Die Sweets – Mutter, Vater, zwei Kinder – leben in einem Städtchen in Neuengland, wo auf den ersten Blick alles beschaulich erscheint. Mrs Sweet kam einst von einer Karibikinsel »auf einem Bananendampfer ins Land«. Mr Sweet, ein wenig erfolgreicher Komponist, wuchs in New York in einem großbürgerlichen Haushalt auf. Diese Unterschiede entwickeln Sprengkraft, und die Zeit macht die Gefühle brüchig. Im Strom der Erinnerungen schießt Unausgesprochenes empor. Mr Sweet hasst das Landleben – und in seinen Fantasien sieht er den abgetrennten Kopf seiner Frau auf der Arbeitsplatte liegen. Mrs Sweet ahnt schon, dass er sie verlassen wird. In die Liebe zu ihren Kindern mischt sich der Vorwurf, dass sie ihr das Leben geraubt haben. Jamaica Kincaid erzählt vom schwierigen Miteinander und allmählichen Auseinanderbrechen einer Familie. Sie scheut sich nicht, in die Abgründe der Seele zu leuchten, und sie kreist ein, was die Zeit mit den Menschen anstellt.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Knut Henkel freut sich, dass mit "Damals, jetzt und überhaupt" nach elf Jahren ein neuer Roman von Jamaica Kincaid erschienen ist. Gebannt folgt der Rezensent der Autorin, die in diesem Buch mit ihrem Ex-Ehemann, dem Komponisten Allan Shawn, abrechnet. Henkel liest, wie Kincaids Protagonistin Mrs. Sweet eines Tages von ihrem Gatten für eine jüngere Frau sitzen gelassen wird und in der Folgezeit die unterschwelligen Ablehnungen und Verachtungen, die ihr durch ihren Mann widerfahren sind, registriert: Der Neid auf ihren literarischen Erfolg etwa, aber auch untergründiger Rassismus, der sich in der Ehe zwischen der afrokaribischen Autorin und dem Amerikaner immer wieder Bahn bricht. Insbesondere lobt der Rezensent Kincaids Vermögen, in drei Perspektiven ein ebenso psychologisch tiefgründiges wie "erbarmungsloses" Porträt einer binationalen Beziehung zu zeichnen. Dafür sieht er gern über die ein oder andere überflüssige Wiederholung hinweg.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2013Im Licht der Lebenslügen
Geraubte Vergangenheit: Jamaica Kincaids fulminanter Roman "Damals, jetzt und überhaupt"
Was ist schlimmer als das Gefühl, dass die Partnerin oder der Partner einen nicht mehr liebt? Es ist der Moment, wenn die oder der andere sagt, das Gegenüber nie geliebt zu haben. Was für sicher gehalten wurde, zerfällt, das Misstrauen wächst, das bisherige Leben, die gemeinsame Vergangenheit erhält ein neues Etikett. Quälende Fragen tun sich auf: War das Zusammensein von vornherein zum Scheitern verurteilt? Wann wäre die fatale Entwicklung vielleicht noch zu stoppen gewesen? Und inwiefern sind Freundschaften, die durch die Liebesbeziehung entstanden, nun umzudefinieren? Mit einer solchen Lebenskrise beschäftigt sich Jamaica Kincaid in ihrem faszinierenden neuen Roman.
Zehn Jahre hat die 1949 auf der Karibikinsel Antigua geborene Autorin sich Zeit gelassen, ihrem OEuvre ein weiteres Schmuckstück hinzuzufügen. "Damals, jetzt und überhaupt", dessen englisches Original im Frühjahr unter dem Titel "See Now Then" erschien, ist der fünfte Roman einer Frau mit einer erstaunlichen Karriere. Die arme Mutter schickte die Sechzehnjährige als Au-pair-Mädchen in die Vereinigten Staaten. Auf ein kurzes Abendstudium folgte die freie journalistische Tätigkeit für Teenagermagazine, bevor William Shawn, der legendäre Chef des "New Yorker", Kincaid unter Vertrag nahm und ihr Talent für literarisches Schreiben förderte. Sie blieb dem Magazin zwanzig Jahre eng verbunden, heiratete einen Shawn junior, gebar zwei Kinder, wurde unter anderem Professorin in Harvard, ließ sich scheiden. Mit Prosabüchern, die in Art wie Umfang unterschiedlich sind, wurde sie zur wichtigsten weiblichen Stimme der anglophonen karibischen Literatur. Hinzu kamen historisch ausgerichtete Bücher, die kunstvoll zwischen Essay, Reisebuch und Manifest changieren.
