Verbreitet ist die Meinung, dass im Rahmen der Synthetischen Evolutionstheorie alles zum Thema Evolution gesagt sei. Mit "Darwins Erbe im Umbau", jetzt als eBook-Auflage, liegt ein Buch vor, das die Lücken der Evolutionstheorie offenlegt, das im deutschen Sprachraum überfällig war, und das ich jedem
Interessierten ans Herz legen möchte. Der Neodarwinismus hat die Bedeutung der Embryologie und der…mehrVerbreitet ist die Meinung, dass im Rahmen der Synthetischen Evolutionstheorie alles zum Thema Evolution gesagt sei. Mit "Darwins Erbe im Umbau", jetzt als eBook-Auflage, liegt ein Buch vor, das die Lücken der Evolutionstheorie offenlegt, das im deutschen Sprachraum überfällig war, und das ich jedem Interessierten ans Herz legen möchte. Der Neodarwinismus hat die Bedeutung der Embryologie und der Umwelt für das Verständnis der Evolution vollständig negiert, weil man bis jüngst ein zu starres Bild von der Wirkung von Genen hatte. Die Embryonalentwicklung rückt unter dem Acronym EvoDevo (Evolutionary Developmental Biology) in den Mittelpunkt heutiger Evolutionsforschung.
Beim Überfliegen vermittelt das Buch fast etwas Patchworkartiges, ein wohl vom Autor beabsichtigter Präsentationstrick, der einen immer wieder zum Weiterschmökern anregt. Der Text ist in lockerer, lebendiger Sprache gehalten, bedient sich vieler Originalzitate, die in Kursivschrift eingeschoben sind, und belebt mit vielen sachlichen oder biografischen Details. Die Abbildungen sind übersichtlich, gelegentlich sogar spektakulär.
Teil A befasst sich mit der gültigen Lehrbuch-Evolutionslehre, also mit Darwin und wie daraus der sogenannte Neodarwinismus entstanden ist. Bei dieser Theorie wird neben der Mutation einzig die positive Selektion von Individuen mit den fittesten Eigenschaften (survival of the fittest) als evolutionäre Triebfeder verstanden, zwei Prozessen, die sich statistisch auf der Populationsebene mit der Herausbildung neuer Arten manifestiert. Der Autor ist immer redlich bemüht, verschiedene Positionen fair einander gegenüber zu stellen. So legt ein neuer statistisch-mathematischer Ansatz nahe, dass Evolution wohl auch ohne Selektion fortschreiten könnte (M. Lynch). Ebenso wird die dem Neodarwinismus zugrundeliegende Annahme eines gleichmäßigen Fortschritts (Gradualismus) durch die Punktualismus-Debatte (insb. S. Gould) hinterfragt.
Der Teil B stellt das Kernstück des Buches dar. Hier wird eine wesentliche Lücke der "Synthese" aufgedeckt, auf die namhafte Embryologen über das ganze letzte Jahrhundert hinweg hingewiesen hatten, jedoch nicht gehört wurden, die aber von Molekulargenetikern nun zu einem nicht mehr negierbaren Feld der Evolutionsforschung gemacht haben: Diese Lücke war, dass sich die Synthesis keine Gedanken gemacht hatte, wie neue variante Formen in diese Welt kommen, und somit neue Arten entstehen können. Bei EvoDevo geht es um das Thema "Arrival of the fittest", nicht mehr um "Survival of the fittest". Dass sich die Synthesis so erfolgreich über die Embryologie hinwegsetzen konnte, hatte mit einem völlig verfehlten Genverständnis zu tun.
In Teil B werden Vertreter von EvoDevo vorgestellt. Einige Forscher haben 2008 Lücken der Synthese erörtert. Lange macht deutlich, dass Strukturformen im Phänotyp, etwa die Zehen von Wirbeltieren, rein genetisch nicht erklärt werden können. Vielmehr werden hierfür Turing-Modelle auf Zellebene herangezogen.
Teil C beleuchtet den "Unterbau", die Evolutionstheorie aus Sicht moderner Wissenschaftstheorie. Beschränkungen durch reduktionistische Forschung sowie durch eine immense Komplexität des Themas Evolution werden diskutiert.
Lange legt somit ein wichtiges Buch vor. Die Bedeutung der molekularen Entwicklungsbiologie für die Entstehung von EvoDevo-Denken bleibt mir ein wenig unterbelichtet. Diesbezüglich hätte ich auch die Abfolge der Themen etwas anders vollzogen. Das Buch orientiert sich sehr stark am Altenberg-16-Bericht; einige wichtige Vorläufer von EvoDevo-Denken bleiben unberücksichtigt, wie z.B. Goldschmidt oder die Gutmann-Schule. Hin und wieder werden Fachbegriffe als bekannt vorausgesetzt, was für Nichtbiologen schwierig werden kann.
Insgesamt bewerte ich diese kleinen Mängel als unerheblich im Vergleich zur Bedeutung dieses Werkes. Ich wünsche daher diesem Buch eine weitere gute Verbreitung.
Paul G. Layer, Professor (i.R.) für Entwicklungsbiologie und Neurogenetik.