Ältere Menschen erinnern sich gern an ihre Vergangenheit. In der Pflege ist es wichtig, die biografischen Aspekte ihres Lebens zu kennen. Nur so kann eine wirkliche Begleitung gelingen. Dieses "Bilderbuch" macht den Einstieg in ein interessantes und anrührendes Gespräch über die eigene Vergangenheit einfach: In meisterhaften Illustrationen entsteht die Welt der 30er, 40er und 50er Jahre in Deutschland: Ob Schul- oder Nachkriegszeit, ob erste Liebe oder Wirtschaftswunder - die Illustrationen regen die alten Menschen an, sich an die eigene Vergangenheit zu erinnern und darüber ins Gespräch zu kommen. Dieses Buch eignet sich für alle, die täglich mit älteren Menschen umgehen: Angehörige, Ehrenamtliche, Pflegekräfte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2010„Biografiearbeit“: Ein Bilderbuch für demente Senioren
Der erste Kuss! Der Geruch der Tafel in der Schule, wenn sie frisch mit dem Schwamm gewischt war! Der Abschlussball in der Tanzschule! Solche Erinnerungen hält man für unauslöschbar. Was einem so viel bedeutet, glaubt man, das kann man nie vergessen. Kann man leider doch. Wenn im Alter das Gedächtnis nachlässt, können selbst die emotionalsten Augenblicke verblassen, die im Hirn gespeichert sind. Menschen vergessen den Namen ihres Kindes, wissen nicht mehr, dass sie verheiratet waren, und halten die Schwester im Krankenhaus für eine leibliche Schwester. Medikamente helfen da nicht gut. Erzählen ist besser.
„Daran erinnere ich mich gerne“ ist eine schöne und äußerst charmant illustrierte Gedächtnisstütze für Senioren. Das Buch ist aufgebaut wie ein Bilderbuch für Kleinkinder: große farbige Bilder, dazu einfache Fragen. Die Texte lauten nicht „Wie macht die Ente?“, sondern eher „Erinnern Sie sich noch, was es Weihnachten zu essen gab?“, „Gab es etwas, was Ihre Mutter oft kochte?“ oder „Haben Sie jemanden beim Tanzen kennengelernt?“
Im DIN-A4-Querformat thematisiert das Bilderbuch Facetten des Alltagslebens in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren, vom Brummkreisel aus den Kindertagen über die Schiefertafel der Schulzeit bis zum ersten Staubsauger, einem Kobold. Aus der Alzheimer-Forschung weiß man, dass besonders emotionale Erinnerungen das Gedächtnis stimulieren und wachhalten können, also geht es in dem Buch auch um die erste Liebe, Hochzeit und Kinder.
Die Autorin des liebevoll gemachten Buches, Beate Wolf, arbeitet beim Caritasverband Köln in der Altenhilfe. Sie weiß, wie schwer es für Angehörige und professionelle Helfer ist, mit Menschen umzugehen, deren Erinnerung schwindet – es ist, als blende sich der Betroffene langsam aus dem Leben aus. In solchen Fällen sei Biographiearbeit hilfreich, weiß Beate Wolf. Das Wachrufen von Erinnerungen könne sehr viel Positives bewirken. Eine ältere Dame, die sie betreute, verbrachte die meiste Zeit lethargisch im Sessel sitzend. Nur wenn sie gemeinsam mit der Betreuerin in ihre Lebenserinnerungen eintauchte, wurde sie munter, hüpfte wie ein junges Mädchen durch ihre Wohnung und verkündete: „Was habe ich alles erlebt! Ich könnte ein Buch schreiben!“
Das Buch schrieb die alte Dame nicht mehr, dafür aber setzte sich die Sozialarbeiterin Beate Wolf mit dem Illustrator Thomas Haubold zusammen und entwarf das Erinnerungsbuch als ein Meta-Familienalbum für Menschen, die heute 80 bis 90 Jahre alt sind. Haubold sammelte bei seinem Zivildienst beim Caritasverband Neuss Erfahrungen mit alten Menschen, später half er seiner Großmutter beim Verfassen ihrer Lebensgeschichte. Mittlerweile hat er sich als Illustrator für Magazine wie Focus und Stern sowie für Buchcover einen Namen gemacht. Haubold hat das Thema im Stil eines französischen Comics umgesetzt, sein Strich erinnert an Jacques Loustal, mit kantigen Gesichtern, leicht verschobener Geometrie und pastelligen Farbtönen. Die Zeichnungen wirken wie kolorierte Fotos aus einem lange vergessenen Album, die mit einer Staubschicht überzogen sind.
Etwas irritierend ist auf den ersten Blick nur, dass es keine einzige Seite zum Naziregime und zum Zweiten Weltkrieg in dem Buch gibt, obwohl dieser Abschnitt der deutschen Geschichte die Biographien in der Generation der heute 80- bis 90-Jährigen doch massiv geprägt hat. Unangenehme Themen wurden bewusst ausgespart. Das Buch heißt schließlich „Daran erinnere ich mich gern!“ TITUS ARNU
BEATE WOLF, THOMAS HAUBOLD: Daran erinnere ich mich gern! Ein Bilder-Buch für die Biografiearbeit. Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009. 32 Seiten, 32 Euro.
Bilderbücher zum Zeigen für kleine Kinder, das kennt man: „Wie macht die Ente? . . .“ Jetzt aber, wo immer mehr alte Menschen mit Gedächtnisschwächen unter uns leben und leben werden, gibt es auch für sie eigene Bilderbücher. Besonders emotionale Erinnerungen, weiß die Alzheimer-Forschung, können das Gedächtnis stimulieren und wach halten.
