Was passiert mit uns, wenn unsere eigenen Eltern plötzlich aufhören, mit uns zu reden? Warum scheint sich Grobschlächtigkeit weltweit öffentlich durchzusetzen? Kann man ein Haus bauen, ohne den Verstand zu verlieren? Warum regredieren wir beim Autofahren so spektakulär? (Sollten unsere SUVs die Airbags nicht besser außen haben?) Und wie kann es gelingen, gleichzeitig Mutter, Tochter, Ehefrau, Staatsbürgerin, Künstlerin und breadwinner für die ganze Familie zu sein? (Achtung, Spoiler: schwierig!)
Rachel Cusk ist eine unerbittlich humorvolle Selbsterforscherin und eine Poetin der gespaltenen Gefühle. Coventry versammelt eine Reihe ihrer glänzenden Essays, hochaufgelöste, tiefenscharfe Meisterstücke. Sie zu lesen bedeutet, sich den weitreichenden Ungewissheiten zu stellen, die wir alltags lieber nicht beachten.
Rachel Cusk ist eine unerbittlich humorvolle Selbsterforscherin und eine Poetin der gespaltenen Gefühle. Coventry versammelt eine Reihe ihrer glänzenden Essays, hochaufgelöste, tiefenscharfe Meisterstücke. Sie zu lesen bedeutet, sich den weitreichenden Ungewissheiten zu stellen, die wir alltags lieber nicht beachten.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Frank Schäfer vergleicht die Autofiktion von Rachel Cusk, das Mäandern im eigenen Leben, mit der von Knausgård. Ihr neuestes Buch "Coventry" ist ein Essayband, dessen Themen er als "Phänomenologie des Alltags" bezeichnet. Es gefällt ihm, dass sowohl Erzählen als auch Nachdenken zum Zug kommen und mit klugen Betrachtungen und Analogien verwoben werden. Dieses assoziative Schreiben sorgt gelegentlich für Orientierungslosigkeit, kann aber auch als lohnende Herausforderung gesehen werden. Dass Cusk dabei schonungslos ehrlich mit sich selbst ist, ist für Schäfer ein großer Gewinn und bietet Stoff für Debatten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2022Wie ein
falscher Gott
In „Coventry“ erweist sich Rachel Cusk
als Essayistin von überwältigender Klugheit
VON HILMAR KLUTE
Wenn man den literarischen Sound von Rachel Cusk mit einer kurzen Probe vorstellen möchte, dann ist diese hier geeignet: „Gelegentlich und aufgrund tatsächlicher oder hypothetischer Verfehlungen reden meine Mutter und mein Vater nicht mehr mit mir.“ Der Kniff dieser Denksprache ist es, den empfundenen Schmerz über den Weg der Versachlichung handhabbar zu machen.
Der Satz stammt aus der Betrachtung „Coventry“, der dem schmalen Band mit neuen Essays von Rachel Cusk den Titel gibt. Jemanden nach Coventry schicken, schreibt Cusk, sei eine gebräuchliche Wendung, die jene Art von Kontaktauflösung benenne, mit der Cusks Eltern die Tochter bestraft haben. Natürlich wölbt sich die historische Tragik des realen Coventry, das 1940 von deutschen Fliegerbomben weitgehend zerstört worden ist, über die Metapher.
Rachel Cusk richtet ihre Überlegungen in dieser sozialen Dystopie ein. Sie erzählt von den Verlusten, die das Älterwerden mit sich bringt, die Abnutzung der Ehe, die Entfremdung von den erwachsen werdenden Töchtern. Coventry wird ihr nach und nach zu einer illusionsarmen Heimat, weil in ihm das Schreckliche bereits geschehen ist.
Die kanadische, in Paris lebende Schriftstellerin Rachel Cusk ist eine Spezialistin für die Ausleuchtung privater Katastrophen, die sie mit unmittelbarer sachlicher Analyse in eine allgemein menschliche Wahrheit überführt. Sie hat dafür eine Sprache gefunden, die sich zwischen deskriptiver Exaktheit und poetischem Wagnis bewegt und dabei immer einen beeindruckend axiomatischen Ton anklingen lässt: „Die Gesellschaft ist dergestalt organisiert, dass jene, die die Wahrheit sagen, effizient bestraft, zum Schweigen gebracht oder verleugnet werden. Die Unhöflichkeit dagegen wird willkommen geheißen wie ein falscher Gott.“
In diesem Essay über den moralischen Status der Unhöflichkeit geht es um den Kollaps der Sprache, der eine Folge sozialer Ungleichheit ist. Wenn Hillary Clinton die Trump-Wähler als „bedauernswerten Haufen“ disqualifiziert, sieht Rachel Cusk darin nur auf den ersten Blick eine kühne Volte der Kandidatin. Genaues Hinhören entlarvt die Beschimpfung als Deklassierung, als moralisches Vergehen, bei welchem dem Individuum der Wert aberkannt wird.
