Karlmann will's noch mal wissen. Obwohl in die Jahre gekommen, zählt er sich) keineswegs zum alten Eisen. Jetzt, zu seinem 60sten, lädt er zur großen Sause. Und er zieht Zwischenbilanz, wie eh und je mit süffisantem Eigensinn, frei von Sentimentalität und nach wie vor nicht willens, klein beizugeben.
Das, was sich für ihn wie eine zweite Jugend anfühlt, ist vom Gedanken an Unwiederbringliches überschattet. Doch gegen die Übermacht der Gefühle hat Charly Renn sich schon immer zu wappnen gewusst. Das ist auch bitter nötig. Denn sein Selbstbild wird nicht nur in der Corona-Zeit auf eine harte Probe gestellt, sondern auch in der des Abschiednehmens vom sterbenden Vater und in der Konfrontation mit den eigenen Kindern, die längst ihre eigenen Wege gehen. So nimmt er ein letztes Projekt in Angriff, eins, das ihm noch einmal all seine Steherqualitäten abverlangt. In einer Hamburger Kultureinrichtung wird er zum Aktivisten wider Willen, nur um am Ende festzustellen, dass eine neue, eine völlig andere Zeit angebrochen ist, die nicht mehr viel mit ihm zu tun hat.
Im dritten und letzten Teil der »Karlmann«-Trilogie, die viele Jahrzehnte bundesrepublikanischer Gesellschaft erzählt, zeigt Michael Kleeberg seinen Protagonisten nun im reizvollen Licht der Dämmerung.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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Michael Kleeberg beendet mit "Dämmerung" seine 2007 begonnene Romantrilogie um den Protagonisten Karlmann Renn.
Es braucht sozusagen zwei, um zu altern. Einen Körper, der das automatisch tut, und einen Geist, der sich dazu verhält, indem er sich seinerseits verändert." Das stellt der Erzähler von "Dämmerung" bei der rauschenden Feier des sechzigsten Geburtstags von Charly Renn fest. Altern ist ein großes Thema des dritten und abschließenden Bandes von Michael Kleebergs dreiteiligem Romanprojekt um diesen Karlmann Renn, dessen erster Teil, "Karlmann", 2007 erschien und dem 2014 "Vaterjahre" folgte.
Mit Charly, wie Karlmann Renn von Familie und Freunden genannt wurde, brachte der damals 48 Jahre alte Kleeberg im Jahr 2007 ein zumindest dem Geburtsjahr nach literarisches Alter Ego zur Welt: wie sein Autor 1959 geboren. Kleeberg unterstrich die besondere Nähe zur Hauptfigur durch die Wahl seiner Erzählperspektive: In allen drei Romanen wird Charlys Leben geschildert von einer ihm freundschaftlich gesinnten Instanz, die nicht direkt am Geschehen beteiligt ist, aber stets in Charlys Inneres blicken kann, sich hin und wieder als wohlwollend-wissender, im dritten der drei Teile - Stichwort "Altern" - zunehmend onkeliger Kommentator einschaltet, der die Leser direkt anspricht, dann wieder in den Hintergrund tritt, auf Abstand geht, das Erzählte aber stets kontrollieren und das Geschehen bewerten kann. Die Nähe zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur unterstreicht auch die Widmung des Romans: "Karlmann Renn gewidmet, im Gedenken der gemeinsamen Jahre."
Setzte das Geschehen von "Karlmann" mit dem legendären Wimbledon-Sieg von Boris Becker am 7. Juli 1985 ein, so endet "Dämmerung" mit dem letzten Maitag des Jahres 2022. Kleebergs Trilogie umspannt damit einen Zeitraum von 37 Jahren, erzählt von Charly als Verfallsgeschichte entlang der Zeitgeschichte, zeitweise stark gerafft, dann wieder kleinteilig. Die Handlung in "Dämmerung", dessen Titel man als Anspielung auf Richard Wagners "Götterdämmerung" oder Friedrich Nietzsches "Götzen-Dämmerung" lesen kann, umfasst vier Jahre, in denen der Ausbruch von Corona und der Krieg Russlands gegen die Ukraine als einschneidende Ereignisse auch auf das Leben Charly Renns entscheidend Einfluss nehmen.