Abbildung aus dem besprochenen Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Der erste Kuss! Der Geruch der Tafel in der Schule, wenn sie frisch mit dem Schwamm gewischt war! Der Abschlussball in der Tanzschule! Solche Erinnerungen hält man für unauslöschbar. Was einem so viel bedeutet, glaubt man, das kann man nie vergessen. Kann man leider doch. Wenn im Alter das Gedächtnis nachlässt, können selbst die emotionalsten Augenblicke verblassen, die im Hirn gespeichert sind. Menschen vergessen den Namen ihres Kindes, wissen nicht mehr, dass sie verheiratet waren, und halten die Schwester im Krankenhaus für eine leibliche Schwester. Medikamente helfen da nicht gut. Erzählen ist besser.
„Daran erinnere ich mich gerne“ ist eine schöne und äußerst charmant illustrierte Gedächtnisstütze für Senioren. Das Buch ist aufgebaut wie ein Bilderbuch für Kleinkinder: große farbige Bilder, dazu einfache Fragen. Die Texte lauten nicht „Wie macht die Ente?“, sondern eher „Erinnern Sie sich noch, was es Weihnachten zu essen gab?“, „Gab es etwas, was Ihre Mutter oft kochte?“ oder „Haben Sie jemanden beim Tanzen kennengelernt?“
Im DIN-A4-Querformat thematisiert das Bilderbuch Facetten des Alltagslebens in den 30er-, 40er- und 50er-Jahren, vom Brummkreisel aus den Kindertagen über die Schiefertafel der Schulzeit bis zum ersten Staubsauger, einem Kobold. Aus der Alzheimer-Forschung weiß man, dass besonders emotionale Erinnerungen das Gedächtnis stimulieren und wachhalten können, also geht es in dem Buch auch um die erste Liebe, Hochzeit und Kinder.
Die Autorin des liebevoll gemachten Buches, Beate Wolf, arbeitet beim Caritasverband Köln in der Altenhilfe. Sie weiß, wie schwer es für Angehörige und professionelle Helfer ist, mit Menschen umzugehen, deren Erinnerung schwindet – es ist, als blende sich der Betroffene langsam aus dem Leben aus. In solchen Fällen sei Biographiearbeit hilfreich, weiß Beate Wolf. Das Wachrufen von Erinnerungen könne sehr viel Positives bewirken. Eine ältere Dame, die sie betreute, verbrachte die meiste Zeit lethargisch im Sessel sitzend. Nur wenn sie gemeinsam mit der Betreuerin in ihre Lebenserinnerungen eintauchte, wurde sie munter, hüpfte wie ein junges Mädchen durch ihre Wohnung und verkündete: „Was habe ich alles erlebt! Ich könnte ein Buch schreiben!“
Das Buch schrieb die alte Dame nicht mehr, dafür aber setzte sich die Sozialarbeiterin Beate Wolf mit dem Illustrator Thomas Haubold zusammen und entwarf das Erinnerungsbuch als ein Meta-Familienalbum für Menschen, die heute 80 bis 90 Jahre alt sind. Haubold sammelte bei seinem Zivildienst beim Caritasverband Neuss Erfahrungen mit alten Menschen, später half er seiner Großmutter beim Verfassen ihrer Lebensgeschichte. Mittlerweile hat er sich als Illustrator für Magazine wie Focus und Stern sowie für Buchcover einen Namen gemacht. Haubold hat das Thema im Stil eines französischen Comics umgesetzt, sein Strich erinnert an Jacques Loustal, mit kantigen Gesichtern, leicht verschobener Geometrie und pastelligen Farbtönen. Die Zeichnungen wirken wie kolorierte Fotos aus einem lange vergessenen Album, die mit einer Staubschicht überzogen sind.
Etwas irritierend ist auf den ersten Blick nur, dass es keine einzige Seite zum Naziregime und zum Zweiten Weltkrieg in dem Buch gibt, obwohl dieser Abschnitt der deutschen Geschichte die Biographien in der Generation der heute 80- bis 90-Jährigen doch massiv geprägt hat. Unangenehme Themen wurden bewusst ausgespart. Das Buch heißt schließlich „Daran erinnere ich mich gern!“ TITUS ARNU
BEATE WOLF, THOMAS HAUBOLD: Daran erinnere ich mich gern! Ein Bilder-Buch für die Biografiearbeit. Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2009. 32 Seiten, 32 Euro.
Bilderbücher zum Zeigen für kleine Kinder, das kennt man: „Wie macht die Ente? . . .“ Jetzt aber, wo immer mehr alte Menschen mit Gedächtnisschwächen unter uns leben und leben werden, gibt es auch für sie eigene Bilderbücher. Besonders emotionale Erinnerungen, weiß die Alzheimer-Forschung, können das Gedächtnis stimulieren und wach halten.
Abbildung aus dem besprochenen Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Tolle Idee, findet der Rezensent und blättert in dem Bilderbuch für 80- bis 90-Jährige, das die Caritasmitarbeiterin Beate Wolf und der Illustrator Thomas Haubold zusammen entworfen haben. Ein wenig wie ein Kinderbilderbuch erscheint der Band Titus Arnu. Bloß dass keine Ente durchs Bild schwimmt, sondern Erinnerungen an Schiefertafel, Hochzeit und Kobold-Staubsauger wachgerufen werden. Emotionen eben. Dass die gut sind gegen Alzheimer, weiß der Rezensent. Arnu freut sich über ein liebevoll gemachtes "Meta-Familienalbum", dessen Bebilderung im "Stil französischer Comics", wie er meint, dem Ganzen sehr gut steht. Die sich dem Rezensenten aufdrängende Frage, wieso der Band keine Hinweise auf Naziherrschaft und Zweiten Weltkrieg enthält, beantwortet Arnu sich praktischerweise selbst: Der Titel lautet schließlich: "Daran erinnere ich mich gern".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH