Lesen Sie sich mit einer ausführlichen Leseprobe von fast 100 Seiten in den neuen Roman von Nino Haratischwili, "Das achte Leben (Für Brillka)", ein und erfahren Sie im Interview mit der Autorin einiges über die Entstehung dieses berauschenden Epos. Georgien, 1900: Mit der Geburt Stasias, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten, beginnt diese spannungsreiche Familiensaga, ein berauschendes Epos über sechs Generationen. Stasia wächst in der wohlhabenden Oberschicht auf und heiratet jung den Weißgardisten Simon Jaschi, der am Vorabend der Oktoberrevolution nach Petrograd versetzt wird, weit weg von seiner Frau. Als Stalin an die Macht kommt, sucht Stasia mit ihren beiden Kindern Kitty und Kostja in Tbilissi Schutz bei ihrer Schwester Christine, die bekannt ist für ihre atemberaubende Schönheit. Doch als der Geheimdienstler Lawrenti Beria auf sie aufmerksam wird, hat das fatale Folgen ... Deutschland, 2006: Nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der UdSSR herrscht in Georgien Bürgerkrieg. Niza, Stasias hochintelligente Urenkelin, hat mit ihrer Familie gebrochen und ist nach Berlin ausgewandert. Als ihre zwölfjährige Nichte Brilka nach einer Reise in den Westen nicht mehr nach Tbilissi zurückkehren möchte, spürt Niza sie auf. Ihr wird sie die ganze Geschichte erzählen: von Stasia, die still den Zeiten trotzt, von Christine, die für ihre Schönheit einen hohen Preis zahlt, von Kitty, der alles genommen wird und die doch in London eine Stimme findet, von Kostja, der den Verlockungen der Macht verfällt und die Geschicke seiner Familie lenkt, von Kostjas rebellischer Tochter Elene und deren Töchtern Daria und Niza und von der Heißen Schokolade nach der Geheimrezeptur des Schokoladenfabrikanten, die für sechs Generationen Rettung und Unglück zugleich bereithält.
buecher-magazin.deNiza hat Georgien hinter sich gelassen und möchte auch nicht dorthin zurück, vielen Dank. Als ihre Mutter sie anruft, geht es wider Erwarten nicht darum "welch eine schlechte Tochter und welch ein gescheiterter Mensch ich war". Nizas Nichte Brilka, zwölf Jahre alt, hochgewachsen, auf Männerrollen spezialisiert, hat sich nach einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe in Amsterdam aus dem Hotel gestohlen und ist in Deutschland gestrandet. Niza soll sie abholen, sofort. Und Niza macht sich auf den Weg, erzählt auf sie zu. Sie holt weit aus. Sie beginnt bei Brilkas Urururgroßvater, einem Chocolatier aus der georgischen Provinz. Dieser Mann ist im Besitz eines Schokoladenrezepts, das höchsten Genuss verschafft und tötet. Er lässt seine Tochter Stasia das Rezept auswendig lernen und verpflichtet sie zu absoluter Geheimhaltung. Überhaupt umarmen sich in diesem Buch Ekstase und Tod, große Freude und großes Unglück. Wir folgen Brilkas Vorfahren nach Tbilisi, Moskau und London bis nach Berlin - durch starke Bilder und eine schöne, leicht abseitige Sprache. Nino Haratischwili malt in dunklen Farben, breiten Strichen - und sobald sie einen weit genug zurücktreten lässt, ist zu erkennen, dass es sich um ein riesiges Gemälde handelt, das dieses ganze wirre, blutige 20. Jahrhundert zeigt.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Gefühlsstark, geschichtentrunken und unsagbar souverän ist dieser dritte Roman von Nino Haratischwili für Rezensentin Martina Läubli. So üppig der Stoff einer hundertjährigen Familiengeschichte, den die Autorin vor dem Hintergrund georgischer Geschichte im 20. Jahrhundert ausbreitet, so dramaturgisch versiert, farbig und packend erzählt die Autorin, meint Läubli. Dass die Autorin Mut zur Größe zeigt und mit theatralischer Geste menschliche Dramen und den Weg Georgiens durch Revolutionen, Kriege und Stalins Säuberungen zu inszenieren vermag, ohne den Leser auch nur auf einer von 1280 Seiten zu langweilen, ist für Läubli eine enorme Leistung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.07.2015Der Wahnsinn