Wer einen oder beide der vor "Dämmerung" erschienenen Teile kennt, weiß, dass man es in Charly, dem Sohn aus gutem hanseatischen Haus, mit einem rechtschaffenen Kotzbrocken zu tun hat. Er braucht Frauen, hält es aber, obwohl zunächst lange in der Rolle des Familienvaters, mit keiner der fünf Nachfolgerinnen seiner Gattin lange gut aus. Seinen Aufstieg vom Autohausinhaber zum Geschäftsführer der Hamburger Kautschukfirma Sieveking & Jessen, die ihren Sitz im altehrwürdigen Chile-Haus hat, verdankt er seiner mehr als pragmatischen Gerissenheit. Charly Renn ist der Typus Mann, der Golf, seinen alten Mercedes, teure Uhren und guten Wein liebt, der mit Viagra und Hyaluron seinen fortschreitenden körperlichen Verfall aufzuhalten versucht.
Umwege, die doch konstitutiv für Kultur sind, findet er dagegen meistens lästig. Er ist ein Upperclass-Konformist erster Sorte. Und so sammeln sich denn auch zu seiner Geburtstagsfeier, der ersten von insgesamt drei großen feierlichen Zusammenkünften im Roman "keine Gescheiterten, keine Künstler", auch "keine Politiker, keine Fernsehnasen, kein Olympiasieger, kein Bundesligafußballer", erst recht kein Toskanafraktionär, Drittwelt- oder Klimaaktivist". Die Partygesellschaft besteht aus "Anwälten, Ärzten, Zahnärzten", aus "Immobilienverwaltern, Technikern vom Agrar- bis zum Maschinenbauingenieur. Pharmazeuten, Verwaltungsjuristen, Bankern, Tradern", und unter den Gästen sind auch "Psychologen (die aber alle studierte Ärzte sind, also keine Quacksalber). Versicherungsmathematiker. Informatiker", wie es heißt - und womit sich hier wie im gesamten Roman zeigt, dass Michael Kleebergs Erzähler, anders als Charlys Werdegang, nicht unbedingt geraden Wegen folgt.
Charlys Leben steht, mit Anspielung auf Gustave Flauberts "Erziehung der Gefühle", unter dem Diktum einer "Regulierung des Herzens", die der Erzähler als ein Eindämmen allzu starker, vor allem affektiver Regungen schildert, als eine Haltung, die "dem Willen und dem Bewusstsein ihre Aufgabe als Rückholfeder lässt, wenn die Hingabe ins Bodenlose zu fallen droht". Je älter, umso stärker prägt Charly sie aus. Die Trennung von seiner Frau, den Tod der Mutter, die Abwege seiner Tochter aus dem bürgerlichen Leben, die Demenz des Vaters bis zu dessen langsamem Tod, an dessen Ende die zweite der drei feierlichen Zusammenkünfte, die Beerdigung steht, lassen das Ausmaß seiner Erschütterung nur zeitweilig groß werden. Selbst den Umstand, dass ihm nach dem Abklingen der Corona-Pandemie sein Geschäftsführerposten durch die nachfolgenden jungen Inhaber der Firma gekündigt wird, hegt Charly rasch ein.