Die großen Romane - darunter "Annie John" (auf Deutsch 1989 erschienen), "Lucy" (1991) und "Die Autobiographie meiner Mutter" (1996) - haben insgesamt ein geteiltes Echo hervorgerufen. Viel Lob erhielt stets die Fähigkeit der Hochbegabten, das Aufeinandertreffen diverser Kulturen in der Heimat (Antigua wurde erst 1981 von England unabhängig) oder in der Fremde facettenreich und humoristisch darzustellen. Vornehmlich in Übersee kritisierte mancher freilich die Schärfe, mit der die Stieftochter eines Zimmermanns das koloniale Erbe und die nordamerikanische Gesellschaft gern zeichnet. Kincaids Wahrnehmungen der Verhältnisse zwischen Staaten, Rassen, Klassen, Generationen und Geschlechtern sind jedoch genauso nachvollziehbar wie das, was sie empfindet oder schildert.
Das gilt auch für "Damals, jetzt und überhaupt". Darin begegnen wir Mrs. und Mr. Sweet, einem Paar jenseits der Fünfzig, das in einem Nest im Vermont der Gegenwart die letzten Ausläufer einer Zuneigung erlebt, die eventuell bloß einseitig war. Wenn Mrs. Sweet, die einst auf einem "Bananendampfer" aus der Karibik in die Vereinigten Staaten gelangte, das Gebäude einer langjährigen Ehe einstürzen sieht, der zwei inzwischen fast erwachsene Kinder entsprungen sind; wenn Zweifel und Abwehr aufkommen gegenüber den frustrierenden Äußerungen eines frisch anderweitig verliebten Gatten; wenn angenehme Erinnerungen an eine gemeinsam verbrachte Zeit sich als Illusionen erweisen: Dann ergießen sich unendliche Gedankenströme über absatzlose Seiten; dann stemmt sich höchstens ab und an ein Semikolon gegen die Buchstabenfluten; dann mischen sich Ansichten, Einsichten, Aussichten zu einer vollmundigen Ode an die Leere.
Zuletzt, in der "Autobiographie meiner Mutter", hatte Jamaica Kincaid ihre Wortkaskaden zugunsten einer konventionellen Ausdrucksweise marginalisiert; der noch nicht übersetzte Roman über ihren leiblichen Vater, "Mr. Potter" (2002), war in dieser Hinsicht schon mutiger. Nun aber wird eindrucksvoll wie nie zuvor erfahrbar, welch mitreißender Sprachklang entstehen kann, wenn sich der weiche dominikanisch-französische Dialekt (der Mutter), das sprühende antiguanische Kreolisch (des Milieus) und das harte britische Englisch (des Klassenzimmers) verbinden. Brigitte Heinrich hat die Herkulesaufgabe der deutschen Übersetzung bravourös gemeistert.
Gerade die leitmotivisch auftauchenden Begriffe "damals" und "jetzt" samt ihrer Variationen hat die Übersetzerin elegant und effektvoll in den Text eingeflochten. Und auch die Gedanken des reichlich erfolglosen Komponisten Mr. Sweet, die um Fugen, Concertos, Chorstücke und Suiten kreisen, werden angemessen abgebildet: "Der schmale Saum der Nacht ist eine Metapher, ich werde eine Symphonie schreiben, eine verdeckte Anspielung darauf, der schmale Saum der Nacht ist eine Metapher, sagte Mr. Sweet zu sich und nur zu sich." Im Roman "Lucy" hatte sich die Hauptfigur geweigert, die chauvinistische britische Hymne "Rule, Britannia" mit ihrem Refrain "Britons never, never shall be slaves" zu singen. Im neuen Roman hat die Immigrantin nicht einmal mehr Zugang zu dem, was ihr aus New York stammender Mann komponiert: Mr. Sweet verkriecht sich für seine Arbeit in sein Zimmer.
Obwohl einige Details dem Leben Kincaids entnommen scheinen - auch ihr ehemaliger Ehemann ist ein weißer, untersetzter Komponist, auch die Autorin konvertierte zum Judentum und hat einen Sohn und eine Tochter -, sollte ein Blick, der über den handlungsarmen, anregungsreichen, Versenkung erfordernden Roman hinausreicht, anderes ins Visier nehmen. Viel wichtiger als etwaige autobiographische Bezüge ist die Plausibilität der Charaktere: Mit der isolierten, verwirrten, indignierten Mrs. Sweet hat Jamaica Kincaid erneut eine Hauptfigur geschaffen, deren Suche nach Halt und Identität vor dem besonderen Hintergrund ihrer Herkunft aus der Karibik überzeugend geschildert wird.
