»Verehrte Lauscher und Lauscherinnen versuchen Sie nicht das Geheimnis dieses Textes zu lüften«, verfügt Friederike Mayröcker in ihrem neuen Prosawerk – aber schon sein Titel legt eine unfehlbare Spur. da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete lässt keine Zweifel an dem, was immer noch Tag für Tag zu tun ist: hellwach und neugierig auf die Welt blicken und ihr eine Kunst abgewinnen, die Wörter in Sternschnuppen verwandelt und die Sprache selbst als einen schier unerschöpflichen poetischen Zauberkasten begreift: »meine Texte entstehen durch sich fortpflanzende Augen«, so eines der Geheimnisse, das die Wiener Dichterin ihren Leserinnen und Lesern doch noch preisgibt.
Mag die »Leibhaftigkeit« im hochbetagten Alter auch mühselig geworden sein, mögen die Listen an Wörtern, die mit den Jahren abhandengekommen sind, auch länger werden, wie die Poetin selbst beklagt – »in meinen Träumen bin ich jung, in meinen Träumen bin ich high«, versichert Friederike Mayröcker, und dieses Credo gilt umso mehr für ihre unvergleichliche, grenzenlose und ganz und gar unausdeutbare Dichtung.
Mag die »Leibhaftigkeit« im hochbetagten Alter auch mühselig geworden sein, mögen die Listen an Wörtern, die mit den Jahren abhandengekommen sind, auch länger werden, wie die Poetin selbst beklagt – »in meinen Träumen bin ich jung, in meinen Träumen bin ich high«, versichert Friederike Mayröcker, und dieses Credo gilt umso mehr für ihre unvergleichliche, grenzenlose und ganz und gar unausdeutbare Dichtung.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In den höchsten Tönen schwärmt die hier rezensierende Literaturwissenschaftlerin Friederike Reents von diesem neuen Gedichtband der inzwischen 96-jährigen Friederike Mayröcker. Wenn die Kritikerin hier eintaucht in den Selbstgespräche und imaginierte Dialoge umfassenden "Sprachfluss" erscheint ihr Mayröckers Lyrik wie ein "glimmend stiller Goldregen", der sie vom tristen Alltag ablenkt. Mehr noch: Der Witz, die jugendliche "Frische", die Lebensfülle und "Abschweifungslust", mit der die Dichterin die Rezensentin an ihren Beobachtungen, Gedanken und lyrischen Gesprächen mit Weggefährten, Musikern, Künstlern und Literaten teilhaben lässt, lässt für Reents nur einen Schluss zu: Ein fulminantes "Sprachkunstwerk" - und vielleicht ja nicht das letzte der Lyrikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Wildes Gemüse
Friederike Mayröckers
neue „Proeme“
Wovon handelt das Buch? Eine Frage, auf die in der Regel eine mehr oder weniger komplizierte, mehr oder weniger absehbare, mehr oder weniger ermüdende Handlung referiert werden muss. Friederike Mayröckers Erwiderung dagegen ist sehr einfach, überraschend und dürfte noch den schläfrigsten Leser sofort hellwach machen: „es geht um den Knall den Knall der Verliebtheiten, Vergeblichkeiten, Phantasien, Tagträume“.
Der Knall trägt hier statt eines störenden Kommas gleich seinen eigenen Nachhall mit sich. Doch eigentlich dürfte jeder Buchfreund schon beim Betrachten des Titels ganz Ohr gewesen sein: „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ – was ist das bloß für eine herrliche syntaktische Unverschämtheit?! So kühn wie die bald 96-jährige Mayröcker dichtet niemand sonst. Sie tut es freilich nicht erst seit gestern.
Mayröcker letztes, 2018 erschienenes Buch „Pathos und Schwalbe“ endet mit dem Satz: „in zwei Wochen wird meine Freundin gebären schreibt Lucien Freud es wird ein Lamm sein“, und auch im ersten Eintrag von „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ taucht ein Lamm auf, ganz als sei das eine Buch aus dem anderen hervorgegangen. Tatsächlich arbeitet Mayröcker seit vielen Jahren, spätestens seit „études“ von 2013,
an einem chronologisch fortlaufenden Schreibprojekt. Mit jedem Buch allerdings verschieben sich die Akzente. Im aktuellen sind die tagebuchartigen Einträge kürzer, umfassen meist eineinhalb Seiten, und nicht zuletzt deswegen tragen sie stärker lyrischen Charakter. Mayröcker selbst spricht von „Proemen“: „ich schreibe Prosa mit einem lyrischen touch, usw.“ Naturgemäß finden sich viele vertraute Elemente aus dem Mayröcker-Universum: Eiben, Leberblümchen, Tränen über Tränen, alte Fotografien, auf denen die Dichterin sich als Dreijährige betrachtet, Bad Ischl, Marcel Duchamp, Antoni Tapiès und Fernando Botero. Auch der Mayröcker-Lesern bekannte Schneider aus ihrer Nachbarschaft hat wieder einen Auftritt: „ach zipfelte wirbelte wildes Augengemüse in einem Schaufenster im Schaufenster des Schneiders Aslan Gültekin“.
Zugleich ist die gesellschaftlich-mediale Gegenwart sehr präsent. Da kauert ein „Vögelchen im browser“, da wird das österreichische Wort des Jahres 2017 von der Dichterin zum Unwort des Jahres erklärt („Vollholler“), da wird Instagram erwähnt, und über die eigenen Schuhe heißt es ganz modisch: „meine sneakers wie ich euch liebe“. Auf Instagram übrigens findet man Fotos, die Mayröcker zusammen mit „Twintowas“ zeigt, einem sechzig Jahre jüngeren Musiker-Zwillingspaar, das unter anderem mit dem Hip-Hopper RAF Camora auftritt.
Natürlich hört Mayröcker auch gerne Franz Schubert, aber ihre Literatur ähnelt eher einem Open Air-Konzert voller Pyrotechnik. Nur sind es bei ihr statt markerschütternder Bässe „diese Lanzen wie sie mich durchbohren, ich meine v.Frühling“.
Auch wenn Mayröcker schon in den Sechzigerjahren U und E vermischt hat, auch wenn Hölderlin und Heavy Metal nie einen Gegensatz für sie darstellten, mit jedem neuen Buch von ihr fühlt man sich literarisch frisch durchlüftet: „corona, sagte ich, es gefiel ihm dasz ich corona sagte dasz ich corona in unser Gespräch einschleuste dasz ich corona thematisierte, ein fieberhaftes Leben!“ (26.11.18)
TOBIAS LEHMKUHL
Friederike Mayröcker: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 22 Euro.
Mit jedem neuen Buch von
ihr fühlt man sich
literarisch frisch durchlüftet
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Friederike Mayröckers
neue „Proeme“
Wovon handelt das Buch? Eine Frage, auf die in der Regel eine mehr oder weniger komplizierte, mehr oder weniger absehbare, mehr oder weniger ermüdende Handlung referiert werden muss. Friederike Mayröckers Erwiderung dagegen ist sehr einfach, überraschend und dürfte noch den schläfrigsten Leser sofort hellwach machen: „es geht um den Knall den Knall der Verliebtheiten, Vergeblichkeiten, Phantasien, Tagträume“.
Der Knall trägt hier statt eines störenden Kommas gleich seinen eigenen Nachhall mit sich. Doch eigentlich dürfte jeder Buchfreund schon beim Betrachten des Titels ganz Ohr gewesen sein: „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ – was ist das bloß für eine herrliche syntaktische Unverschämtheit?! So kühn wie die bald 96-jährige Mayröcker dichtet niemand sonst. Sie tut es freilich nicht erst seit gestern.
