Eine neue Geschichte des Sports – aus der Sicht all derjenigen, die bis heute ausgegrenzt werden
Was wir heute Sport nennen, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einer weißen männlichen Elite erfunden: Gentlemen gründeten Clubs und Ligen, Leistungen wurden in Zentimeter oder Sekunden gemessen. Die Olympischen Spiele feierten das Motto »Dabei sein ist alles« und schlossen doch viele Gruppen aus. Sie mussten in den vergangenen hundert Jahren um ihr Mitmachen hart kämpfen, zum Teil müssen sie es bis heute: Frauen, Schwarze Menschen und andere People of Color, Juden oder Muslime, Menschen mit Behinderung oder Queere. Martin Krauss erzählt die Geschichte des Sports aus ihrer Perspektive: etwa vom ersten afrikanischen Boxweltmeister Battling Siki; von Alfonsina Strada, der einzigen Frau, die jemals den Giro d’Italia mitfuhren durfte; oder vom Kampf der Südafrikanerin Caster Semenya, der intersexuellen Olympiasiegerin, gegen ihre Diskriminierung 2023. Ein ebenso augenöffnendes wie aufrüttelndes Buch, das unser Bild vom Sport nachhaltig verändern wird.
Was wir heute Sport nennen, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von einer weißen männlichen Elite erfunden: Gentlemen gründeten Clubs und Ligen, Leistungen wurden in Zentimeter oder Sekunden gemessen. Die Olympischen Spiele feierten das Motto »Dabei sein ist alles« und schlossen doch viele Gruppen aus. Sie mussten in den vergangenen hundert Jahren um ihr Mitmachen hart kämpfen, zum Teil müssen sie es bis heute: Frauen, Schwarze Menschen und andere People of Color, Juden oder Muslime, Menschen mit Behinderung oder Queere. Martin Krauss erzählt die Geschichte des Sports aus ihrer Perspektive: etwa vom ersten afrikanischen Boxweltmeister Battling Siki; von Alfonsina Strada, der einzigen Frau, die jemals den Giro d’Italia mitfuhren durfte; oder vom Kampf der Südafrikanerin Caster Semenya, der intersexuellen Olympiasiegerin, gegen ihre Diskriminierung 2023. Ein ebenso augenöffnendes wie aufrüttelndes Buch, das unser Bild vom Sport nachhaltig verändern wird.
»Man könnte Martin Krauss einen großen Desillusionisten nennen. Er identifiziert kollektive, aber weitgehend unterkannte Vorstellungen vom Sport als Trugbilder.« Neue Zürcher Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2024Noch lange nicht am Ziel
Mit seinem Buch "Dabei sein wäre alles" leistet der Autor Martin Krauss Pionierarbeit im Sport
Sportbücher für das allgemeine Lesepublikum teilen sich gewöhnlich in zwei Genres auf. Da gibt es auf der einen Seite die Chronik, die große Sportereignisse oder Epochen eines Sports nacherzählt. Und dann gibt es die Heldenbiographie. Thematische Sachbücher, die etwa soziokulturelle Entwicklungslinien im Sport aufdecken, sucht man in den Regalen der Buchhandelsketten von wenigen Ausnahmen abgesehen vergeblich.
Das neue Werk des Berliner Journalisten Martin Krauss, "Dabei sein wäre alles", ist da eine ebenso erfrischende wie rühmliche Ausnahme. Krauss hat das überaus ambitionierte Projekt auf sich genommen, eine alternative Geschichte des modernen Sports zu schreiben - von den Tagen der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Sein Augenmerk gilt dabei ganz im Sinne der seit den Sechzigerjahren dominanten Historiographie den Machtstrukturen, die den Sport bestimmen und prägen.