Wie dünn der Firnis ist, auf dem die, sie sagt es von sich selbst, privilegierte Autorin ihre Gewohnheiten im Alltag verteidigt, illustriert die Anekdote einer Kleideranprobe in der Boutique. Die offenbar zur Beflissenheit verpflichtete Verkäuferin wird mit ihrer unablässig bekundeten Dienstbarkeit zur Belastung für die Kundin. Ihre übertriebene Hilfsbereitschaft und ihr ständiges Nachfragen empfindet die Kundin als übergriffig, am Ende lässt sie eine zerstörte, ihrer routinierten Freundlichkeit entledigte Verkäuferin zurück. Die jahrelangen Kämpfe um die Frage, wie eine gerechtere Welt zu gestalten wäre, schnurrt auf den Kompromiss zusammen, gute Umgangsformen als zivilisatorischen Grundstandard zu wahren.
Die Klugheit dieser Essayistin ist deshalb so überwältigend, weil sie niemals mit einer einzigen Wahrheit auskommt. Anders als manche twittergekrönte Publizistin glaubt sie sich auch nicht im Vollbesitz der moralischen Integrität, sondern im Gegenteil: Rachel Cusk geht immer als soziales und philosophisches Mängelwesen durch die Welt. Der Autoverkehr, dessen soziale Strategien sie im ersten Essay zu ergründen versucht, ist nicht nur das oft blutige Schlachtfeld älterer Leute, die bei ihren Fahrfehlern Menschenleben riskieren.
Es ist auch die sündige Meile der Autorin, die den Widerspruch zwischen ethischem Bedenken und der Notwendigkeit aushält, den Kofferraum mit Lebensmitteln aus dem fernen Supermarkt für die Familie vollpacken zu müssen: „Wir akzeptieren unsere Schuld, gedankenlos durch die Dörfer anderer Leute zu rasen, aber in unserem eignen wären wir empfindlich.“
Rachel Cusk hat Romane geschrieben, die eigentlich nur belletristische Variationen ihrer essayistischen Poetologie sind. Sie sind auch etwas schwächer als ihre großen Versuche über die Mutterschaft („Lebenswerk“) und die Trennung von ihrem Ehemann („Danach“). Denn Rachel Cusk ist vor allem dann überzeugend, wenn sie sich selbst in ihren analytischen Aufrissen gleich mit häuten lässt.
Das „Danach“, also die Zeit nach der Trennung mit all den Erosionen, die sie ausgelöst hat, wird auch in diesem kleinen Suhrkamp-Band noch einmal aufgerufen. Der Schmerz, dem Cusk hier nachfühlt, wird durch einen Zornessatz ihres Ehemannes ausgelöst: „Du nennst dich Feministin!“ Und tatsächlich glaubt Cusk, in ihrer gelebten Variante von Feminismus nur eine Trümmerhäufung männlicher Eigenschaften zu erkennen, die sie von ihren Eltern vermacht bekommen hat. „Ich bin keine Feministin“, schreibt sie, „sondern ein von Selbsthass erfüllter Transvestit.“
Es liegt ein großer Reiz in diesem Verfahren, alle Gewissheiten probeweise infrage zu stellen, die Bequemlichkeit der Übereinkünfte zugunsten durchaus schmerzhaften Erkenntnisgewinns aufzugeben. Die Scheidung ist das Grundmotiv in Rachel Cusks Aufsätzen. Es zieht sich durch alle Themen und wird virulent in den Versuchen der Töchter, sich abzunabeln.
Der Schrecken liegt darin, dass sich der Lebensweg, auf den sich Eltern und Kind festgelegt haben, in der Pubertät plötzlich verzweigt. Man beginnt nun, sich Geschichten zu erzählen, die den gemeinsamen Horizont verlassen. Ein simpler und von den Schrecken der Erkenntnis unberührter Erzähler würde aus diesen Erfahrungen heitere Familiengeschichten basteln. Rachel Cusk macht daraus große existenzialistische Literatur, deren sprachliche Unbarmherzigkeit Eva Bonné verlustfrei ins Deutsche gerettet hat.