Mayröcker letztes, 2018 erschienenes Buch „Pathos und Schwalbe“ endet mit dem Satz: „in zwei Wochen wird meine Freundin gebären schreibt Lucien Freud es wird ein Lamm sein“, und auch im ersten Eintrag von „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ taucht ein Lamm auf, ganz als sei das eine Buch aus dem anderen hervorgegangen. Tatsächlich arbeitet Mayröcker seit vielen Jahren, spätestens seit „études“ von 2013,
an einem chronologisch fortlaufenden Schreibprojekt. Mit jedem Buch allerdings verschieben sich die Akzente. Im aktuellen sind die tagebuchartigen Einträge kürzer, umfassen meist eineinhalb Seiten, und nicht zuletzt deswegen tragen sie stärker lyrischen Charakter. Mayröcker selbst spricht von „Proemen“: „ich schreibe Prosa mit einem lyrischen touch, usw.“ Naturgemäß finden sich viele vertraute Elemente aus dem Mayröcker-Universum: Eiben, Leberblümchen, Tränen über Tränen, alte Fotografien, auf denen die Dichterin sich als Dreijährige betrachtet, Bad Ischl, Marcel Duchamp, Antoni Tapiès und Fernando Botero. Auch der Mayröcker-Lesern bekannte Schneider aus ihrer Nachbarschaft hat wieder einen Auftritt: „ach zipfelte wirbelte wildes Augengemüse in einem Schaufenster im Schaufenster des Schneiders Aslan Gültekin“.
Zugleich ist die gesellschaftlich-mediale Gegenwart sehr präsent. Da kauert ein „Vögelchen im browser“, da wird das österreichische Wort des Jahres 2017 von der Dichterin zum Unwort des Jahres erklärt („Vollholler“), da wird Instagram erwähnt, und über die eigenen Schuhe heißt es ganz modisch: „meine sneakers wie ich euch liebe“. Auf Instagram übrigens findet man Fotos, die Mayröcker zusammen mit „Twintowas“ zeigt, einem sechzig Jahre jüngeren Musiker-Zwillingspaar, das unter anderem mit dem Hip-Hopper RAF Camora auftritt.
Natürlich hört Mayröcker auch gerne Franz Schubert, aber ihre Literatur ähnelt eher einem Open Air-Konzert voller Pyrotechnik. Nur sind es bei ihr statt markerschütternder Bässe „diese Lanzen wie sie mich durchbohren, ich meine v.Frühling“.
Auch wenn Mayröcker schon in den Sechzigerjahren U und E vermischt hat, auch wenn Hölderlin und Heavy Metal nie einen Gegensatz für sie darstellten, mit jedem neuen Buch von ihr fühlt man sich literarisch frisch durchlüftet: „corona, sagte ich, es gefiel ihm dasz ich corona sagte dasz ich corona in unser Gespräch einschleuste dasz ich corona thematisierte, ein fieberhaftes Leben!“ (26.11.18)
TOBIAS LEHMKUHL
Friederike Mayröcker: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 22 Euro.
Mit jedem neuen Buch von
ihr fühlt man sich
literarisch frisch durchlüftet
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2020Wer noch hören kann, der sehe
Mit sechsundneunzig Jahren, da fängt das Dichten an: Und doch richtet Friederike Mayröcker den Blick zunehmend nach Innen
Die Abneigung gegen den Satzendpunkt, den einfachen Punkt, hat die wohl sprachgewaltigste und mit 96 Jahren wohl auch älteste deutschsprachige Dichterin auch in ihrem jüngsten Werk "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" beibehalten. Der letzte Eintrag vom 3. November 2019 dieses gut zwei Jahre umfassenden "Seelenbuches", einer Mischung aus Prosa und Gedicht, eines "Proems" von Friederike Mayröcker, endet denn auch nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Komma nach einem von ihr leicht verfremdeten Wort: "weh mir : mein Augé,". Schon Helmut Heißenbüttel hatte vor fast vierzig Jahren vermutet, dass die der Schulgrammatik entgegenlaufende Verwendung von Satzzeichen mit Mayröckers "Scheu vor dem Abschließenden" zusammenhängt. Auch wenn sie im Vorfeld beteuerte, dies sei ihr letztes Buch ("ich weiß, ich sag das immer. Aber dieses Mal ist es so"), so lässt dieser dann offene Schluss die Hoffnung zu, dass es doch nicht so ist oder, wenn doch, dass der durch die Offenheit dieses sprachalchemistischen Werkes angelegte hermeneutische Zirkel zu keiner abschließenden Interpretation führen kann.