Dabei herausgekommen ist eine Geschichte des Sports als Geschichte der Exklusion - oder, was auf dasselbe hinausläuft - des Kampfes um Inklusion. Krauss beschreibt, wie das Kulturphänomen Sport, in der Aufklärung als eine überaus demokratische Veranstaltung gedacht, im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer exklusiven Tätigkeit der herrschenden Klassen wurde - in diesem Fall des zumeist männlichen und weißen Bürgertums. Und wie im zweiten Schritt, im 20. Jahrhundert, alle ausgegrenzten Gruppen - Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, seelisch und geistig eingeschränkte Personen, Homosexuelle und Transpersonen - sich das Recht zum Mitmachen wieder zurückerobern mussten. Oder, besser gesagt, müssen, denn der Kampf ist, wie Krauss belegt, noch lange nicht zu Ende.
Man kennt derartige Narrative mittlerweile aus vielen gesellschaftlichen Bereichen: aus der Politik, der Kultur, der Wissenschaft und der Wirtschaft. Gerade im angelsächsischen Raum wird heutzutage beinahe schon rituell zelebriert, wenn eine Angehörige einer Minderheit zum ersten Mal in Bereiche vorstößt, die dieser vorher versperrt waren: der erste schwarze Präsident, die erste weibliche Astronautin, die erste Transperson in einer Hauptrolle in einem Hollywoodfilm, das erste offen homosexuelle Mitglied der Bundesregierung. Der Sport hinkt in dieser Hinsicht jedoch noch immer hinterher, das Bewusstsein für die Mechanismen der Ausgrenzung, ja das Bewusstsein dafür, dass Ausgrenzung überhaupt stattfindet, ist deutlich unterentwickelt. In dieser Hinsicht leistet Martin Krauss Pionierarbeit.
Eine verbissene Anklage der Unterdrückung aus Sicht der Unterdrückten ist das Buch nicht. Die große Stärke des Werkes liegt, neben dem neuartigen Blickwinkel, in der Fülle an unbekannten und unerzählten Sportgeschichten, die Krauss in sieben Jahre langer Recherchearbeit zusammengetragen hat. Da ist etwa die phantastische Story des Pedestrianisten Carlo Airoldi, der 1896 im damaligen Stil des wechselweisen Joggens und Gehens in 28 Tagen von Mailand nach Athen lief. Nur um sich dann vom Kronprinzen Konstantin, dem Chef des Organisationskomitees der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, sagen lassen zu müssen, dass er als Profi nicht am olympischen Marathon teilnehmen dürfe. Airoldi hatte für ein Etappenrennen von Turin nach Barcelona ein Preisgeld erhalten.
Es ist eine der ersten Überlieferungen von der Anwendung des Amateurparagraphen im olympischen Sport, der, wie Krauss argumentiert, vor allem dazu diente, die Arbeiterschichten aus dem offiziellen Sport auszugrenzen. Athleten aus der Arbeiterschicht waren darauf angewiesen, mit dem Sport Geld zu verdienen, der Amateurstatus war ein Luxus der Leisure Class. Daraus entstand wiederum, wie Krauss detailliert und lebendig beschreibt, die Arbeitersportbewegung, die nicht nur Preisgelder erlaubte, sondern mitunter eine andere Auffassung des Sporttreibens vertrat als die bürgerliche olympische Bewegung - weniger leistungs- und mehr gemeinschaftsorientiert.
An derlei historischen Leckerbissen ist das 400-Seiten-Werk überaus reich. So liest man auch gerne die Geschichte der unbeugsamen Alfonsina Strada, die es sich nicht nehmen lassen wollte, 1924 am Giro d'Italia der Männer teilzunehmen, weil es Radrennen dieser Kategorie für Frauen damals nicht gab. Am Ende konnte nicht einmal Mussolini umhin, die ungeheuer populäre, tapfere Frau zu ehren, obwohl sie dem faschistischen Bild der Frau am Herd widersprach. So, wie sich Frauen überhaupt das Radfahren, aber auch das Wandern und das Laufen aneigneten, um aus der häuslichen Sphäre auszubrechen und in den öffentlichen Raum zu drängen.
Das Buch hat Hunderte solcher Geschichten zu bieten, von senegalesischen Schwimmern, unterschenkelamputierten Bergsteigern, jüdischen Hochspringerinnen und Sinti auf dem Fußballplatz - von denen, so eine der vielen überraschenden Entdeckungen, Gerd Müller möglicherweise einer war. Gemeinsam haben sie alle eines - sie wollten mitmachen und ließen sich das von niemandem verbieten.
