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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Luna Ali erzählt von den Verheerungen im Leben eines nach Deutschland geflohenen jungen Syrers
Als Aras am 15. März 2011 die Augen öffnet, weiß er noch nicht, dass sich an diesem Tag nicht nur sein Leben verändern wird. An diesem Tag begann die syrische Revolution, und was vielen in der arabischen Welt damals wie ein Wunder vorkam und die Hoffnung auf Wandel in einer Jahrzehnte andauernden Diktatur mit sich trug, sollte in einem Albtraum enden, der dreizehn Jahre später mehr als eine halbe Million Menschen das Leben gekostet und Millionen in die Flucht getrieben hat.
Doch Aras, der Protagonist in Luna Alis Debütroman "Da waren Tage", wusste das alles natürlich noch nicht, an diesem eigentlich ganz normalen Tag. Acht Jahre später ist er Jurastudent, nachdem er als Kind mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester nach Deutschland gekommen ist. Das Schicksal seines Vaters bleibt lange im Dunkeln, eine Leerstelle, der Luna Ali erst spät Platz einräumt. Wie so viele politisch aktive Menschen verschwindet der Vater eines Tages in den Kerkern des Assad-Regimes.
Die Autorin ist wie ihr Protagonist in Syrien geboren, mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen, in Hannover aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Wie Aras hat sie den Aus- und letztendlichen Zusammenbruch der Revolution nur aus der Ferne erlebt.
Für Aras wird diese Ferne zu einem Leid, an dem er zu zerbrechen droht. Es ist genau dieses Leid, dem sich Luna Ali widmet. "Mir war es wichtig, der Frage nachzugehen: Wie kann man über das, was in Syrien passiert, erzählen, wenn man es eben hier in Deutschland erlebt", sagt Ali. Die so vielfältigen und zum Teil schmerzhaften Geschichten können laut Ali nicht linear erzählt werden wie in einer Geschichte. Deshalb bedient sich die studierte Kulturwissenschaftlerin einer besonderen Erzählstruktur: Es gibt keine konstante Handlung, doch jedes Kapitel spielt an einem 15. März, dem Jahrestag der syrischen Revolution.
Ihr Anspruch sei gewesen, jedes Kapitel anders zu schreiben. "Mich als Autorin interessiert es, eine poetische Sprache zu entwickeln, und eine Sprache, die mehr das Leben erforscht, als dass es das Leben wiedergibt", sagt Ali. Deshalb finde auch so gut wie in jedem Kapitel ein Sprachwechsel statt, "um für mich persönlich die Schwierigkeiten auszuleuchten, wie man über das eigene Leid, das Leid anderer, die Freuden überhaupt erzählen kann".
Und ja, das Buch ist vielschichtig und sprachlich außergewöhnlich - aber damit verlangt die Autorin oft viel von ihren Lesern. So nutzt Ali zum Beispiel Arabizi, das arabische Chat-Alphabet, oder unterschiedliche Listenformate, deren Namen, Zahlen und Abkürzungen sich erst durch Recherche zum Beispiel als UN-Resolutionen erschließen. In einem Kapitel formuliert sie Sätze, die dem arabischen Satzbau zu folgen scheinen, in dem das Verb vom Subjekt und Objekt gefolgt wird. Ein Kapitel schreibt sie fast durchgängig auf Englisch, weil die handelnden Personen in dieser Sprache miteinander kommunizieren. Auch als Leser muss man hier manchmal leiden.
Wir begleiten Aras durch sein Leben in acht Jahren, bei Besuchen in der Bibliothek, der Ausländerbehörde, bei Prüfungen, einem Auftritt in einer Talkshow, einem Praktikum oder einem Tag am Toten Meer. Und wir erleben, wie er langsam zerbricht und die Gewalt in sein Leben dringt. Der Unterschied zwischen Fiktion und Realität verschwimmt für ihn und damit auch für den Leser mit jedem Jahr mehr. Der Schmerz der anderen wird mehr und mehr auch zu seinem Schmerz.