Der Wechsel aus Selbstgespräch und imaginierten Dialogen mit Weg- und Lebensgefährten, mit Musikern, Dichtern und bildenden Künstlern ist eine Versuchsanordnung, bei der Sehen und Dichten, Erinnern und Schreiben, aber auch Lesen und Lauschen miteinander verschmelzen - bei der einem buchstäblich Hören und Sehen beigebracht wird. Zu lauschen ist einem Tonereignis, einem scheinbar unermüdlichen Sprachfluss, der sich wie ein manchmal funkelnd schriller, dann aber wieder glimmend stiller Goldregen abhebt von den Banalitäten des Alltags, von der schlichten Alltagssprache, vom gelebten Leben, aber auch vom Tod. Überraschend ist in ihrem aktuellen Band die Frische, die Alterskomik, die Jugendlichkeit der aleatorischen Sprünge, die Evokations- und Abschweifungslust, die Technik gehetzter Über- und Ausblendung, der nervösen Schichtung und Frequenzüberlagerung, die dieses Sprachkunstwerk unermüdlich hervortreibt. Überwältigend sind die dabei evozierte Fülle des gelebten Lebens und die sich dabei zeigende Dialektik von Lebenslast und Lebenslust.
Unter dem Brennglas dieses Wohl und Wehes liegen bei Mayröcker vor allem die Augen: Die Dichterin, die sich selbst als "Augenmensch" bezeichnet und die ihre Augen bis heute mit schwarzen Ponyfransen verhängt, ist äußerst lichtempfindlich. Sie fürchtet die "Morgensonne", die "mein Gesicht zerkratzt", "mich verwüstet". Den Kampf gegen die Helligkeit und damit um ihre visuelle Wahrnehmung führt sie schon seit Jahren: "Nämlich weil ich die Sonne schon nicht mehr / aushalte und jeden Morgen schieszt sie ihre Pfeile", sie "will uns ganz und gar umbringen verbrennen, ver- / sengen verderben entseelen und das Auge aushöhlen verhöhnen uns / ganz und gar niederbrennen, UND ZU ASCHE", schrieb sie schon 2003.
Mayröckers ganzes Werk ist eine "Sehschule, dem Erwachen der Augen gewidmet", wusste schon der mit ihr befreundete Thomas Kling; im Auge berühren sich Innenwelt und Außenwelt à la Novalis, dort, könnte man sagen, ist der Sitz dieser singenden Seele, die den Tonlagenwechsel beherrscht: Kalauernd heißt es, dass, "zur Augenweide", die Augenärztin im Krankenhaus "Dr. Freude" heißt: "ich verliesz sie mit den Worten Freude schöner Götterfunken". Was Dr. Freude ihr indes zu sagen hat, ist alles andere als eine solche: ",schreiben werden Sie länger können als lesen'." Das Augenlicht schwindet, dieser Tatsache verdankt sich wohl auch der (an-)klagende Schluss des Buchs "weh mir : mein Augé,". Dass aber dies nicht nur wehmütig und hinfällig, klagend und anklagend, sondern gewitzt und selbstironisch klingt, liegt auch am Accent d'aigu über dem deutschen Wort "Auge". Was nach frankophiler (surrealistischer?) Spielerei aussieht und vielleicht auch eine solche ist, öffnet eine zusätzliche Bilddimension, die dieses Zeichen über dem e wie eine Wimper aussehen lässt, die das Auge doch noch vor der sengenden, todbringenden Sonne schützen kann.