Denn der Schrecken, das innere Coventry, ist der Schreibimpuls dieser großen Essayistin in der Nachfolge Virginia Woolfs. Im englischen Originalband stehen neben den Essays auch Kritiken und Aufsätze zur Literatur, darunter faszinierende Porträtskizzen über Francoise Sagan, Edith Wharton, D.H. Lawrence und Natalia Ginzburg. Dass Suhrkamp diese Texte ausgekoppelt hat, mag eine ökonomische Entscheidung sein. Dem Leser wird damit leider der Blick auf die fabelhafte Literaturkritikerin Rachel Cusk verwehrt.
Rachel Cusk: Coventry.
Aus dem Englischen
von Eva Bonné.
Suhrkamp, Berlin 2022.
160 Seiten, 21 Euro.
Heimat ist dort, wo das Schreckliche bereits geschehen ist: die kanadische Schriftstellerin, Essayistin und Literaturkritikerin Rachel Cusk.
Foto: mauritius images / Alamy Stock Photos / Jonas Ekstromer/TT
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falscher Gott
In „Coventry“ erweist sich Rachel Cusk
als Essayistin von überwältigender Klugheit
VON HILMAR KLUTE
Wenn man den literarischen Sound von Rachel Cusk mit einer kurzen Probe vorstellen möchte, dann ist diese hier geeignet: „Gelegentlich und aufgrund tatsächlicher oder hypothetischer Verfehlungen reden meine Mutter und mein Vater nicht mehr mit mir.“ Der Kniff dieser Denksprache ist es, den empfundenen Schmerz über den Weg der Versachlichung handhabbar zu machen.
Der Satz stammt aus der Betrachtung „Coventry“, der dem schmalen Band mit neuen Essays von Rachel Cusk den Titel gibt. Jemanden nach Coventry schicken, schreibt Cusk, sei eine gebräuchliche Wendung, die jene Art von Kontaktauflösung benenne, mit der Cusks Eltern die Tochter bestraft haben. Natürlich wölbt sich die historische Tragik des realen Coventry, das 1940 von deutschen Fliegerbomben weitgehend zerstört worden ist, über die Metapher.
Rachel Cusk richtet ihre Überlegungen in dieser sozialen Dystopie ein. Sie erzählt von den Verlusten, die das Älterwerden mit sich bringt, die Abnutzung der Ehe, die Entfremdung von den erwachsen werdenden Töchtern. Coventry wird ihr nach und nach zu einer illusionsarmen Heimat, weil in ihm das Schreckliche bereits geschehen ist.
Die kanadische, in Paris lebende Schriftstellerin Rachel Cusk ist eine Spezialistin für die Ausleuchtung privater Katastrophen, die sie mit unmittelbarer sachlicher Analyse in eine allgemein menschliche Wahrheit überführt. Sie hat dafür eine Sprache gefunden, die sich zwischen deskriptiver Exaktheit und poetischem Wagnis bewegt und dabei immer einen beeindruckend axiomatischen Ton anklingen lässt: „Die Gesellschaft ist dergestalt organisiert, dass jene, die die Wahrheit sagen, effizient bestraft, zum Schweigen gebracht oder verleugnet werden. Die Unhöflichkeit dagegen wird willkommen geheißen wie ein falscher Gott.“
In diesem Essay über den moralischen Status der Unhöflichkeit geht es um den Kollaps der Sprache, der eine Folge sozialer Ungleichheit ist. Wenn Hillary Clinton die Trump-Wähler als „bedauernswerten Haufen“ disqualifiziert, sieht Rachel Cusk darin nur auf den ersten Blick eine kühne Volte der Kandidatin. Genaues Hinhören entlarvt die Beschimpfung als Deklassierung, als moralisches Vergehen, bei welchem dem Individuum der Wert aberkannt wird.
Wie dünn der Firnis ist, auf dem die, sie sagt es von sich selbst, privilegierte Autorin ihre Gewohnheiten im Alltag verteidigt, illustriert die Anekdote einer Kleideranprobe in der Boutique. Die offenbar zur Beflissenheit verpflichtete Verkäuferin wird mit ihrer unablässig bekundeten Dienstbarkeit zur Belastung für die Kundin. Ihre übertriebene Hilfsbereitschaft und ihr ständiges Nachfragen empfindet die Kundin als übergriffig, am Ende lässt sie eine zerstörte, ihrer routinierten Freundlichkeit entledigte Verkäuferin zurück. Die jahrelangen Kämpfe um die Frage, wie eine gerechtere Welt zu gestalten wäre, schnurrt auf den Kompromiss zusammen, gute Umgangsformen als zivilisatorischen Grundstandard zu wahren.