des Jahrhunderts
Aufstieg und Apokalypse des an sich selbst irre werdenden kommunistischen Riesenreiches, von der Zarenzeit bis zum Mauerfall, das ganz große Gemälde: hundert Jahre, zwei Weltkriege, drei Frauengenerationen, hunderttausend Tränen, 1280 Seiten. Eine Zumutung – und was für eine! Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren, seit 2003 in Hamburg lebend, erzählt hier die Geschichte der georgischen Geschwister Kostja, Christine und Kitty Jaschi (und ihrer Töchter; und Töchterstöchter), in deren Leben sich dieses wahnsinnige 20. Jahrhundert auf ganz unterschiedliche Weise vollzieht. Der eine wird Günstling des Regimes, die andere ohnmächtige Geliebte des Geheimdienstchefs, die nächste versucht mit allen Mitteln, die Familie zu retten. Und scheitert. Keiner, der diesen dreien einmal von Tiflis über Leningrad bis nach Moskau gefolgt ist, wird sie je wieder vergessen. Alles drin: Liebe, Hass, Verrat, Vergebung. Wahrheit und Kitsch. Krieg und Frieden. Wer jetzt Tolstoi schreit: auf eigene Verantwortung. Aber was soll man sagen, es stimmt ja. TANJA REST
Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014.
1280 Seiten,
34 Euro. E-Book 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Jahrhunderts
Aufstieg und Apokalypse des an sich selbst irre werdenden kommunistischen Riesenreiches, von der Zarenzeit bis zum Mauerfall, das ganz große Gemälde: hundert Jahre, zwei Weltkriege, drei Frauengenerationen, hunderttausend Tränen, 1280 Seiten. Eine Zumutung – und was für eine! Nino Haratischwili, 1983 in Tiflis geboren, seit 2003 in Hamburg lebend, erzählt hier die Geschichte der georgischen Geschwister Kostja, Christine und Kitty Jaschi (und ihrer Töchter; und Töchterstöchter), in deren Leben sich dieses wahnsinnige 20. Jahrhundert auf ganz unterschiedliche Weise vollzieht. Der eine wird Günstling des Regimes, die andere ohnmächtige Geliebte des Geheimdienstchefs, die nächste versucht mit allen Mitteln, die Familie zu retten. Und scheitert. Keiner, der diesen dreien einmal von Tiflis über Leningrad bis nach Moskau gefolgt ist, wird sie je wieder vergessen. Alles drin: Liebe, Hass, Verrat, Vergebung. Wahrheit und Kitsch. Krieg und Frieden. Wer jetzt Tolstoi schreit: auf eigene Verantwortung. Aber was soll man sagen, es stimmt ja. TANJA REST
Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014.
1280 Seiten,
34 Euro. E-Book 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2014Keine Zeit, sich rauszuhalten
Wer schreibt die Erzählung, die den Europäern die Kraft verleiht, wieder an ihre Ideale zu glauben? Nino Haratischwili, in Georgien geboren, hat in ihrem neuen Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" damit begonnen: 1300 Seiten unserer Geschichte, vom Rande her erzählt. Von dort, wo die Menschen aus grausamer Erfahrung wissen, wie leicht und schnell man abstürzen kann
Am Ende dann, nach 1277 Seiten, sind die Seiten weiß. Das achte Buch, das den Namen "Brilka" trägt, ist noch leer. Brilka ist zwölf Jahre alt, lebt in Georgien, hat ein Leben noch vor und viele tausend Leben hinter sich. Die Leben ihrer Tanten, Onkel, Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, so viele Leben, so viele Tode trägt sie in sich.