Es gehört vielleicht auch zum Älterwerden, dass die Augen zunehmend nach innen gerichtet sind. Traumbilder ziehen als "weisze Lämmchen im blauen (Himmel)" vorüber, offenbar längere Zeit zurückliegende oder imaginierte intime Begegnungen kommen ins Bewusstsein: "meine Hand, mein Mund, suchen nach dir ...... die Erinnerung liebliche, das Moos mit bloszen Füszen, das Moos". Aber die warme Jahreszeit, wo man nackt im Moos liegen und sich lieben konnte, ist vorbei, es ist "schon kalt", "der Sommer fortgeflogen die Schwalben fortgezogen", die noch vor kurzem "über dem Krankenhausgarten" gesungen hatten. Die kalte Lebenswirklichkeit durchbricht immer wieder die Innenschau: "immer öfter ca. 3 oder 4 Uhr früh hörte ich jemanden EINBRECHEN". Hier wird eingebrochen, aufgerissen, zerrissen, auch "die Seide eines letzten Morgens".
Aber auch Wörter und Sätze entziehen sich, gehen verloren wie irgendwelche Dinge in der Wohnung, zerfallen vielleicht sogar ganz im Sinne Hofmannsthals wie modrige Pilze im Mund: "Zünglein es bangt mir um dich", klagt das Ich in einer Mischung aus Panik und Spott. Es sucht nach ihnen wie nach einem verlegten Gegenstand: "ich hatte sie in der Wohnung verloren sie waren verlorengegangen, ich konnte sie nicht wiederfinden sie sind ein Teil v. mir", die Suche nach Worten und Bildern wird fiebernd: "Wo find ich Reh bist du Reh?", immerhin gelingt es ihm momentweise, etwas zu erhaschen: "es war aber nur ein Hauch oder Wunde".
Manche Worte jedoch kommen von selbst, Worte und Fakten, derer man sich nicht erwehren kann. So schreibt auch Mayröcker in ihrem dann stellenweise auch tagesaktuellen Buch über Corona, und das datiert auf den 26.11.2018. Wenn man nicht an Verschwörungen und Hellseherei glaubt, ist davon auszugehen, dass die Passage erst nachträglich eingebaut wurde, dass der Augenmensch Mayröcker nicht auch noch Seherin oder poeta vates ist. Vielmehr scheint die altersweise Dame hier die Reizworthaftigkeit im Sprachgebrauch mit ihrem Gegenüber zu testen: "es gefiel ihm, dasz ich corona sagte dasz ich corona in unser Gespräch einschleuste, dasz ich corona thematisierte, / ein fieberhaftes Leben!" Vielleicht aber war die Corona-Evokation auch eine Referenz an den unglücklichen Paul Celan, der 1952 das sehr hermetische Gedicht "Corona" geschrieben hat: "Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit." Für den bislang nicht mit Mayröckers Werk vertrauten Leser ist es jedenfalls Zeit, ihr Werk mit den eigenen noch lesefähigen Augen zu entdecken. Augén auf!