Das Buch endet mit einer gleichermaßen ernüchternden wie hoffnungsvollen Botschaft: Es ist viel erreicht worden, aber wir leben immer noch in einer Zeit, in der Rassismus und Homophobie in vielen Sportarten an der Tagesordnung sind, in der Frauen noch immer um gleiche Anerkennung und gleiche Bezahlung streiten müssen und in der Transpersonen erbittert darum kämpfen müssen, überhaupt einen Platz im Sport zu finden.
Wenn man dem Buch etwas vorwerfen möchte, dann vielleicht, dass Krauss etwas zu viel gesammelt hat. Unter der Vielzahl der Geschichten geht bisweilen die Kraft der einzelnen verloren. Das vermag jedoch nicht die Botschaft zu verwässern, die Krauss überzeugend vorträgt: Je inklusiver, demokratischer und bunter der Sport ist, desto besser ist er - sowohl als gesellschaftliche Kraft als auch als reine Unterhaltung. Darum lohnt es sich weiterhin zu kämpfen. SEBASTIAN MOLL
Besprochenes Buch: Martin Krauss: Dabei sein wäre alles. Verlag Random House, 2024, 448 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Mit seinem Buch "Dabei sein wäre alles" leistet der Autor Martin Krauss Pionierarbeit im Sport
Sportbücher für das allgemeine Lesepublikum teilen sich gewöhnlich in zwei Genres auf. Da gibt es auf der einen Seite die Chronik, die große Sportereignisse oder Epochen eines Sports nacherzählt. Und dann gibt es die Heldenbiographie. Thematische Sachbücher, die etwa soziokulturelle Entwicklungslinien im Sport aufdecken, sucht man in den Regalen der Buchhandelsketten von wenigen Ausnahmen abgesehen vergeblich.
Das neue Werk des Berliner Journalisten Martin Krauss, "Dabei sein wäre alles", ist da eine ebenso erfrischende wie rühmliche Ausnahme. Krauss hat das überaus ambitionierte Projekt auf sich genommen, eine alternative Geschichte des modernen Sports zu schreiben - von den Tagen der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Sein Augenmerk gilt dabei ganz im Sinne der seit den Sechzigerjahren dominanten Historiographie den Machtstrukturen, die den Sport bestimmen und prägen.
Dabei herausgekommen ist eine Geschichte des Sports als Geschichte der Exklusion - oder, was auf dasselbe hinausläuft - des Kampfes um Inklusion. Krauss beschreibt, wie das Kulturphänomen Sport, in der Aufklärung als eine überaus demokratische Veranstaltung gedacht, im 19. Jahrhundert zunehmend zu einer exklusiven Tätigkeit der herrschenden Klassen wurde - in diesem Fall des zumeist männlichen und weißen Bürgertums. Und wie im zweiten Schritt, im 20. Jahrhundert, alle ausgegrenzten Gruppen - Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, seelisch und geistig eingeschränkte Personen, Homosexuelle und Transpersonen - sich das Recht zum Mitmachen wieder zurückerobern mussten. Oder, besser gesagt, müssen, denn der Kampf ist, wie Krauss belegt, noch lange nicht zu Ende.
Man kennt derartige Narrative mittlerweile aus vielen gesellschaftlichen Bereichen: aus der Politik, der Kultur, der Wissenschaft und der Wirtschaft. Gerade im angelsächsischen Raum wird heutzutage beinahe schon rituell zelebriert, wenn eine Angehörige einer Minderheit zum ersten Mal in Bereiche vorstößt, die dieser vorher versperrt waren: der erste schwarze Präsident, die erste weibliche Astronautin, die erste Transperson in einer Hauptrolle in einem Hollywoodfilm, das erste offen homosexuelle Mitglied der Bundesregierung. Der Sport hinkt in dieser Hinsicht jedoch noch immer hinterher, das Bewusstsein für die Mechanismen der Ausgrenzung, ja das Bewusstsein dafür, dass Ausgrenzung überhaupt stattfindet, ist deutlich unterentwickelt. In dieser Hinsicht leistet Martin Krauss Pionierarbeit.