Denn auf jenen Inseln hatten die Eroberer, im Unterschied zu anderen Kolonien, die ursprüngliche Bevölkerung bald ausgetauscht, vor allem durch afrikanische Sklaven. Daher konnten die postkolonialen, multikulturell geprägten Einwohner eine Selbstfindung nicht auf einer autochthonen indigenen Kultur gründen. Migration ohne Rückbindung war oft die Folge. Jamaica Kincaid selbst hat afrikanische, karibische und schottische Ahnen. Den Erfahrungen und Erkenntnissen der Auswanderer, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen und Niederlagen verleiht diese Autorin nach wie vor eine unverwechselbare Stimme, ohne dass sie dabei Allgemeingültiges aus den Augen verlieren würde.
THOMAS LEUCHTENMÜLLER
Jamaica Kincaid: "Damals, jetzt und überhaupt". Roman.
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich. Unionsverlag, Zürich 2013. 216 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geraubte Vergangenheit: Jamaica Kincaids fulminanter Roman "Damals, jetzt und überhaupt"
Was ist schlimmer als das Gefühl, dass die Partnerin oder der Partner einen nicht mehr liebt? Es ist der Moment, wenn die oder der andere sagt, das Gegenüber nie geliebt zu haben. Was für sicher gehalten wurde, zerfällt, das Misstrauen wächst, das bisherige Leben, die gemeinsame Vergangenheit erhält ein neues Etikett. Quälende Fragen tun sich auf: War das Zusammensein von vornherein zum Scheitern verurteilt? Wann wäre die fatale Entwicklung vielleicht noch zu stoppen gewesen? Und inwiefern sind Freundschaften, die durch die Liebesbeziehung entstanden, nun umzudefinieren? Mit einer solchen Lebenskrise beschäftigt sich Jamaica Kincaid in ihrem faszinierenden neuen Roman.
Zehn Jahre hat die 1949 auf der Karibikinsel Antigua geborene Autorin sich Zeit gelassen, ihrem OEuvre ein weiteres Schmuckstück hinzuzufügen. "Damals, jetzt und überhaupt", dessen englisches Original im Frühjahr unter dem Titel "See Now Then" erschien, ist der fünfte Roman einer Frau mit einer erstaunlichen Karriere. Die arme Mutter schickte die Sechzehnjährige als Au-pair-Mädchen in die Vereinigten Staaten. Auf ein kurzes Abendstudium folgte die freie journalistische Tätigkeit für Teenagermagazine, bevor William Shawn, der legendäre Chef des "New Yorker", Kincaid unter Vertrag nahm und ihr Talent für literarisches Schreiben förderte. Sie blieb dem Magazin zwanzig Jahre eng verbunden, heiratete einen Shawn junior, gebar zwei Kinder, wurde unter anderem Professorin in Harvard, ließ sich scheiden. Mit Prosabüchern, die in Art wie Umfang unterschiedlich sind, wurde sie zur wichtigsten weiblichen Stimme der anglophonen karibischen Literatur. Hinzu kamen historisch ausgerichtete Bücher, die kunstvoll zwischen Essay, Reisebuch und Manifest changieren.
Die großen Romane - darunter "Annie John" (auf Deutsch 1989 erschienen), "Lucy" (1991) und "Die Autobiographie meiner Mutter" (1996) - haben insgesamt ein geteiltes Echo hervorgerufen. Viel Lob erhielt stets die Fähigkeit der Hochbegabten, das Aufeinandertreffen diverser Kulturen in der Heimat (Antigua wurde erst 1981 von England unabhängig) oder in der Fremde facettenreich und humoristisch darzustellen. Vornehmlich in Übersee kritisierte mancher freilich die Schärfe, mit der die Stieftochter eines Zimmermanns das koloniale Erbe und die nordamerikanische Gesellschaft gern zeichnet. Kincaids Wahrnehmungen der Verhältnisse zwischen Staaten, Rassen, Klassen, Generationen und Geschlechtern sind jedoch genauso nachvollziehbar wie das, was sie empfindet oder schildert.
Das gilt auch für "Damals, jetzt und überhaupt". Darin begegnen wir Mrs. und Mr. Sweet, einem Paar jenseits der Fünfzig, das in einem Nest im Vermont der Gegenwart die letzten Ausläufer einer Zuneigung erlebt, die eventuell bloß einseitig war. Wenn Mrs. Sweet, die einst auf einem "Bananendampfer" aus der Karibik in die Vereinigten Staaten gelangte, das Gebäude einer langjährigen Ehe einstürzen sieht, der zwei inzwischen fast erwachsene Kinder entsprungen sind; wenn Zweifel und Abwehr aufkommen gegenüber den frustrierenden Äußerungen eines frisch anderweitig verliebten Gatten; wenn angenehme Erinnerungen an eine gemeinsam verbrachte Zeit sich als Illusionen erweisen: Dann ergießen sich unendliche Gedankenströme über absatzlose Seiten; dann stemmt sich höchstens ab und an ein Semikolon gegen die Buchstabenfluten; dann mischen sich Ansichten, Einsichten, Aussichten zu einer vollmundigen Ode an die Leere.