FRIEDERIKE REENTS
Friederike Mayröcker: "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 201 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit sechsundneunzig Jahren, da fängt das Dichten an: Und doch richtet Friederike Mayröcker den Blick zunehmend nach Innen
Die Abneigung gegen den Satzendpunkt, den einfachen Punkt, hat die wohl sprachgewaltigste und mit 96 Jahren wohl auch älteste deutschsprachige Dichterin auch in ihrem jüngsten Werk "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" beibehalten. Der letzte Eintrag vom 3. November 2019 dieses gut zwei Jahre umfassenden "Seelenbuches", einer Mischung aus Prosa und Gedicht, eines "Proems" von Friederike Mayröcker, endet denn auch nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Komma nach einem von ihr leicht verfremdeten Wort: "weh mir : mein Augé,". Schon Helmut Heißenbüttel hatte vor fast vierzig Jahren vermutet, dass die der Schulgrammatik entgegenlaufende Verwendung von Satzzeichen mit Mayröckers "Scheu vor dem Abschließenden" zusammenhängt. Auch wenn sie im Vorfeld beteuerte, dies sei ihr letztes Buch ("ich weiß, ich sag das immer. Aber dieses Mal ist es so"), so lässt dieser dann offene Schluss die Hoffnung zu, dass es doch nicht so ist oder, wenn doch, dass der durch die Offenheit dieses sprachalchemistischen Werkes angelegte hermeneutische Zirkel zu keiner abschließenden Interpretation führen kann.
Der Wechsel aus Selbstgespräch und imaginierten Dialogen mit Weg- und Lebensgefährten, mit Musikern, Dichtern und bildenden Künstlern ist eine Versuchsanordnung, bei der Sehen und Dichten, Erinnern und Schreiben, aber auch Lesen und Lauschen miteinander verschmelzen - bei der einem buchstäblich Hören und Sehen beigebracht wird. Zu lauschen ist einem Tonereignis, einem scheinbar unermüdlichen Sprachfluss, der sich wie ein manchmal funkelnd schriller, dann aber wieder glimmend stiller Goldregen abhebt von den Banalitäten des Alltags, von der schlichten Alltagssprache, vom gelebten Leben, aber auch vom Tod. Überraschend ist in ihrem aktuellen Band die Frische, die Alterskomik, die Jugendlichkeit der aleatorischen Sprünge, die Evokations- und Abschweifungslust, die Technik gehetzter Über- und Ausblendung, der nervösen Schichtung und Frequenzüberlagerung, die dieses Sprachkunstwerk unermüdlich hervortreibt. Überwältigend sind die dabei evozierte Fülle des gelebten Lebens und die sich dabei zeigende Dialektik von Lebenslast und Lebenslust.
Unter dem Brennglas dieses Wohl und Wehes liegen bei Mayröcker vor allem die Augen: Die Dichterin, die sich selbst als "Augenmensch" bezeichnet und die ihre Augen bis heute mit schwarzen Ponyfransen verhängt, ist äußerst lichtempfindlich. Sie fürchtet die "Morgensonne", die "mein Gesicht zerkratzt", "mich verwüstet". Den Kampf gegen die Helligkeit und damit um ihre visuelle Wahrnehmung führt sie schon seit Jahren: "Nämlich weil ich die Sonne schon nicht mehr / aushalte und jeden Morgen schieszt sie ihre Pfeile", sie "will uns ganz und gar umbringen verbrennen, ver- / sengen verderben entseelen und das Auge aushöhlen verhöhnen uns / ganz und gar niederbrennen, UND ZU ASCHE", schrieb sie schon 2003.
Mayröckers ganzes Werk ist eine "Sehschule, dem Erwachen der Augen gewidmet", wusste schon der mit ihr befreundete Thomas Kling; im Auge berühren sich Innenwelt und Außenwelt à la Novalis, dort, könnte man sagen, ist der Sitz dieser singenden Seele, die den Tonlagenwechsel beherrscht: Kalauernd heißt es, dass, "zur Augenweide", die Augenärztin im Krankenhaus "Dr. Freude" heißt: "ich verliesz sie mit den Worten Freude schöner Götterfunken". Was Dr. Freude ihr indes zu sagen hat, ist alles andere als eine solche: ",schreiben werden Sie länger können als lesen'." Das Augenlicht schwindet, dieser Tatsache verdankt sich wohl auch der (an-)klagende Schluss des Buchs "weh mir : mein Augé,". Dass aber dies nicht nur wehmütig und hinfällig, klagend und anklagend, sondern gewitzt und selbstironisch klingt, liegt auch am Accent d'aigu über dem deutschen Wort "Auge". Was nach frankophiler (surrealistischer?) Spielerei aussieht und vielleicht auch eine solche ist, öffnet eine zusätzliche Bilddimension, die dieses Zeichen über dem e wie eine Wimper aussehen lässt, die das Auge doch noch vor der sengenden, todbringenden Sonne schützen kann.
