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Wer spricht, wenn einer von früher erzählt? Das fragt sich ein Autor in dem kleinen Hotel am Meer, in dem seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbracht hatten, die letzten vor ihrer Trennung. Er bewohnt das Zimmer, das sie bewohnt haben, und schreibt dort an der Geschichte seiner frühen Jahre, erzählt sie mit der Distanz des Schriftstellers als eine auch fremde Geschichte: Er greift zu den Mitteln und Freiheiten des Romans, um der Geschichte seiner Sexualität, die zugleich die Geschichte seines beginnenden Schreibens ist, einen Rahmen zu geben, eine Lebenslegende, die doch nah an der…mehr

Produktbeschreibung
Wer spricht, wenn einer von früher erzählt? Das fragt sich ein Autor in dem kleinen Hotel am Meer, in dem seine Eltern vor Jahrzehnten glückliche Tage verbracht hatten, die letzten vor ihrer Trennung. Er bewohnt das Zimmer, das sie bewohnt haben, und schreibt dort an der Geschichte seiner frühen Jahre, erzählt sie mit der Distanz des Schriftstellers als eine auch fremde Geschichte: Er greift zu den Mitteln und Freiheiten des Romans, um der Geschichte seiner Sexualität, die zugleich die Geschichte seines beginnenden Schreibens ist, einen Rahmen zu geben, eine Lebenslegende, die doch nah an der eigenen schmerzlichen Wahrheit bleibt, zu der auch die gescheiterte Ehe seiner Eltern gehört. Der Krieg hat die Eltern zusammengewürfelt, die junge Schauspielerin aus Wien und den talentierten Kriegsheimkehrer mit verlorenem Bein aus Hannover, der vor dem Nichts stand. Alles, was sie wollen, ist der Enge ihrer Zeit entfliehen, jeder auf seine Art, daran zerbricht ihre Ehe. Der kleine Sohn kommt ins Internat, ein Drama der Details nimmt seinen Lauf, jenseits aller verstehenden Sprache auf einer Klinge aus so beklemmender wie betörender Gewalt. In seinem großen autobiografischen Roman "Dämmer und Aufruhr" dringt Kirchhoff mit starken Erinnerungsbildern und großem erzählerischen Atem in die Tiefen des eigenen Abgrunds vor. Dabei erzählt er vom Eros einer Kindheit und Jugend, davon, wie Wörter zu Worten wurden und daraus schließlich das eigene Schreiben, der Weg hin zur Literatur. "Wenige Tage vor seinem Geburtstag erscheint nun sein vielleicht wichtigstes Buch [...] Es enthält das gesamte Ausgangsmaterial eines altersweise gestimmten Formulierungskünstlers [...]. In seinen sorgfältig gemeißelten Sätzen über die Eltern, die ihre Kinder sich selbst überlassen haben und selber Verlorene waren, liegt etwas Feierliches, stolz Vergebliches und streng Überformuliertes, das an den längst verflogenen Suhrkamp-Weihrauch erinnert, ganz wunderbar ist und melancholisch macht." Iris Radisch, Die ZEIT
Autorenporträt
Bodo Kirchhoff, geboren 1948, lebt in Frankfurt am Main und am Gardasee. Nach seinen von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeierten Romanen "Die Liebe in groben Zügen" (FVA 2012) und "Verlangen und Melancholie" (FVA 2014) wurde Kirchhoff für seine Novelle "Widerfahrnis" (FVA 2016), die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, mit dem Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres ausgezeichnet und erhielt in China den Preis für das beste ausländische Buch des Jahres 2017. Das Gesamtwerk Bodo Kirchhoffs erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt.
Rezensionen
Judith von Sternburg lernt bei Bodo Kirchhoff einmal mehr, dass Schreiben das Gegenteil von Erfinden und Lügen ist. Wie der nun siebzigjährige Kirchhoff hier die Geschichte seiner Schriftstellerwerdung aufschreibt, findet die Rezensentin weder besonders sympathisch noch souverän. Aber so ist es, stellt sie fest und entdeckt auch nicht ein uninteressantes Detail, wenn der Autor unvergessliche Szenen aus seiner Kindheit und Jugend rekonstruiert, aus Internats- und Frankfurter Bohemetagen, von der Mutter und vom Missbrauch durch einen Lehrer, akribisch genau, chronologisch und doch auch erdacht. Kirchhoffs (Un-)Sittenbild findet sie manchmal peinlich, immer erstaunlich, vor allem, da Kirchhoff für all das die Sprache gefunden hat.