Dass er Jura studiert, ist dabei kein Zufall. Denn Ali wollte auch die Absurdität aufzeichnen, dass Menschen in Syrien auf die Straße gingen und Rechte einforderten, über die wir in Deutschland gar nicht nachdenken, weil wir sie als gegeben ansehen. "Dass diese Forderungen mit solch einer Brutalität beantwortet wurden, stellt für mich das Rechtssystem an sich infrage, und dass wir uns überhaupt in Staaten organisieren", sagte Ali bei der Buchpremiere ihres Romans im Literaturforum im Brecht-Haus. Doch sie zeigt nicht nur die Absurditäten des Rechtssystems in einer Diktatur, in der der Machthaber Baschar al-Assad am 1. April 2016 Folter unter Strafe stellte.
Aras erlebt auch den schieren Irrsinn der deutschen Bürokratie, als er für den Familiennachzug stundenlang in der Ausländerbehörde warten muss und ihm dort klar wird, dass das Gesetz immer von Menschen ausgelegt wird und daher Ermessensspielraum bietet: "Vorerst war Bürokratie nur eine andere Form von Russisch Roulette." Hier erkennt Aras, dass Menschenleben trotz des Gesetzes unterschiedlich viel wert sein können.
"Es ist nur eine der zahlreichen Absurditäten dieses Landes, welches selbst so viele Flüchtlinge produziert hat und anschließend das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert hat, aber Asylsuchende wie Straftäter/-innen auf Bewährung behandelt", sagt Aras 2018 in einer Rede. Es sind diese Absurditäten, mit denen er versucht, leben zu lernen. Am Ende siegt die Hoffnung, aber erst als er selbst zum Akteur wird, ins Handeln kommt und auf einer Seenotrettungsmission anheuert. Erst da übt die Angst in seinem Körper keine Diktatur mehr aus. AMIRA EL AHL
Luna Ali: "Da waren Tage". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 304 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Luna Ali erzählt von den Verheerungen im Leben eines nach Deutschland geflohenen jungen Syrers
Als Aras am 15. März 2011 die Augen öffnet, weiß er noch nicht, dass sich an diesem Tag nicht nur sein Leben verändern wird. An diesem Tag begann die syrische Revolution, und was vielen in der arabischen Welt damals wie ein Wunder vorkam und die Hoffnung auf Wandel in einer Jahrzehnte andauernden Diktatur mit sich trug, sollte in einem Albtraum enden, der dreizehn Jahre später mehr als eine halbe Million Menschen das Leben gekostet und Millionen in die Flucht getrieben hat.
Doch Aras, der Protagonist in Luna Alis Debütroman "Da waren Tage", wusste das alles natürlich noch nicht, an diesem eigentlich ganz normalen Tag. Acht Jahre später ist er Jurastudent, nachdem er als Kind mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester nach Deutschland gekommen ist. Das Schicksal seines Vaters bleibt lange im Dunkeln, eine Leerstelle, der Luna Ali erst spät Platz einräumt. Wie so viele politisch aktive Menschen verschwindet der Vater eines Tages in den Kerkern des Assad-Regimes.
Die Autorin ist wie ihr Protagonist in Syrien geboren, mit sieben Jahren nach Deutschland gekommen, in Hannover aufgewachsen und lebt heute in Berlin. Wie Aras hat sie den Aus- und letztendlichen Zusammenbruch der Revolution nur aus der Ferne erlebt.
Für Aras wird diese Ferne zu einem Leid, an dem er zu zerbrechen droht. Es ist genau dieses Leid, dem sich Luna Ali widmet. "Mir war es wichtig, der Frage nachzugehen: Wie kann man über das, was in Syrien passiert, erzählen, wenn man es eben hier in Deutschland erlebt", sagt Ali. Die so vielfältigen und zum Teil schmerzhaften Geschichten können laut Ali nicht linear erzählt werden wie in einer Geschichte. Deshalb bedient sich die studierte Kulturwissenschaftlerin einer besonderen Erzählstruktur: Es gibt keine konstante Handlung, doch jedes Kapitel spielt an einem 15. März, dem Jahrestag der syrischen Revolution.
