Der Kulturhistoriker Erich Auerbach (1892-1957) zählt zu den bedeutendsten Kulturwissenschaftlern und Romanisten des 20. Jahrhunderts. Wie viele andere bedeutende Gelehrte emigrierte er früh aus Deutschland, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen.
Bereits 1929 erschien sein Buch zu Dante, das trotz des etwas komplizierten Titels einen runden Gesamtüberblick über das dichterische Schaffen des italienischen Nationaldichters gibt. Auerbach spürte in der Göttlichen Komödie, Dantes Hauptwerk, viele Realismen auf. Rückbezüge auf die Welt des Irdischen bleiben auch im Grauen der Hölle, in der Hoffnung des Fegefeuers und in der religiösen Ekstase des Paradieses deutlich. Dante schildert beispielsweise viele Zeitgenossen und ihre Sünden, die dann entsprechend gebüßt werden. Bei Auerbach wird das Universum Dantes eindrucksvoll lebendig.
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Die irdische Welt im Jenseits: Erich Auerbachs großes Dante-Buch
Im Dante gewidmeten achten Kapitel von "Mimesis" (1946) blickt Erich Auerbach auf seine fünfzehn Jahre zuvor unter dem Titel "Dante als Dichter der irdischen Welt" veröffentlichte "Untersuchung über Dantes Realismus" zurück und gesteht, die "Grundlage" dieses Buches bildeten Gedanken Hegels, die dieser "auf einer der schönsten Seiten, die je über Dante geschrieben wurden", ausgesprochen habe. Gemeint sind die Sätze, die Hegel in den "Vorlesungen über die Ästhetik" im Abschnitt über die romantischen Künste Dantes "Göttlicher Komödie" widmet: Dante, "der kühnste Geist seiner Zeit", habe "die lebendige Welt menschlichen Handelns und Leidens und näher der individuellen Taten und Schicksale" in das "wechsellose Dasein" von Hölle, Fegefeuer und Himmel gesenkt und lasse dort "die Figuren der wirklichen Welt nach ihrem besonderen Charakter" sich "auf diesen unzerstörbaren Grundlagen bewegen"; genauer: sie seien in ihrem individuellen "Handeln und Sein in der ewigen Gerechtigkeit erstarrt".
Tatsächlich läßt sich Auerbachs Dante-Buch als eine große Ausfaltung dieser wenigen Sätze aus der Hegelschen "Ästhetik" lesen, denn dies sind seine Leitgedanken: Dantes "Commedia" entwirft im Prozeß der Jenseitswanderung ein Bild der irdischen Welt, den Gegenstand des Werks bildet das irdische Leben in seinem ganzen Umfang und Inhalt, das Dantesche Jenseits stellt damit eine Verewigung des Diesseits dar. Dies ist nicht zuletzt auf Dantes Menschendarstellung zurückzuführen, denn Dantes Jenseits wird von einem Kosmos von Gestalten bevölkert, deren jede ihre Eigengesetzlichkeit, also neben ihrem geistigen Wesen auch jene individuelle sinnliche Erscheinung bewahrt, die sie vor dem Tode besessen hat. So führen denn die das Werk bestimmenden Darstellungsprinzipien, seine "ungeheure Wirklichkeitstreue" und die "überwältigende Kraft empirischer Evidenz", dazu, daß Dante im Reich der Toten nur Lebenden begegnet - Lebenden von solcher nicht nur geistigen, sondern auch körperlichen Präsenz, daß Auerbach selbst das Wort von "Dantes Naturalismus" nicht verschmäht: "Sondern die Seelen des Danteschen Jenseits sind gar keine Toten, vielmehr die eigentlich Lebenden, die zwar die konkreten Daten ihrer Geschichte und ihres atmosphärischen Wesens aus dem früheren Erdenleben schöpfen, jedoch diese Daten in einer Vollständigkeit, Gleichzeitigkeit, Präsenz und Aktualität zeigen, die sie während ihrer Erdenzeit kaum jemals erreicht und gewiß niemals einem Beschauer offenbart haben." Die Gestalten, deren der Dichter im Jenseits ansichtig wird, haben nicht ihren irdischen Charakter verloren, sondern offenbaren im Gegenteil "die äußerste Steigerung ihres individuellen irdisch-historischen Wesens". Als "Verewigung durch die Mnemosyne des Dichters" hatte Hegel Dantes dichterisches Verfahren bezeichnet. Auerbach schreibt: "Keine Nachahmung gegenwärtiger Ereignisse kann wirklicher und wesenhafter sein als die Erinnerung in Dantes Jenseits."