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.06.2018

Im Internat
Ungut ödipal: In dem Roman „Dämmer und Aufruhr“ erzählt
Bodo Kirchhoff von Jugend, Familie, sexuellem Missbrauch
VON BURKHARD MÜLLER
An Coming-of-Age-Romanen, die berichten, wie einer, aus dem später mal ein Schriftsteller werden soll, aufwuchs, und wie die beengenden Umstände seiner Kindheit und Jugend beschaffen waren, herrscht in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht gerade ein Mangel. Ja, es kann einem manchmal zu viel werden, denn die soziale Herkunftsbasis des deutschen Autorenstands erweist sich insgesamt als doch recht schmal, und die Umstände haben darum miteinander oft große Ähnlichkeit. Selbst das Intime und Besondere läuft oft auf das Gleiche hinaus. Man wünscht sich dann, die Bekenner hätten sich lieber selbst was ausgedacht, statt das eigene Leben als Steinbruch zu verwenden, aus dessen Material sie ihr Werk errichten.
Das Erinnerungsbuch von Bodo Kirchhoff ist anders; man hört ihm gern zu, in seinen ersten zwei Dritteln wenigstens, worin es um jene Epochen des Lebens geht, in denen die Gesellschaft noch weit weg und stattdessen die Familie absolutes Schicksal ist. Ein Kind hat keine Wahl: Das macht die Liebe, die es erfährt und von der es abhängt, zu etwas grausam Übermächtigem. Von solcher monströsen Liebe handelt Kirchhoffs Buch „Dämmer und Aufruhr – Roman der Frühen Jahre“.
Der Titel klingt nach Thomas Manns „Unordnung und Frühes Leid“; aber es geht darüber schon im Titel hörbar hinaus. Mann hatte den olympischen Standpunkt des allwissenden Vaters bezogen, der lächelnd den Seelentumulten der lieben Kleinen zusah. Kirchhoff begeht, obwohl das gewiss naheläge, nun aber keineswegs den entgegengesetzten Fehlgriff, sich mit der Stimme des erst kleineren und dann größeren Kindes zu äußern, das er war. Er zieht drei Zeit-Stockwerke in sein Werksgebäude ein: erstens das Damals, als ihm all dies zustieß, zweitens die Besuche bei der hochbetagten (und inzwischen verstorbenen) Mutter und drittens die Gegenwart, in der das Buch entsteht. Um es zu schreiben, ist der Erzähler nach Alassio an der Riviera gefahren, wo seine Eltern einst, in den späten Fünfzigern, Urlaub gemacht haben, einen Urlaub voller Seligkeit, wenn er den Aufzeichnungen seiner Mutter Glauben schenken darf; einen Urlaub allerdings ohne ihren Sohn.
Dieses Ohne-Ihn ist ein Schmerz, der als solcher nur gelegentlich zur Sprache kommt, aber das ganze Buch grundiert und ihm seine emotionale Kraft verleiht. Dass gerade, was nicht da ist, stärker wirkt als das Vorhandene, dafür hat Kirchhoff das Bild am kriegsversehrten Vater gefunden, der ständig Medikamente braucht, um die Phantomschmerzen in seinem abgesägten Bein zu betäuben. Die Ehe der Eltern, geschlossen im Zeichen der Nachkriegsnot, der seelischen wie der materiellen, hat sich innerlich längst aufgelöst. Vater und Mutter wohnen in verschiedenen Städten, der Vater hat eine Neue und Jüngere, die Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, die zu theatralischen Szenen neigt, will es nicht wahrhaben. Für die beiden Kinder kommen sie noch immer sporadisch zusammen und spielen zu viert eine Komödie der heilen Welt: nervös der Vater, die Mutter mit einer Inständigkeit, die der Sohn noch Jahrzehnte später kaum ertragen kann. Wenn sie und der Sohn in den Ferien zusammen sind, besteht ein, vorsichtig ausgedrückt, ungut ödipales Verhältnis zwischen ihnen; der Sohn darf den nackten mütterlichen Körper massieren und mit einem Bleistift erkunden. Für die kontinuierliche Erziehung aber ist die Großmutter zuständig, die „Hüterin“, wie sie im Buch heißt: die einzige, deren Liebe unvergiftet scheint.
