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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Werk eines Weltautors rundet sich immer weiter: "Cowboygräber" versammelt drei nachgelassene Erzählungen von Roberto Bolaño
Seinen literarischen Ruhm in Deutschland verdankt Roberto Bolaño zwei dicken Romanen: "Die wilden Detektive" und "2666". Kaum war der erste 2002 auf Deutsch erschienen, war Bolaño tot, gestorben im Jahr darauf mit gerade einmal fünfzig. "2666" erschien dann postum, nicht nur hierzulande, sondern weltweit, denn mit diesem Roman wollte der im spanischen Exil lebende Chilene die Versorgung seiner Hinterbliebenen sicherstellen. Das war einerseits fürsorglich, erwies sich andererseits jedoch als überflüssig: Nach seinem Tod setzte ein regelrechter Bolaño-Hype ein, und die Erben des Schriftstellers erwiesen sich als äußerst geschäftstüchtig. In seinem Nachlass fanden sich zahlreiche unveröffentlichte Texte in Form von Manuskripten, Typoskripten oder Computerdateien. Und da die internationalen Rechte am Werk von Bolaño mittlerweile von der Agentur Wylie vertreten werden, wird dafür gesorgt, dass die Lizenznehmer keine Publikation auslassen.
Die jüngste deutsche ist nun eine im spanischen Original vor drei Jahren erschienene Geschichtensammlung, die nie als solche gedacht war. Nicht einmal, ob die drei darin enthaltenen Erzählungen abgeschlossen sind, kann man sicher sagen, aber das dürfte treue Leser von Bolaño kaum stören, denn dessen Bücher können insofern der literarischen Postmoderne zugerechnet werden, als sie ein Spiel mit Stilen und Traditionen treiben, das sich selbst genügt. Das wiederum heißt nicht, dass es keine Handlung gäbe - ganz im Gegenteil: Wir haben es mit überbordendem Geschichtenreichtum zu tun, gerade weil sie so fragmentiert sind. Der Zitatcharakter von Bolaños Schreiben ist evident, und für einen Literaturliebhaber kann es kaum reizvollere Lektüren geben: Es gibt ständig etwas zu entschlüsseln. Aber abgeschlossen in dem Sinne, dass das jeweilige Geschehen einer klassischen Klimax zugeführt würde, wird nur eines seiner Bücher: der Roman "Chilenisches Nachtstück". Viele betrachten ihn trotz seiner Kürze - ein Viertel des Umfangs von "Wilde Detektive", ein Achtel desjenigen von "2666" - als Bolaños Opus magnum, gerade weil er sich da einmal an eine traditionelle Form gewagt hatte. Gewiss zum Spaß, auch wenn dieses Nocturne genregemäß das Schwärzeste ist, was Bolaño verfasst hat.
Der Roman führte denn auch in die dunkelste Zeit seiner chilenischen Heimat, die Pinochet-Diktatur, die den Schriftsteller selbst als Zwanzigjährigen außer Landes getrieben hatte, kurz nach dem Putsch vom 11. September 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Dieses Datum war für Bolaño der Wendepunkt seines ganzen Leben, wichtiger noch als die 1977 erfolgte Übersiedelung vom ersten Exilort Mexiko-City (wo er auch schon als Jugendlicher lange gewohnt hatte) in die spanische Küstenstadt Blanes, wo er dann die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte und alles schrieb, was wir von ihm kennen.
Aber Chile blieb der Stachel in seinem Leben, und der 11. September 1973 ist die Unwucht im neuen Buch, der Faktor, der alles ins Ungleichgewicht bringt. Es wäre ein Leichtes gewesen, das im Titel des Bandes zum Ausdruck zu bringen, doch international sind den Verlagen die Übernahme der von den Nachlassverwaltern gewählten Bezeichnungen vorgegeben, und so heißt das Buch nach der ersten Geschichte "Cowboygräber". Das ist allerdings eine Übersetzung, die einen kulturellen Topos bemüht, der von Bolaño gar nicht gemeint war, wenn er selbst "Sepulcros de vaqueros" titelte - Viehtreibergräber. Dass die erst für nächstes Jahr angekündigte englische Übersetzung "Cowboy Graves" heißen wird, mag ja angehen; im Deutschen jedoch bringt die Bezeichnung ohne Not, nur eines plakativen Titels wegen, einen weiteren Mythos mit in ein Spiel, das bei Bolaño ohnehin schon aus lauter Mythen besteht.