Es wird also im Sinne Auerbachs gewesen sein, daß Rudolf Borchardt in seiner zehn Namen umfassenden "Ehrentafel des deutschen Dantegedächtnisses", die er seiner 1930 erschienenen Übersetzung der "Commedia" voranstellte, Hegel zwischen A. W. Schlegel und Schelling ganz oben positionierte. Um so merkwürdiger mag es aus heutiger Perspektive erscheinen, daß der Name Hegels in Auerbachs Dante-Buch nicht ein einziges Mal fällt. Es dürfte dies Auerbach freilich unnötig erschienen sein. Der große geschichtsphilosophische Gestus, mit dem er in der "Historischen Einleitung über Idee und Geschick des Menschen in der Dichtung" auf den ersten dreißig Seiten seines Buches die Bestände der literarischen Überlieferung von Homer bis zum jungen Dante ordnet, verleugnet seine Hegelschen Ursprünge ohnehin nicht. Zu Recht macht Kurt Flasch in seinem instruktiven Nachwort auf die Nähe des Textes zu den zeitgenössischen Versuchen einer geschichtsphilosophischen Ästhetik wie Georg Lukács' "Theorie des Romans" (1916) oder Walter Benjamins "Ursprung des deutschen Trauerspiels" (1928) aufmerksam; Benjamin, der später mit Auerbach korrespondierte, hat das Dante-Buch schon bald nach Erscheinen studiert. Auf der anderen Seite gibt sich in dem ambitionierten Versuch, mit wenigen Strichen zwei Jahrtausende abendländischer Geistesentwicklung nachzuzeichnen, die zeittypische Neigung zur großen geistesgeschichtlichen Synthese zu erkennen; der Autor dieser Einleitung, der in Siebenmeilenstiefeln die Literaturgeschichte durchmißt, um nur ja den Blick aufs große Ganze nicht zu verlieren, erinnert jedenfalls noch kaum an den Verfasser von "Mimesis", der seinen Schülern immer vom Einzelphänomen auszugehen riet.
Und doch bildet gerade die historische Einleitung zum Dante-Buch eine erste Skizze Auerbachs zu dem großen Werk der Istanbuler Exilzeit. Denn sie widmet sich mit Entschiedenheit der Frage nach den historischen Bedingungen für die Nachahmung des Menschen und seines besonderen Geschicks in der Dichtung: von der Kunst der Nachahmung bei Homer, die auf der Vorstellung der apriorischen Einheit der Gestalt mit ihrem Geschick beruhe, über den Zerfall der Einheit der Gestalt in der sophistischen Aufklärung bis hin zur allmählichen Entfaltung des "mimetischen Gehalts der Geschichte Christi" im Mittelalter. Auerbach braucht diese Vorgeschichte, um vor diesem Hintergrund nun die Gestalt Dantes als des großen nachantiken Erneuerers der Kunst der Nachahmung sich um so schärfer abheben zu lassen. Dante: das ist für ihn der "Schöpfer der Gestalt", "der erste Gestalter überhaupt", der "das Eigengesetzliche der Gestalt" nicht nur darstellerisch zu erhalten weiß, sondern es geradezu erhalten muß, weil die anschauliche Gestalt als Einheit von Leib und Geist "ein Modus oder eine Erscheinungsweise der göttlichen Ordnung" ist. Im Status animarum post mortem wird für Dante die Idee des Individuums selbst sinnlich: "wahre Gestalt, die Leib und Geist zugleich ist", "gleichsam ideale Sinnlichkeit".
Wie man sieht, ist Gestalt ein Schlüsselwort dieses Buches, und es gibt Seiten, da wähnt sich der Leser für Augenblicke in eine der Gestaltmonographien des George-Kreises verirrt. Gewiß erweist sich in der obsessiven Verwendung des Gestaltbegriffs die besondere Zeitgebundenheit des Werks. Auerbach bezieht sich dort, wo er Dante "Schöpfer der Gestalt" nennt, explizit auf Friedrich Gundolfs Caesar-Buch (1924), er zitiert wiederholt Stefan Georges Dante-Übersetzung, ja er stellt an den Anfang des kurzen Schlußkapitels den Satz Georges, durch "Ton Bewegung Gestalt" stehe Dante am Anfang aller "Neuen Dichtung". Auch sonst erinnert manche Wendung an die Dante-Deutung des George-Kreises: "Es ist evident, daß er der weiseste und willensstärkste Mensch seiner Zeit war, und daß er nach dem platonischen Grundsatz, der stets seine Geltung behält, wo sich die Kraft zu führen deutlich in einem Menschen offenbart, berufen war zu herrschen." Selbst der Aufbau des Buches, der der Werkgeschichte folgt und nicht der Dichterbiographie, die hier für Auerbach ohnehin nur als "innere Biographie" von Interesse ist, steht dem Muster der Gestaltmonographien des George-Kreises nahe.