Zuletzt, in der "Autobiographie meiner Mutter", hatte Jamaica Kincaid ihre Wortkaskaden zugunsten einer konventionellen Ausdrucksweise marginalisiert; der noch nicht übersetzte Roman über ihren leiblichen Vater, "Mr. Potter" (2002), war in dieser Hinsicht schon mutiger. Nun aber wird eindrucksvoll wie nie zuvor erfahrbar, welch mitreißender Sprachklang entstehen kann, wenn sich der weiche dominikanisch-französische Dialekt (der Mutter), das sprühende antiguanische Kreolisch (des Milieus) und das harte britische Englisch (des Klassenzimmers) verbinden. Brigitte Heinrich hat die Herkulesaufgabe der deutschen Übersetzung bravourös gemeistert.
Gerade die leitmotivisch auftauchenden Begriffe "damals" und "jetzt" samt ihrer Variationen hat die Übersetzerin elegant und effektvoll in den Text eingeflochten. Und auch die Gedanken des reichlich erfolglosen Komponisten Mr. Sweet, die um Fugen, Concertos, Chorstücke und Suiten kreisen, werden angemessen abgebildet: "Der schmale Saum der Nacht ist eine Metapher, ich werde eine Symphonie schreiben, eine verdeckte Anspielung darauf, der schmale Saum der Nacht ist eine Metapher, sagte Mr. Sweet zu sich und nur zu sich." Im Roman "Lucy" hatte sich die Hauptfigur geweigert, die chauvinistische britische Hymne "Rule, Britannia" mit ihrem Refrain "Britons never, never shall be slaves" zu singen. Im neuen Roman hat die Immigrantin nicht einmal mehr Zugang zu dem, was ihr aus New York stammender Mann komponiert: Mr. Sweet verkriecht sich für seine Arbeit in sein Zimmer.
Obwohl einige Details dem Leben Kincaids entnommen scheinen - auch ihr ehemaliger Ehemann ist ein weißer, untersetzter Komponist, auch die Autorin konvertierte zum Judentum und hat einen Sohn und eine Tochter -, sollte ein Blick, der über den handlungsarmen, anregungsreichen, Versenkung erfordernden Roman hinausreicht, anderes ins Visier nehmen. Viel wichtiger als etwaige autobiographische Bezüge ist die Plausibilität der Charaktere: Mit der isolierten, verwirrten, indignierten Mrs. Sweet hat Jamaica Kincaid erneut eine Hauptfigur geschaffen, deren Suche nach Halt und Identität vor dem besonderen Hintergrund ihrer Herkunft aus der Karibik überzeugend geschildert wird.
Denn auf jenen Inseln hatten die Eroberer, im Unterschied zu anderen Kolonien, die ursprüngliche Bevölkerung bald ausgetauscht, vor allem durch afrikanische Sklaven. Daher konnten die postkolonialen, multikulturell geprägten Einwohner eine Selbstfindung nicht auf einer autochthonen indigenen Kultur gründen. Migration ohne Rückbindung war oft die Folge. Jamaica Kincaid selbst hat afrikanische, karibische und schottische Ahnen. Den Erfahrungen und Erkenntnissen der Auswanderer, ihren Hoffnungen und Enttäuschungen, Erfolgen und Niederlagen verleiht diese Autorin nach wie vor eine unverwechselbare Stimme, ohne dass sie dabei Allgemeingültiges aus den Augen verlieren würde.
THOMAS LEUCHTENMÜLLER
Jamaica Kincaid: "Damals, jetzt und überhaupt". Roman.
Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich. Unionsverlag, Zürich 2013. 216 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Kincaids fulminanter Roman macht eindrucksvoll wie nie zuvor erfahrbar, welch mitreißender Sprachklang entstehen kann, wenn sich der weiche dominikanisch-französische Dialekt (der Mutter), das sprühende antiguanische Kreolisch (des Milieus) und das harte britische Englisch (des Klassenzimmers) verbinden. Brigitte Heinrich hat die Herkulesaufgabe der deutschen Übersetzung bravourös gemeistert.« Thomas Leuchtenmüller Frankfurter Allgemeine Zeitung