Der Erzähler verlässt sich wie gesagt nicht allein auf seine Erinnerung. Eine zentrale Rolle spielen Fotografien, die geretteten und oft erst später wieder aufgefundenen Bilder eines Augenblicks. Fotos sprechen von dem, was da und doch weg ist, unwiederbringlich, mit einer Beredsamkeit, die erst der Erwachsene begreift. Sie geben die Garantie, dass das, was sie zeigen, wirklich so stattgefunden hat, und ergänzen und korrigieren damit den traumhaften Modus des Gedächtnisses. Natürlich waren sie sämtlich gestellt, denn Fotografieren bedeutete in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch eine Veranstaltung, an der alle Beteiligten aktiv mitwirken mussten. So verrät sich der morsche Kern des dokumentierten Glücks: Es soll festgehalten werden, was sich nicht halten lässt. Was ist hier eigentlich zu sehen? Zum Beispiel das Folgende (die Rede ist von der Mutter, das Datum der 31. Dezember 1959):
„Eine junge, erwartungsvolle Frau präsentiert in einem bescheiden eingerichteten Wohnzimmer einen weit weniger bescheidenen Mantel und sich selbst gleich mit. Der Mantelkragen ist männlich aufgestellt, die auseinandergehaltenen Schöße geben den Blick auf ein Abendkleid frei, auf eine weibliche Bereitschaft zu irdischen Dingen, die noch nicht feststehen, aber schon in der Luft liegen. (…) Eine Übermütige in der ersten Stunde des neuen Jahrzehnts, jener Sechziger, die mit ihrem wachsenden Eigenschwung – frecher Mode und einer neuen Musik aus der Hüfte, neuen Zeichen an der Stelle alter Symbole, all dem kindlich Bunten, wo vorher nur Grau war, und einer aufsässigen, erstmals globalen Sprache – am Ende alles Verstaubte, Verklebte, noch immer Geduckte und dumpf Gemütliche einer verschleppten Nachkriegszeit aufgewirbelt haben. Und eine leise Ahnung davon spricht aus diesem Schnappschuss oder frühem Modelshot in Schwarzweiß, Frau in offenem Mantel mit Zigarette; interessant ist nicht das Bild, das an einen Silvesterabend erinnert, nicht das Foto als Stütze einer Rückbesinnung, sondern die zukunftweisenden Details darin.“
Die Mutter ist damals Mitte dreißig, nicht mehr an der Speerspitze der Jugend, aber noch jung genug, in ihrer ganzen Gestalt sich dem vorerst höchst unbestimmten Neuen zu öffnen oder doch ihm Folge zu leisten. So stellt der wehmütige, der verlustbeladene späte Blick des Sohns die Verbindung zwischen der geliebten Mutter und dem Zeitgeist her: indem er ihrer Sehnsucht inne wird, an den deutlichen, aber bislang ungedeuteten Zeichen, die dieses Bild von ihr in sich trägt.
Als er alt genug ist, wird der Sohn in ein Internat am Bodensee gesteckt, wie alle derartigen Einrichtungen ein Hort der Kälte, wo die Liebe nur in verbotenen und verbogenen Formen gedeiht. Auf diese Internatsgeschichte war man am meisten gespannt; denn schon vorher hatte Kirchhoff öffentlich davon gesprochen, dass die sexuellen Übergriffe, wie sie damals in vielen derartigen Anstalten an der Tagesordnung waren, auch ihn betroffen hätten. Täter war der Kantor Herr Gieser, der sich den schönen Jungen ausersehen hat; es handelt sich zweifellos um einen üblen Manipulator.
Aber der Erzähler schildert den Vorgang nicht als etwas, das ihm bloß passiv zustieß; auch er war emotional beteiligt, ja bedürftig. Und habe ihm der Lehrer nicht auch etwas zurückgegeben dafür, seine Neigung, seine Kunst?
Der Leser steht zwiespältig vor dieser Erzählung – besonders, wenn er erfährt, dass das eigentliche Trauma für den Zwölfjährigen nicht in den sexuellen Handlungen selbst bestand, sondern in der schockhaften Erkenntnis, dass Herr Gieser außer ihm noch andere Knaben hatte, also ihm untreu war.
Der Umgang mit dem Kantor blockiert für jenes Halbkind, das abwechselnd „ich“ und „er“genannt wird, jedenfalls nicht die Begegnungen mit Mädchen und Frauen, wofür das Schilf am Bodensee schuldig-unschuldige Gelegenheiten bereit hält. Auch die blumig-verklemmte Sprache, zu der Kirchhoff hier öfters greift, etwa wenn er einen Phallus als „pochendes Prallen“ bezeichnet, bereichert das zeittypische Kolorit: das Peinliche passt.
Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr. Roman der Frühen Jahre. Frankfurter Verlagsanstalt 2018, 464 Seiten, 28 Euro.
Ohne den Erzähler war die
Mutter am frohsten – dieser
Schmerz grundiert das Buch
In den Ferien darf der Sohn
den nackten mütterlichen
Körper massieren
Der Schock war nicht der
Missbrauch, sondern dass der
Kantor andere Jungen hatte
Der neue Roman ist da, der 70. Geburtstag steht vor der Tür: der Schriftsteller Bodo Kirchhoff
Foto: imago/Leemage
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2018