Es gehört vielleicht auch zum Älterwerden, dass die Augen zunehmend nach innen gerichtet sind. Traumbilder ziehen als "weisze Lämmchen im blauen (Himmel)" vorüber, offenbar längere Zeit zurückliegende oder imaginierte intime Begegnungen kommen ins Bewusstsein: "meine Hand, mein Mund, suchen nach dir ...... die Erinnerung liebliche, das Moos mit bloszen Füszen, das Moos". Aber die warme Jahreszeit, wo man nackt im Moos liegen und sich lieben konnte, ist vorbei, es ist "schon kalt", "der Sommer fortgeflogen die Schwalben fortgezogen", die noch vor kurzem "über dem Krankenhausgarten" gesungen hatten. Die kalte Lebenswirklichkeit durchbricht immer wieder die Innenschau: "immer öfter ca. 3 oder 4 Uhr früh hörte ich jemanden EINBRECHEN". Hier wird eingebrochen, aufgerissen, zerrissen, auch "die Seide eines letzten Morgens".
Aber auch Wörter und Sätze entziehen sich, gehen verloren wie irgendwelche Dinge in der Wohnung, zerfallen vielleicht sogar ganz im Sinne Hofmannsthals wie modrige Pilze im Mund: "Zünglein es bangt mir um dich", klagt das Ich in einer Mischung aus Panik und Spott. Es sucht nach ihnen wie nach einem verlegten Gegenstand: "ich hatte sie in der Wohnung verloren sie waren verlorengegangen, ich konnte sie nicht wiederfinden sie sind ein Teil v. mir", die Suche nach Worten und Bildern wird fiebernd: "Wo find ich Reh bist du Reh?", immerhin gelingt es ihm momentweise, etwas zu erhaschen: "es war aber nur ein Hauch oder Wunde".
Manche Worte jedoch kommen von selbst, Worte und Fakten, derer man sich nicht erwehren kann. So schreibt auch Mayröcker in ihrem dann stellenweise auch tagesaktuellen Buch über Corona, und das datiert auf den 26.11.2018. Wenn man nicht an Verschwörungen und Hellseherei glaubt, ist davon auszugehen, dass die Passage erst nachträglich eingebaut wurde, dass der Augenmensch Mayröcker nicht auch noch Seherin oder poeta vates ist. Vielmehr scheint die altersweise Dame hier die Reizworthaftigkeit im Sprachgebrauch mit ihrem Gegenüber zu testen: "es gefiel ihm, dasz ich corona sagte dasz ich corona in unser Gespräch einschleuste, dasz ich corona thematisierte, / ein fieberhaftes Leben!" Vielleicht aber war die Corona-Evokation auch eine Referenz an den unglücklichen Paul Celan, der 1952 das sehr hermetische Gedicht "Corona" geschrieben hat: "Es ist Zeit, daß es Zeit wird. / Es ist Zeit." Für den bislang nicht mit Mayröckers Werk vertrauten Leser ist es jedenfalls Zeit, ihr Werk mit den eigenen noch lesefähigen Augen zu entdecken. Augén auf!
FRIEDERIKE REENTS
Friederike Mayröcker: "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 201 S., geb., 24,- [Euro].
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»... [ein] zärtliches Diarium ... Das Dichten etabliert eine Gegenwelt zum physischen Verfall, mündet in eine hochkomplexe Poetisierung und Überschreibung der Welt.« Björn Hayer der Freitag 20210507