Der wichtigste ist diesmal ein Privatmythos: ebenjener vom Putsch 1973. "Vaterland", die beste Erzählung des Buchs, nimmt ihren Ausgang am Abend dieses Tages, während ein junger Dichter als Ich-Erzähler gerade im Freundeskreis Verse rezitiert, als die Nachricht vom Sturz Allendes eintrifft. Aus dem Chaos der panikartig davonstürzenden Gesellschaft rettet ihn eine junge Frau, mit der er die Stadt verlässt, und in jeweils nur wenige Seiten langen Einzelepisoden, die unterschiedlichste Perspektiven und Textformen bieten, wird das weitere Leben des Dichters ebenso rekonstruiert wie der Unfalltod der jungen Frau. Wollte man multilingual kalauern, wie Bolaño es bisweilen liebte, würde man das eine brief novel nennen - um das Changieren zwischen Kurz- und Briefroman anklingen zu lassen. Sechzig Seiten ist er nur lang und das früheste unter den drei Prosastücken. "Vaterland" hätte wohl unbegrenzt fortgeschrieben werden können, doch dann machte sich Bolaño lieber an "Wilde Detektive".
Die Erzählung "Cowboygräber", wohl parallel zu "Wilde Detektive" entstanden, endet mit einem Militärputsch, allerdings in Mexiko-City, und das Geschehen bricht mit einer absurden Situation ab, als zwei Möchtegern-Revolutionäre einander sinnlos Parolen abverlangen, weil sie Widerstand gegen die Putschisten simulieren. Es ist eine grimmige Szene von zynischer Komik, wie sie bei Bolaño selten zu finden ist. Jedes Pathos ist verschwunden aus der Widerstandshaltung, und der Spott über deren Propagandisten wird schließlich in der Abschlusserzählung auf die Spitze getrieben. Sie heißt "Komödie vom Schrecken von Frankreich", ein Wortspiel mit dem literarischen Genrebegriff der Horrorkomödie, die hier indes zur Groteske wird, als der Ich-Erzähler, wieder ein junger Dichter, von einer "Surrealistischen Untergrundliga" angerufen wird, die ihn für ihre Aktivitäten gewinnen will, aber auch nicht mehr zu bieten hat als konspirative Treffen mit Parolenaustausch.
Was hier erstmals - und spät in seiner Schreibbiographie, denn der Text scheint erst kurz vor Bolaños Tod abgefasst worden zu sein - aufscheint, ist ein unsentimentales Geschichtsbild, das umzukippen droht in Gelächter. Es wäre, so viel ist gewiss bei diesem literaturbesessenen Literaten, ein homerisches geworden. Dass es nie erklungen ist, macht den frühen Tod Bolaños noch schmerzhafter. Das neue Buch ist kein Trost, sondern reißt die Wunde wieder auf.
ANDREAS PLATTHAUS.
Roberto Bolaño: "Cowboygräber". Drei Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby. Hanser Verlag, München 2020. 191 S., geb., 22,- [Euro].
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"Wir haben es mit überbordendem Geschichtenreichtum zu tun. ... Für einen Literaturliebhaber kann es kaum reizvollere Lektüren geben: Es gibt ständig etwas zu entschlüsseln." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.08.20
"Allen drei Erzählungen ist die für Bolaño typisch klare Sprache gemein, die wiederum stets einen leicht neben der Realität liegenden, wundersamen, oft rätselhaften Inhalt transportiert. ... Die Prosa eines großartigen Schriftstellers, die unbedingt veröffentlicht gehört." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 02.08.20