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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Fakten und Appelle: Mojib Latif unterstreicht die Brisanz der Lage und sieht dennoch positive Signale
Versierte Autoren aus der Wissenschaft, die über den Klimawandel schreiben, und erst recht solche wie Mojib Latif, der schon vor fast zwanzig Jahren mit einem Buch über "Hitzerekorde und Jahrhundertflut" das Wesentliche festgehalten hat und damit bekannt geworden ist, stehen heute kommunikativ mit dem Rücken zur Wand. Mit Aufklären ist es nicht mehr getan. Dass das Weltklima aus den Fugen gerät, und zwar vielerorts noch schneller als früher befürchtet, gehört mittlerweile zum weitverbreiteten Wissen, ja zur Alltagserfahrung jedes Einzelnen. Eine Erkenntnislücke zu schließen kann deshalb nicht das Ziel sein. Versuchen sich Autoren am Aufrütteln, spitzen sie dabei zu, sind sie Aktivisten.
Politische Motive aber bekommen wie die allzu penetrante Vereinfachung leicht eine anrüchige Note, die sich mit den akademischen Standards der Professoren schlecht verträgt. Den aktivistischen Tonlagen - und Lautstärken - wollen die Vertreter aus der ersten Reihe der Klimaforschung auch nicht unbedingt folgen. Was also bleibt, will man der Sache dienen: der Rettung des Weltklimas?
Die Lösung Latifs lautet: faktenreiche Betroffenheitsprosa. Mit gedämpfter, zuweilen flehentlicher Sprache appelliert er an die politisch Vernünftigen, die schon Einsichtigen und doch immer noch Untätigen. Einerseits liefert er eine Gesamtschau der aktuellen klimawissenschaftlichen Erkenntnisse zu Treibhauseffekt, Extremwetter, zu Kipppunkten und dem basalen geophysikalischen Rüstzeug, das es braucht, um die Realität des menschengemachten Klimawandels zu verstehen. Andererseits verknüpft Latif dieses Wissen unter Einsatz offenbar gewollter Redundanz und erheblicher Eloquenz auch immer wieder mit dem Motiv, das ihn in den Jahrzehnten als Ozeanforscher stets beschäftigt hat: der Frage, wie die ökologische Wertedebatte am Leben zu erhalten ist. Denn die Schicksalsfrage nach der Stabilisierung der Welttemperatur auf einem erträglichen Niveau ist eben nicht nur ein geopolitisches Großprojekt, sie ist im Sinne Latifs auch ein biopolitisches (Stichwort: Artensterben) und eine Art Vielgenerationen-Therapie - eine Verhaltenstherapie von globaler Dimension. Latif fasst das unter das etwas abgenutzte Label "kulturelle Revolution" zusammen.
Das liegt vielleicht daran, dass er als Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome eine engere Beziehung zu den ökologisch Altvorderen pflegt als die meisten der Neu-Grünen in seiner Leserschaft. Und natürlich ist die Forderung nach einer kulturellen Transformation auch keine Neuigkeit. Dass der Mensch sich neu erfinden, seine Energiesysteme nachhaltiger und umweltschonender ausbauen, die fossilen Irrwege verlassen muss, all das hören wir inzwischen jeden Tag. Klimatische Anlässe dazu liefern das Wetter und die Politik fortdauernd.
Latifs Reaktion darauf wirkt zuweilen ungehalten: "Worauf warten wir noch?", fragt er, wenn die Welt offensichtlich am Abgrund steht. In solchen Momenten und in diesen Tagen, in denen man auch den Hitze-, Dürre- und Waldbrandschlagzeilen kaum ausweichen kann, erschließt sich besonders gut, was genau Latif zu seiner neuerlichen kommunikativen Offensive bewegt: das Ausgeliefertsein an die Katastrophe und die öffentlichen wie politischen Reaktionen darauf.
Latif hört und spürt wie wir alle den Katastrophismus auf allen Kanälen. Diese Weltuntergangsbeschreibungen streift er selbst immer wieder in seinem Buch, und mit wissenschaftlicher Akribie hat er auch viele der jüngst erst veröffentlichten Zahlen und Statistiken zusammengetragen, um die Brisanz der Lage zu unterstreichen. Aber sein Ansatz ist ein anderer als das Beschwören der drohenden Katastrophen. Viel lieber als mit der Endzeit beschäftigt sich Latif nämlich mit den Möglichkeiten, das Schlimmste abzuwenden. Der Hamburger Klimaforscher, der einst bei dem Nobelpreisträger Klaus Hasselmann promoviert hat, ist wie dieser davon überzeugt, dass das Klimaschicksal noch längst nicht besiegelt ist. Trotz der unheilvollen Entwicklung, die sich an den Kohlendioxidkurven ablesen lässt, setzt Latif politisch auf einen Optimismus, der vielen seiner Kollegen und Mitstreiter inzwischen schwerfällt. "Positive Signale" sieht er an vielen Stellen. Angefangen bei dem Engagement der Generation Greta, den Emissionsminderungen, die selbst in Deutschland schon nachweisbar sind, und bei einigen grünen Wendemanövern auf den Gebieten der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Sein vielleicht stärkstes Argument: Klimaschutz erweist sich immer stärker als Innovationsmotor und bedeutet eben nicht nur Verzicht. Und damit dockt die Klimapolitik für ihn an das Argument an, mit denen die Protagonisten der sozialen - heute ökosozialen - Marktwirtschaft seit Jahrzehnten auf Stimmenfang sind: Innovation schafft Wohlstand. Seinen, wie er schreibt, "festen Glauben an eine gute Zukunft" hat er noch nicht verloren. Folgerichtig tauchen in seinem Buch auch Verzweiflungsvokabeln wie Klimanotstand oder die Klimaangst (vor allem der jungen Leute) entweder gar nicht oder nur sparsam auf. Manchem, den der Klimawandel verängstigt, mag das bei dem Versuch helfen, die ökologische Situation unseres Planeten mit akademisch gebotener Nüchternheit zu eruieren. Andere hingegen werden den Ausdruck von äußerster, wissenschaftlich gebotener Dringlichkeit vermissen. JOACHIM MÜLLER-JUNG
Mojib Latif: "Countdown". Unsere Zeit läuft ab - was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können.
Herder Verlag, Freiburg 2022. 224 S., br., 22,- Euro.
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