Ihr Anspruch sei gewesen, jedes Kapitel anders zu schreiben. "Mich als Autorin interessiert es, eine poetische Sprache zu entwickeln, und eine Sprache, die mehr das Leben erforscht, als dass es das Leben wiedergibt", sagt Ali. Deshalb finde auch so gut wie in jedem Kapitel ein Sprachwechsel statt, "um für mich persönlich die Schwierigkeiten auszuleuchten, wie man über das eigene Leid, das Leid anderer, die Freuden überhaupt erzählen kann".
Und ja, das Buch ist vielschichtig und sprachlich außergewöhnlich - aber damit verlangt die Autorin oft viel von ihren Lesern. So nutzt Ali zum Beispiel Arabizi, das arabische Chat-Alphabet, oder unterschiedliche Listenformate, deren Namen, Zahlen und Abkürzungen sich erst durch Recherche zum Beispiel als UN-Resolutionen erschließen. In einem Kapitel formuliert sie Sätze, die dem arabischen Satzbau zu folgen scheinen, in dem das Verb vom Subjekt und Objekt gefolgt wird. Ein Kapitel schreibt sie fast durchgängig auf Englisch, weil die handelnden Personen in dieser Sprache miteinander kommunizieren. Auch als Leser muss man hier manchmal leiden.
Wir begleiten Aras durch sein Leben in acht Jahren, bei Besuchen in der Bibliothek, der Ausländerbehörde, bei Prüfungen, einem Auftritt in einer Talkshow, einem Praktikum oder einem Tag am Toten Meer. Und wir erleben, wie er langsam zerbricht und die Gewalt in sein Leben dringt. Der Unterschied zwischen Fiktion und Realität verschwimmt für ihn und damit auch für den Leser mit jedem Jahr mehr. Der Schmerz der anderen wird mehr und mehr auch zu seinem Schmerz.
Dass er Jura studiert, ist dabei kein Zufall. Denn Ali wollte auch die Absurdität aufzeichnen, dass Menschen in Syrien auf die Straße gingen und Rechte einforderten, über die wir in Deutschland gar nicht nachdenken, weil wir sie als gegeben ansehen. "Dass diese Forderungen mit solch einer Brutalität beantwortet wurden, stellt für mich das Rechtssystem an sich infrage, und dass wir uns überhaupt in Staaten organisieren", sagte Ali bei der Buchpremiere ihres Romans im Literaturforum im Brecht-Haus. Doch sie zeigt nicht nur die Absurditäten des Rechtssystems in einer Diktatur, in der der Machthaber Baschar al-Assad am 1. April 2016 Folter unter Strafe stellte.
Aras erlebt auch den schieren Irrsinn der deutschen Bürokratie, als er für den Familiennachzug stundenlang in der Ausländerbehörde warten muss und ihm dort klar wird, dass das Gesetz immer von Menschen ausgelegt wird und daher Ermessensspielraum bietet: "Vorerst war Bürokratie nur eine andere Form von Russisch Roulette." Hier erkennt Aras, dass Menschenleben trotz des Gesetzes unterschiedlich viel wert sein können.
"Es ist nur eine der zahlreichen Absurditäten dieses Landes, welches selbst so viele Flüchtlinge produziert hat und anschließend das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert hat, aber Asylsuchende wie Straftäter/-innen auf Bewährung behandelt", sagt Aras 2018 in einer Rede. Es sind diese Absurditäten, mit denen er versucht, leben zu lernen. Am Ende siegt die Hoffnung, aber erst als er selbst zum Akteur wird, ins Handeln kommt und auf einer Seenotrettungsmission anheuert. Erst da übt die Angst in seinem Körper keine Diktatur mehr aus. AMIRA EL AHL
Luna Ali: "Da waren Tage". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 304 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main