Von jetzt an seid ihr alle Hühner!

In seinem meisterlichen Roman "Dämmer und Aufruhr" geht Bodo Kirchhoff den eigenen Erinnerungen auf den Grund.

Ein Junge gräbt ein Loch. Nicht weil er, wie einst in "Tom Sawyer" beschrieben, ein altersgerechtes Verlangen danach hat, einen verborgenen Schatz zu finden. Der Zehnjährige gräbt sich im Schutz eines Schuppendachs tagelang zäh in den Boden hinein, "um darin zu verschwinden, und je tiefer es wird, je mehr ausgehobenes Erdreich sich daneben häuft, desto mehr ist es sein Loch". Als die Eltern - der Vater ist Unternehmer, die Mutter Schauspielerin und künftige Romanautorin - schließlich auf das Treiben des Jungen, der bereits im Grundwasser steht, aufmerksam werden, muss das Kind sein Loch wieder zuschütten, dafür verspricht man ihm zu Weihnachten ein Luftgewehr.

Die naheliegende Frage aber, warum er sich eigentlich vor allen Augen verbergen wollte, wird dem Jungen nicht gestellt. Und auch im weiteren Verlauf von Bodo Kirchhoffs autobiographisch grundiertem Roman "Dämmer und Aufruhr" ist bei allem, was dem Kind noch zustoßen wird, und bei allem, was es sich und anderen zufügt, das Ausbleiben solcher Fragen der Eltern ebenso symptomatisch wie erschreckend: Der Knabe, der junge Mann, der namenlose Protagonist also, der im Mittelpunkt dieses Romans steht, ist trotz seiner zum Teil intensiven und langandauernden Erlebnisse mit den Familienangehörigen zutiefst einsam. Und wenn er immer wieder betont, wie sehr er es selbst auf diese Isolation angelegt habe, wie er geradezu stolz auf den "Abstand, der sich zwischen ihm und der Welt errichten lässt", gewesen sei, dann glaubt man ihm das sogar. Und sucht zugleich umso aufmerksamer nach den Gründen, die der Erzähler offen und verdeckt anbietet, um diese Disposition zu erklären.

