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Von dem Tag an, an dem sie spürt, dass sie ihre Unabhängigkeit verliert, beginnt Michka zu träumen: von der Vergangenheit, von Versäumnissen und Verlorenem. Tatsächlich verliert die weltoffene alte Frau nach und nach Wörter, ersetzt sie durch ähnlich klingende. Nur zwei junge Menschen, Marie und Jérôme, verstehen, was in ihr vorgeht. Je mehr Michka um ihre Ausdruckskraft ringt, desto dringlicher wird ihr Wunsch, einem Ehepaar, das ihr einst das Leben gerettet hat, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Und so bittet sie Marie, eine Suchanzeige aufzugeben. Klarsichtig und scharfsinnig zeigt Delphine de…mehr

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Produktbeschreibung
Von dem Tag an, an dem sie spürt, dass sie ihre Unabhängigkeit verliert, beginnt Michka zu träumen: von der Vergangenheit, von Versäumnissen und Verlorenem. Tatsächlich verliert die weltoffene alte Frau nach und nach Wörter, ersetzt sie durch ähnlich klingende. Nur zwei junge Menschen, Marie und Jérôme, verstehen, was in ihr vorgeht. Je mehr Michka um ihre Ausdruckskraft ringt, desto dringlicher wird ihr Wunsch, einem Ehepaar, das ihr einst das Leben gerettet hat, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Und so bittet sie Marie, eine Suchanzeige aufzugeben. Klarsichtig und scharfsinnig zeigt Delphine de Vigan, was uns am Ende bleibt: Zuneigung, Mitgefühl, Dankbarkeit. Und zugleich würdigt sie in >Dankbarkeiten< all diejenigen, die uns zu den Menschen gemacht haben, die wir sind.

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Autorenporträt
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman >No & ich< (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman >Nach einer wahren Geschichte< (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihre Romane >Dankbarkeiten< (2019) und >Das Lächeln meiner Mutter< (2020). Die Autorin lebt mit ihren
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2020

Es ist das rechte Wort, das mir verwischt
Als wär's das Buch zur Gegenwart: Doch Delphine de Vigans "Dankbarkeiten" erzählt von einer anderen Krise

Das ist ein Buch der Stunde: In "Dankbarkeiten" stellt die französische Autorin Delphine de Vigan altersbedingten Sprachverlust, Seniorenpflege und Tod dar. Da es sich nach der des Hitzesommers von 2003 bei der aktuellen Krise abermals zentral um eine der Altenversorgung handelt (ein Drittel der französischen Covid-19-Toten wird aus den sogenannten Ehpads gemeldet) und es an Solidaritätsappellen aus Politik und Gesellschaft nicht mangelt, könnte der Erscheinungstermin besser kaum gewählt sein, auch wenn das Original voriges Jahr erschienen ist.

"Dankbarkeiten" erzählt die Geschichte von Michèle Seld, genannt Michka, der die Wörter und die Welt abhandenkommen, ein unaufhaltsamer Prozess, den Vigan in seinen wichtigsten Etappen geschickt darstellt. Neben der von Michka kommen im Roman zwei weitere Perspektiven zum Einsatz: Die wichtigere ist die von Marie, einer Mittdreißigerin, die sich um die zunehmend Pflegebedürftige kümmert, ihr beim Umzug hilft und sie regelmäßig besuchen kommt, bis sie schwangerschaftsbedingt ausfällt. Hinzu kommt Jérôme, ein Logotherapeut, der dabei helfen soll, den Sprachverlust zu verlangsamen. Jérôme und Marie sind natürlich füreinander gemacht, begegnen sich aber erst am Ende. Vorerst eint sie die Sorge um die "alte Dame mit dem Habitus eines jungen Mädchens. Oder ein junges Mädchen, das versehentlich, durch ein böses Schicksal, alt geworden ist". Als ehemalige Korrektorin einer Zeitung ist die Aphasie eine besondere Qual für sie.