Er übernimmt die Geschäftsführung des Lessinghauses, einer Kultureinrichtung, der sein Vater als Vereinsvorsitzender angehörte und die tendenziell verschlafen vor sich hindümpelt, bis der Krieg in der Ukraine beginnt und Charly das Haus zum "Ukraine-Zentrum" umkrempelt: Er will mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, gegen den Willen der Mitarbeiter, unter ihnen die aus Berlin stammende Programmverantwortliche Yelda Dereli, promovierte Kultur- und Theaterwissenschaftlerin, Tochter türkischer Arbeitsmigranten und vorher Dramaturgin am Thalia Theater. Nicht zuletzt ihretwegen wird Charly seinen Posten sehr schnell wieder räumen müssen. Denn bei der Ukraine-Benefiz-Gala, der dritten der drei Feierlichkeiten, die er unter der Conférence des unschwer als Thomas Gottschalk zu erkennenden Moderators organisiert, kommt es zum Eklat. Zwei ukrainische Frauen behaupten mit Yeldas Unterstützung in einem Brief an den Senat, Charly habe sie sexuell belästigt. "Deconstructing Charly" nennt Kleeberg das letzte Kapitel, mit unverkennbarer Anspielung auf Woody Allens Film "Deconstructing Harry". Damit stellt Kleeberg eine nicht unproblematische Parallele her: Charly Renn wird im Roman tatsächlich als Opfer einer Ranküne dargestellt und ergreift damit indirekt auch Partei für Woody Allen, dem seit Jahren der Missbrauch seiner Adoptivtochter nachgesagt wird, was er bis heute zurückweist.
Dämmerung" wandert an vielen Stellen auf dem schmalen Grat einer Figurenrede, von dem aus man immer wieder hinunterschauen muss in weltanschauliche Abgründe. Charly, charakterisiert als "Meister trügerischer oder produktiver Selbstprojektionen, denen es dann nachzuleben gilt", hat, so möchte uns der Erzähler glaubhaft machen, "offenbar und vielleicht verständlicherweise" den Ernst der Lage auch nach Tagen der Anschuldigungen noch immer nicht erfasst. Das ist höchst tragisch, denn der Zeitgeist - verkörpert durch die jungen Mitarbeiter im Lessinghaus, die er zuvor wochenlang ohne Arg, so scheint es, kujoniert hat, indem er ohne jeden Sinn für Unterschiede und Zwischentöne, seine Geschäftsführungserfahrungen aus dem Kautschuk-Geschäft auf die Kulturinstitution übertragen hat - ist einfach gegen ihn.
In Charly, so suggeriert der Roman, ist ein bestimmter Typus Mann gealtert und vom Zeitgeist zu Fall gebracht. Dass damit zugleich ein Zeitalter verabschiedet wird, legt der Epilog nahe. Die Kongruenz zwischen Charly und seiner Zeit und die zwischen der Stimme, die seine Geschichte erzählte, hat durch den MeToo-Vorwurf den "brutalstmöglichen Bruch" erlitten. Schwarz-weiß gestreifte oder gesprenkelte Seelen wie die von Charly, so der Erzähler, fielen nicht unter die Schnellgerichtsbarkeit des Netzes wie unter das offizielle Strafrecht. Kleeberg entlässt mit "Dämmerung" seinen Protagonisten und die Leser in jene obskure Ambivalenz, die man bei diesem Autor immer wieder findet, schon in der frühen SM-Novelle "Barfuß", an deren Schluss eine Kreuzigung steht. Manch einer mag sich beim Ende von "Dämmerung" auch an Kleebergs Frankfurter Poetikvorlesungen erinnert fühlen, die von einem Eklat begleitet waren, nämlich um die Äußerungen Kleebergs über das Aufeinandertreffen "einer Mehrheitsidentität, die sich auflösen, mit einer Minderheitsidentität, die sich durchsetzen will".
"Dämmerung" erzählt also mit dem Hammer, kokettiert recht kalkuliert mit dem Unterschied zwischen Figurenrede und allenfalls mutmaßlicher Autorenmeinung. Dass dem redseligen Erzähler zukünftig tatsächlich die Sprache wegbleiben wird, mag man ihm angesichts seiner Wortgirlanden und -kaskaden und seinem Drang, einer Zeit nachzutrauern, nur halb abnehmen. Es sei ihm hier aufmunternd gesagt: So schnell geht die Welt nicht unter. BEATE TRÖGER
Michael Kleeberg: "Dämmerung". Roman.
Penguin Verlag, München 2023. 480 S., geb., 26,- Euro.
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