Drei Ebenen errichtet Bodo Kirchhoff in seinem Roman: Die eine ist der Geschichte des Heranwachsenden gewidmet und spielt zwischen 1952, als Protagonist wie Autor jeweils vier Jahre alt sind, und den späten Siebzigern. Die zweite gehört dem erinnernden Autor, der sich nach dem Tod beider Eltern zum Schreiben in ein Hotel an der ligurischen Küste zurückgezogen hat - es handelt sich offenbar um einen der letztvergangenen Sommer. Die dritte Ebene schließlich, zeitlich zwischen den beiden anderen liegend, schildert die Begegnungen zwischen Mutter und Sohn in einer betreuten Wohnanlage, in der die hochbetagte Mutter ihre letzten Jahre verbringt - eine Erzählstruktur, die sich als äußerst fruchtbar erweist, wenn sie sich anschickt, Schicht um Schicht freizulegen, um zu den längst vergangenen Geschehnissen zu gelangen, und die zugleich mit leichter Hand das Problematische dieses Verfahrens darstellt.

"Roman der frühen Jahre", der Untertitel des Buchs, scheint zunächst nur auf die erste Ebene zu passen, schließlich sind die beiden anderen ja ausdrücklich den späten Jahren des Protagonisten vorbehalten. Tatsächlich beginnt hier eine Geschichte, die ohne die vorausgegangenen Kriegs- und Nachkriegsjahre, die Ereignisse also vor der Geburt des Erzählers, gar nicht verständlich wäre, jedenfalls nicht für ihn selbst. Er schildert die Eltern als Versehrte: den Vater, der als Soldat ein Bein eingebüßt hat, und die Mutter, die unter dem Verlust ihres Vaters ebenso wie unter dem Verlust des ersten Verlobten leidet - das Zusammentreffen seiner späteren Eltern ist dann auch aus dieser Perspektive einem Verkuppelungsmanöver geschuldet. Der vierjährige Sohn muss bald anstelle des selbst in der Urlaubszeit häufig abwesenden Vaters als "Sommerkavalier" der Mutter dienen, er ist das verhätschelte, den anderen Feriengästen präsentierte Kind, das in der Mittagszeit im Pensionszimmer den Körper der dösenden Mutter erforscht - ihm seien die Augen "früh geöffnet worden", sagt der altgewordene Erzähler über sein Verhältnis zur Mutter.

Andere Episoden aus dieser Zeit schildern die Großmutter und deren Freundinnen, die amüsiert, ja geradezu begeistert zusehen, wie sich der Junge vor ihnen präsentiert, wie er auf dem Flügel tanzt und von dort auf den Boden uriniert, und nicht selten lässt man das Kind an Bier oder Eierlikör nippen. Zugleich aber räumt man ihm dabei eine kindliche Gewalt über die applaudierenden Erwachsenen ein, die in einem Erinnerungsbild vom vierten Geburtstag kulminiert: Das Kind, das gerade einen Zauberkasten geschenkt bekommen hat, richtet nun im Gasthaus den Stab auf Mutter, Großmutter und Großtante und verwandelt die drei Frauen, "Abrakadabra, in Hennen: drei, die sich im Hennesein überbieten, gackern und flügelhaft die Arme bewegen, zum Erstaunen aller übrigen Gäste."