Eine verbissene Anklage der Unterdrückung aus Sicht der Unterdrückten ist das Buch nicht. Die große Stärke des Werkes liegt, neben dem neuartigen Blickwinkel, in der Fülle an unbekannten und unerzählten Sportgeschichten, die Krauss in sieben Jahre langer Recherchearbeit zusammengetragen hat. Da ist etwa die phantastische Story des Pedestrianisten Carlo Airoldi, der 1896 im damaligen Stil des wechselweisen Joggens und Gehens in 28 Tagen von Mailand nach Athen lief. Nur um sich dann vom Kronprinzen Konstantin, dem Chef des Organisationskomitees der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, sagen lassen zu müssen, dass er als Profi nicht am olympischen Marathon teilnehmen dürfe. Airoldi hatte für ein Etappenrennen von Turin nach Barcelona ein Preisgeld erhalten.
Es ist eine der ersten Überlieferungen von der Anwendung des Amateurparagraphen im olympischen Sport, der, wie Krauss argumentiert, vor allem dazu diente, die Arbeiterschichten aus dem offiziellen Sport auszugrenzen. Athleten aus der Arbeiterschicht waren darauf angewiesen, mit dem Sport Geld zu verdienen, der Amateurstatus war ein Luxus der Leisure Class. Daraus entstand wiederum, wie Krauss detailliert und lebendig beschreibt, die Arbeitersportbewegung, die nicht nur Preisgelder erlaubte, sondern mitunter eine andere Auffassung des Sporttreibens vertrat als die bürgerliche olympische Bewegung - weniger leistungs- und mehr gemeinschaftsorientiert.
An derlei historischen Leckerbissen ist das 400-Seiten-Werk überaus reich. So liest man auch gerne die Geschichte der unbeugsamen Alfonsina Strada, die es sich nicht nehmen lassen wollte, 1924 am Giro d'Italia der Männer teilzunehmen, weil es Radrennen dieser Kategorie für Frauen damals nicht gab. Am Ende konnte nicht einmal Mussolini umhin, die ungeheuer populäre, tapfere Frau zu ehren, obwohl sie dem faschistischen Bild der Frau am Herd widersprach. So, wie sich Frauen überhaupt das Radfahren, aber auch das Wandern und das Laufen aneigneten, um aus der häuslichen Sphäre auszubrechen und in den öffentlichen Raum zu drängen.
Das Buch hat Hunderte solcher Geschichten zu bieten, von senegalesischen Schwimmern, unterschenkelamputierten Bergsteigern, jüdischen Hochspringerinnen und Sinti auf dem Fußballplatz - von denen, so eine der vielen überraschenden Entdeckungen, Gerd Müller möglicherweise einer war. Gemeinsam haben sie alle eines - sie wollten mitmachen und ließen sich das von niemandem verbieten.
Das Buch endet mit einer gleichermaßen ernüchternden wie hoffnungsvollen Botschaft: Es ist viel erreicht worden, aber wir leben immer noch in einer Zeit, in der Rassismus und Homophobie in vielen Sportarten an der Tagesordnung sind, in der Frauen noch immer um gleiche Anerkennung und gleiche Bezahlung streiten müssen und in der Transpersonen erbittert darum kämpfen müssen, überhaupt einen Platz im Sport zu finden.
Wenn man dem Buch etwas vorwerfen möchte, dann vielleicht, dass Krauss etwas zu viel gesammelt hat. Unter der Vielzahl der Geschichten geht bisweilen die Kraft der einzelnen verloren. Das vermag jedoch nicht die Botschaft zu verwässern, die Krauss überzeugend vorträgt: Je inklusiver, demokratischer und bunter der Sport ist, desto besser ist er - sowohl als gesellschaftliche Kraft als auch als reine Unterhaltung. Darum lohnt es sich weiterhin zu kämpfen. SEBASTIAN MOLL
Besprochenes Buch: Martin Krauss: Dabei sein wäre alles. Verlag Random House, 2024, 448 Seiten, 28 Euro.
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