversen, die Gayl Jones in ihrer Heimat mit wenig kompromissbereitem Auftreten in den Jahrzehnten nach Erscheinen von "Corregidora" ausgelöst hat. Denn auch das tut in der Tat nichts zur Sache dieses Romans, und über ihn gibt es noch weitaus mehr zu sagen, als Pieke Biermann es tut. Fertig wird man mit ihm nicht werden; zu sehr rührt die Verwundbarkeit seiner Hauptfigur an Erfahrungen, die hier nicht nur nachvollziehbar, sondern geradezu spürbar dargeboten sind. Ungeachtet der exakten zeitlichen Einordnung des Geschehens in die späten Vierziger- bis späten Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts und einer eindeutigen Situierung ins nie namentlich genannte, aber klar erkennbare Lexington, Kentucky, den Heimatort von Jones, leistet "Corregidora" das, was nur ganz große Literatur vermag: Allgemeingültigkeit über Zeit und Raum hinweg zu vermitteln. Nicht einmal ein solcher Spaß der Verfasserin wie ihr Einwurf: "Heute tragen ja alle Shaft-Mäntel. Er hatte damals bestimmt seinen Dick-Tracy-Mantel an", der uns Leser für einen Augenblick aus der Handlungs- in die Schreibzeit entführt, ist ohne Hintersinn. Denn dieser im Buch einmalige Verweis aufs Erleben der Verfasserin verbindet sie mit der Erzählerin. Und macht Gayl Jones zu jener Generation, die ihre Ursa nicht mehr hat gebären können. Erzählt vom Leid wird trotzdem weiter. ANDREAS PLATTHAUS
Gayl Jones: "Corregidora". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann. Kanon Verlag, Berlin 2022.
222 S., geb., 23,- Euro.
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