Die Eltern trennen sich auf ungeheuerliche Weise, indem sie ihren Kindern, dem Knaben und seiner vier Jahre jüngeren Schwester, die bereits vollzogene Scheidung verheimlichen und im Urlaub die heile Familie spielen. Der Junge wird ins Internat geschickt, wo ihn ein Lehrer missbraucht. Kirchhoff hat darüber mehrfach geschrieben und ähnliche Szenen auch in anderen literarischen Texten dargestellt; in diesem Roman aber ist das Verbrechen an dem Kind eingebettet in eine Reihe von Hinweisen auf die Einsamkeit des Jungen, auf seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit und darauf, wie der Lehrer, der ihn gern "Schönerdu" nennt, das erkennt und ausnutzt - umgekehrt wird der Lehrer hartnäckig "Herr Gieser" genannt, denn an dem Machtgefälle ändert sich nichts.

Später wird sich der Junge selbst verletzen, er wird sich in eigenen Bildern und Texten mit Kindern auseinandersetzen, denen man Schlimmes angetan hat, und er wird Gleichaltrige verführen, mit Techniken, die er an sich selbst erfahren hat: "Erst gilt es, die Bedenken zu zerstreuen, dann ihn mittun zu lassen, und schließlich mit ihm zu tun, was man will, bis er selbst nichts anderes mehr will." Der Erzähler sammelt im Frankfurter Bahnhofsviertel erste heterosexuelle Erfahrungen, er lebt als Student im Ostend der Stadt und beschreibt fasziniert auch den Umbruch in Frankfurt, die massive Bautätigkeit, das Nebeneinander von Ruinen und Hochhäusern.

Man spürt, wie der altgewordene Erzähler, der "alles zu früh mit dem Körper Geschehene" reflektiert, um diese Erinnerungen ringt, ihnen misstraut und weitere Instanzen sucht, um sie zu bestätigen oder zu verwerfen. Wie aus diesem Ringen eine fortlaufende Geschichte wird, ist ein weiteres Thema des Romans. Zum Schreiben hat sich der nun knapp Siebzigjährige - Kirchhoff selbst wird diesen Geburtstag am morgigen Freitag feiern - in ein Hotel zurückgezogen, in dem seine Eltern kurz vor ihrer Trennung noch einmal einen gemeinsamen Urlaub verbrachten, in dem sie, wie der Erzähler glaubt, ein letztes Mal miteinander glücklich gewesen sind, und er wählt mit Bedacht das Zimmer, von dem er glaubt, dass es damals auch seine Eltern bewohnten. Mitgebracht hat er Bücher, die er mehr als fünfzig Jahre zuvor im Internat gelesen hat und die ihn nun an die Freundschaft zu einem Mitschüler erinnern, mit dem er nächtelang darüber diskutierte. Ebenfalls im Gepäck hat er Fotos aus seiner Kindheit, die er für sich und den Leser beschreibt, auslegt und neuerlich in Frage stellt, was ihre Bedeutung als Zeugnis für eine versunkene Existenz angeht, die - auch das ist Thema des Buchs - zugleich schmerzlich nachwirkt, bis in die Gegenwart des Erzählers. Er spricht distanziert von "dem Kind" oder "dem Jungen", dann wieder sagt er "ich", und die Beschreibung des Protagonisten von außen hat nichts mit dem gewachsenen zeitlichen Abstand zu tun: Auch in den Szenen, die ihn mit der greisenhaften Mutter zeigen, spricht er von dem "alten Sohn" an ihrer Seite.

Denn das ist das geheime Zentrum des Romans: die Zeit, die der längst als Schriftsteller etablierte Sohn mit der Mutter verbringt, rücksichtsvoll bis zur Verzweiflung über die immer noch sehr bestimmte Greisin, dabei immer die eigene Erinnerung mit ihrer abgleichend, im Versuch eines Gesprächs, das oft genug scheitert, oder später beim Lesen ihrer Aufzeichnungen. Wird sie gefragt, weicht sie gern aus, spricht er überdeutlich seine Kindheitsnöte an, geht sie nicht darauf ein oder allenfalls so, dass sich nichts weiter daraus entwickeln kann. So fragt sie einmal spät und pflichtschuldig, was denn das Schlimme an dieser Finnland-Reise gewesen sei, die er, wie er sagte, als Katastrophe empfunden hätte - und will die Antwort dann nicht hören.