Die Klugheit dieser Essayistin ist deshalb so überwältigend, weil sie niemals mit einer einzigen Wahrheit auskommt. Anders als manche twittergekrönte Publizistin glaubt sie sich auch nicht im Vollbesitz der moralischen Integrität, sondern im Gegenteil: Rachel Cusk geht immer als soziales und philosophisches Mängelwesen durch die Welt. Der Autoverkehr, dessen soziale Strategien sie im ersten Essay zu ergründen versucht, ist nicht nur das oft blutige Schlachtfeld älterer Leute, die bei ihren Fahrfehlern Menschenleben riskieren.
Es ist auch die sündige Meile der Autorin, die den Widerspruch zwischen ethischem Bedenken und der Notwendigkeit aushält, den Kofferraum mit Lebensmitteln aus dem fernen Supermarkt für die Familie vollpacken zu müssen: „Wir akzeptieren unsere Schuld, gedankenlos durch die Dörfer anderer Leute zu rasen, aber in unserem eignen wären wir empfindlich.“
Rachel Cusk hat Romane geschrieben, die eigentlich nur belletristische Variationen ihrer essayistischen Poetologie sind. Sie sind auch etwas schwächer als ihre großen Versuche über die Mutterschaft („Lebenswerk“) und die Trennung von ihrem Ehemann („Danach“). Denn Rachel Cusk ist vor allem dann überzeugend, wenn sie sich selbst in ihren analytischen Aufrissen gleich mit häuten lässt.
Das „Danach“, also die Zeit nach der Trennung mit all den Erosionen, die sie ausgelöst hat, wird auch in diesem kleinen Suhrkamp-Band noch einmal aufgerufen. Der Schmerz, dem Cusk hier nachfühlt, wird durch einen Zornessatz ihres Ehemannes ausgelöst: „Du nennst dich Feministin!“ Und tatsächlich glaubt Cusk, in ihrer gelebten Variante von Feminismus nur eine Trümmerhäufung männlicher Eigenschaften zu erkennen, die sie von ihren Eltern vermacht bekommen hat. „Ich bin keine Feministin“, schreibt sie, „sondern ein von Selbsthass erfüllter Transvestit.“
Es liegt ein großer Reiz in diesem Verfahren, alle Gewissheiten probeweise infrage zu stellen, die Bequemlichkeit der Übereinkünfte zugunsten durchaus schmerzhaften Erkenntnisgewinns aufzugeben. Die Scheidung ist das Grundmotiv in Rachel Cusks Aufsätzen. Es zieht sich durch alle Themen und wird virulent in den Versuchen der Töchter, sich abzunabeln.
Der Schrecken liegt darin, dass sich der Lebensweg, auf den sich Eltern und Kind festgelegt haben, in der Pubertät plötzlich verzweigt. Man beginnt nun, sich Geschichten zu erzählen, die den gemeinsamen Horizont verlassen. Ein simpler und von den Schrecken der Erkenntnis unberührter Erzähler würde aus diesen Erfahrungen heitere Familiengeschichten basteln. Rachel Cusk macht daraus große existenzialistische Literatur, deren sprachliche Unbarmherzigkeit Eva Bonné verlustfrei ins Deutsche gerettet hat.
Denn der Schrecken, das innere Coventry, ist der Schreibimpuls dieser großen Essayistin in der Nachfolge Virginia Woolfs. Im englischen Originalband stehen neben den Essays auch Kritiken und Aufsätze zur Literatur, darunter faszinierende Porträtskizzen über Francoise Sagan, Edith Wharton, D.H. Lawrence und Natalia Ginzburg. Dass Suhrkamp diese Texte ausgekoppelt hat, mag eine ökonomische Entscheidung sein. Dem Leser wird damit leider der Blick auf die fabelhafte Literaturkritikerin Rachel Cusk verwehrt.
Rachel Cusk: Coventry.
Aus dem Englischen
von Eva Bonné.
Suhrkamp, Berlin 2022.
160 Seiten, 21 Euro.
Heimat ist dort, wo das Schreckliche bereits geschehen ist: die kanadische Schriftstellerin, Essayistin und Literaturkritikerin Rachel Cusk.
Foto: mauritius images / Alamy Stock Photos / Jonas Ekstromer/TT
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»Cusks Gedankengänge sind sprunghaft und hyperpräzise zugleich. Der Tonfall ist vordergründig gelassen, bisweilen abgeklärt, doch zwischen den Zeilen pulsiert eine unter enormem Kraftaufwand domestizierte intellektuelle Sensibilität und nervöse Anspannung.« Marianna Lieder DIE ZEIT 20220927