Trotz dieser Annäherungen in Ton und Tektonik steht Auerbachs Dante-Bild in seinen Grundzügen geradezu im Gegensatz zu demjenigen Georges. An späterer Stelle des Buches wendet Auerbach sich gegen jene Interpreten der "Commedia", die "die sogenannten poetischen Schönheiten herauslösen und als rein sinnliches Phänomen würdigen, aber ihr System und ihre Lehre, ja ihren ganzen Gegenstand als etwas Gleichgültiges, gewissermaßen der überlegenen Entschuldigung Bedürftiges beiseite lassen". Damit bezieht er sich auf das Verfahren des Übersetzers George, der allein "das Dichterische" der "Commedia" als Modell einer Poesie der Moderne fruchtbar zu machen suchte und deshalb nur Episoden aus ihr unter Vernachlässigung ihres politisch-ethisch-theologischen Gesamtsystems übertrug. Auerbach aber will in seinem Buch zeigen, daß ebendies "Dichterische" in Dantes Werk, die sinnliche Evidenz des Wirklichen und die Nachahmung jener individuellen Ganzheit aus Geist und Körper, die hier Gestalt heißt, sich nur erklären läßt aus dem Gegenstand und der Lehre des Gedichts im ganzen: dem Endgeschick des Menschen in der physischen, moralischen und historisch-politischen Ordnung, welches das endgültige Urteil Gottes ihm zugewiesen hat. Was Auerbach über Gegenstand, Aufbau und Sprache des Werks, dies nun mit entschiedenem Blick aufs Einzelphänomen, in gedrängtester Darstellung zu sagen weiß, läßt sein Buch bis heute als Muster einer Einführung in Dantes Werk erscheinen - unbeschadet der Tatsache, daß die Forschung mittlerweile über manche seiner Thesen hinweggegangen ist. Auerbach selbst hat in "Mimesis" hervorgehoben, wie sehr sich inzwischen sein Verständnis der Danteschen Jenseitsrealistik durch die Entdeckung der figuralen Geschehensdeutung erweitert hatte. Anderes - etwa Auerbachs These, Dante sei Thomist gewesen - wird von Flasch in seinem Nachwort korrigiert und vor dem heutigen Forschungsstand zurechtgerückt.
Niemand aber wird ein mehr als siebzig Jahre altes Werk im Ernste lesen, um sich auf den aktuellen Stand der Forschung zu bringen. Lesen aber sollte man Auerbachs Dante-Buch jenseits von wissenschaftsgeschichtlichen Interessen vor allem aus zwei Gründen: einmal der philologischen Akribie wegen, mit der Auerbach im Wechselspiel von historischer Synthese und mikrophilologischer Analyse die künstlerische Gestalt eines schwierigen Werkes aus seinen komplexen geistigen und kulturellen Voraussetzungen zu erklären versucht; daraus ist methodisch bis heute sehr viel zu lernen. Zum anderen sollte man es lesen, um sich an eine philologische Sprachkultur zu erinnern, die längst verschollen ist. Auerbach ist schon im Dante-Buch ein glänzender Stilist, auch wenn sein Stil hier noch nicht die Elastizität und entspannte Eleganz von "Mimesis" besitzt. Aber auch das frühere Buch nimmt bereits gefangen durch den Reichtum an begrifflichen Entsprechungen, den es für die differenziertesten ästhetischen Phänomene findet.
Wer derart verantwortungsvoll dem dichterischen, aber auch dem eigenen Text gegenüber schreibt, dem mag es überflüssig erscheinen, Grundsatzerklärungen zur Methode abzugeben. Der einzige Satz, den ich in Auerbachs Buch dazu gefunden habe, findet sich in einer Fußnote; Auerbach dürfte ihn geschrieben haben, um das eigene Verfahren von den aktuellen Überdrehungen der geistesgeschichtlichen Mode abzugrenzen: "Die Kunst der Interpretation ist verloren, wenn man im Namen einer höheren poetischen Einsicht die klaren Worte des Textes vernachlässigen zu können meint." Vielleicht besitzt dieser Satz schon deshalb unverminderte Aktualität, weil heute kaum jemand mehr wagen würde, ihn zu schreiben.
ERNST OSTERKAMP.
Erich Auerbach: "Dante als Dichter der irdischen Welt". Mit einem Nachwort von Kurt Flasch. Verlag Walter de Gruyter, Berlin und New York 2001. 237 S., br., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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