Als der Sohn später die Hefte an sich nimmt, die sie in den Jahren ihrer Ehe mit dem Vater des Erzählers geführt hat, entdeckt er darin nichts als eine dürre, gestelzte Tagebuchstimme, eine "Bühnensprache", aber keine "eigene, begriffene Sprache" - und das von einer Frau, die als Schriftstellerin Evelyn Peters eine Vielzahl von Romanen verfasst hat, die der Sohn allerdings als mehr oder weniger unlesbar charakterisiert.

Kein Zufall, dass Kirchhoff diesen Roman erst nach dem Tod der Mutter schreiben konnte, so wie der Roman "Parlando", der von der vergeblichen Suche nach dem Vater handelt, erst einige Jahre nach dem Tod des Vaters erschienen war. Anders aber als in "Parlando" tritt hier ein Erzähler auf die Bühne, der seine Geschichte souverän, geschmeidig, untergründig bebend und von Trauer durchzogen präsentiert, gerade weil sie vom Bewusstsein getragen wird, dass alle Erinnerung erarbeitet werden will und dass sie trotz aller Anstrengung nur ein Konstrukt ist, das jederzeit relativiert werden kann und wohl auch sollte.

Eine der schönsten Stützen dieses Bewusstseins ist dann ein Plakat, das dem Erzähler geschenkt wird. Es zeigt ein glückliches Paar in der italienischen Urlaubslandschaft der Eltern, und obwohl die Abgebildeten - anders als die Gestalten auf den mitgeführten Fotos - mit Sicherheit nicht die Eltern sind, dient dieses Bild zum Ausgangspunkt einer wundervollen Phantasie über Vater und Mutter als glückliches Paar. Nicht die Erinnerung färbt hier das Bild ein, um es zu interpretieren, sondern das Bild, so scheint es, bringt umgekehrt eine Geschichte hervor, die das Erinnerte bereichert.

Worauf also lässt sich bauen, wenn man seine Geschichte ergründet, um sie zu erzählen? Der Zehnjährige, der das Loch im Scheunenboden wieder zuschütten muss, deponiert dort ein Marmeladenglas mit Erinnerungsstücken, darunter ein selbstgeschriebener Text. Knapp sechzig Jahre später wird er seiner Mutter erfolglos vermitteln, was das Schreiben für ihn sei: "wieder und wieder ein Versuch, aus der eigenen Scheiße Gold zu machen". Liest man diesen Roman, zweifellos Kirchhoffs besten, dann sieht es so aus, als ob der Junge beim tiefen, beharrlichen Graben doch noch einen Schatz gefunden hätte.

TILMAN SPRECKELSEN.

Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr". Roman der frühen Jahre.

Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 28,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Judith von Sternburg lernt bei Bodo Kirchhoff einmal mehr, dass Schreiben das Gegenteil von Erfinden und Lügen ist. Wie der nun siebzigjährige Kirchhoff hier die Geschichte seiner Schriftstellerwerdung aufschreibt, findet die Rezensentin weder besonders sympathisch noch souverän. Aber so ist es, stellt sie fest und entdeckt auch nicht ein uninteressantes Detail, wenn der Autor unvergessliche Szenen aus seiner Kindheit und Jugend rekonstruiert, aus Internats- und Frankfurter Bohemetagen, von der Mutter und vom Missbrauch durch einen Lehrer, akribisch genau, chronologisch und doch auch erdacht. Kirchhoffs (Un-)Sittenbild findet sie manchmal peinlich, immer erstaunlich, vor allem, da Kirchhoff für all das die Sprache gefunden hat.

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