Delphine de Vigan ist die Therapeutin der französischen Gegenwartsliteratur: Nach "Tage ohne Hunger" (Magersucht) und "Loyalitäten" (kindliche Alkoholsucht, elterliche Depression) geht sie nun den körperlich-geistigen Verfall im Alter an; sie versucht sich an Darstellung, Befriedung, Akzeptanz. Die kann auch durch das Zugeben von Unauflösbarkeit gewonnen werden: "Das stimmt nicht. Ich kann mir gar nichts vorstellen. Denn es ist unvorstellbar. Ich lege meinen Arm auf ihren. Ich suche nach Worten, möchte ihr etwas Tröstendes sagen - ,Die Damen sind nett', oder ,Ich bin sicher, du findest hier Freundinnen', oder ,Es gibt hier ziemlich viele Freizeitangebote' -, doch jeder dieser Sätze wäre eine Beleidigung für die Frau, die sie gewesen ist."

Tatsächlich ist an der Aphasie wenig zu beschönigen. Die besten Passagen des Romans sind zum einen Schilderungen von Albträumen, die Mishka heimsuchen und in denen sie, wieder zum unmündigen Kind geworden, von einer - rein imaginären - profitorientierten Heimleiterin malträtiert wird. Zum anderen sind es Dialogpassagen, in denen die Wörter verrutschen und entgleiten. Mit Michkas Worten: ",Nein, die Synorhythmen.' ,Die Synonyme?' ,Ja, genau. Aber die Syn . . . die Dings . . . sind mir wurscht. Weißt du, es ist das rechte Wort, das mir verwischt. Und außerdem hat das alles keinen Sinn, ich weiß genau, wie es enden wird. Am Ende wird da gar nichts mehr sein, keine Wörter mehr, verstehst du? Oder nur noch irgendwelcher Quatsch als Lückenfüller. Stell dir mal vor, ein ganz einzeln vor sich hin bra . . . babelndes altes Weib . . ."

Von den präzisen Dialogen abgesehen: Was emotional stimmig scheint, ist sprachlich eher handelsübliche Gebrauchsprosa. Erzählerisch arbeitet Vigan mit Spiegelungen, welche die titelgebenden "Dankbarkeiten" betreffen. Maries Freundschaft und Fürsorge sind das Entgelt für frühere Hilfe: Weil Maries psychisch kranke Mutter ausfiel, hatte sich Nachbarin Michka der Kleinen angenommen. Diese Fürsorge wiederum spiegelt eine dritte, die noch weiter in der Vergangenheit liegt, nämlich in Michkas Kindheit: Der Judenverfolgung entkam sie nur dank der Aufnahme durch ein junges Paar, das sie im ländlichen La Ferté-sous-Jouarre (östlich von Paris) versteckt hatte. Nun, am Lebensende, sucht Michka abermals nach ihren Rettern - unnötig zu sagen, dass der Schoa-Zusatz den Roman thematisch ordentlich aufpeppt.

Die dreigliedrige Kette der Dankbarkeiten, des generationenübergreifenden Gebens und Nehmens, strukturiert den Roman. Vigans Strategie ist nicht, den Niedergang im Alter kleinzureden, das zeigt die Schilderung des Sprachverlusts; sie setzt auf Hilfe durch Wahlverwandte und selbstloses Personal. Am Ende belohnt sie Marie und Jérôme dadurch, dass sich aus der geteilten Sorge eine mögliche Liebe entwickelt; nach einem kräftigen Druck auf die Tränendrüse bekommt das Herz seine Balsamdosis. Ein Roman, der repariert, kompensiert, versichert - sprachlich blass, in Dialog und Erzählung hingegen ordentlich, kann man "Dankbarkeiten" als Andeutung von und Hinleitung zu Literatur verstehen.

NIKLAS BENDER

Delphine de Vigan:

"Dankbarkeiten". Roman.

Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Literaturverlag, Köln 2020. 166 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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