Wie wir alle. Jeder neue Mensch, der diese Welt betritt, trägt eine größere Last an Vorgeschichte, Vorgeschichten mit sich herum als die Vorgängergeneration. Eine Last oder ein Geschenk. Weisheiten, Grausamkeiten, Träume, Todesarten, Erleben, Staunen, Abstumpfen. Der Berg von Geschichten, auf dem wir geboren werden, wird immer höher. Wir kommen immer älter auf die Welt.
Der Roman, von dem hier die Rede ist, mit den weißen Seiten am Ende, klettert vom Berg der Vergangenheiten fünf Generationen hinab. Es ist die Geschichte eines Schokoladenfabrikanten aus einer kleinen Stadt in Georgien und seiner Nachkommen. Die Geschichte beginnt im Jahr 1900 und endet kurz vor heute. Geschrieben hat ihn Nino Haratischwili, vor 31 Jahren in Tbilissi (Tiflis) geboren, mit zwölf nach Deutschland gekommen, Theaterregisseurin, Dramatikerin, Verfasserin der Romane "Juja" und "Mein sanfter Zwilling", die beide von einem schönen Talent zeugten, aber auch nicht gerade Bäng! machten, als sie erschienen. Haratischwilis Ton war nicht, wie bei anderen Autoren, die mit ihren fremden Sprachen hier ins Deutsche eingewandert waren, bei Terézia Mora etwa oder Feridun Zaimoglu oder Katja Petrowskaja, gleich auf den ersten Seiten als fremd, selbstbewusst verrutscht, besonders und neu zu erkennen. Sondern souveräner, korrekter, vielleicht auch angepasster an die neue Sprache, in der sie schrieb.
Und jetzt also: 1277 Seiten, Familienepos, Jahrhundertroman, es gibt schon gute Gründe, als Leser da erst mal skeptisch zu sein. Erstens kann das ohnehin fast niemand: über eine so lange Strecke nicht zu langweilen, die Fäden der Geschichte zusammenzuhalten, Zusammenhänge nicht zu behaupten, sondern zu erzählen. Und dann noch: zwei Weltkriege, noch mehr Revolutionen, Folter, Flucht, Exil, das ganze europäische Jahrhundert schon mal neu - da denkt man großväterlich: Junge Frau, sehr mutig, aber das lasse ich mir lieber aus lebens- und literaturerfahrener Greisenperspektive erzählen.
Und jetzt das. Und jetzt dieser Roman über Stasia und Kostja, Kitty und Andro, über Ida und Ida, Niza, Alla, Fred. Über eine Schokolade mit Zauberkraft, Europa als Sehnsucht, Wien als Sehnsucht, über einen Diktator, der in Georgien auf die Welt kam und der im Roman immer nur Soso oder Generalissimo genannt wird, als gelte es, den dunklen Zauber heute noch zu bannen. Über den Geheimdienstchef Beria, der auch in Georgien geboren wurde, im Roman nur "der große kleine Mann" genannt wird und der als dunkle Macht die georgische Schokoladenfamilie ins Verderben schickt. Aus Liebe oder Begehren oder Gier oder so etwas in der Art.
Ein georgisches Mädchen, Brilka, zwölf Jahre alt, fährt durch das Europa der Gegenwart, den "Kontinent der Gleichgültigkeit", wie es heißt. Sie will Sängerin werden, Tänzerin, sie will nach Wien, um dort die Rechte an den Liedern zu erwerben, die eine Vorfahrin von ihr, Kitty, vor vielen Jahren komponiert und gesungen hat. Sie fühlt sich diesen Liedern verwandt, eine Sehnsucht ist darin, ein Schmerz, den sie kennt. Aber sie kennt die Ursache des Schmerzes nicht. Sie ist in ein Schweigen hineingeboren worden, ihre Eltern sind früh gestorben, sie wächst bei der Großmutter auf. Sie weiß nicht einmal, wie ihre Mutter starb. Es heißt, sie sei von einer Dachterrasse gefallen. Warum? Hat sie sich umgebracht? Und wieder: Warum? Niemand redet mit ihr. Schon ihren Vorfahren ging das so: "Sie wurden genauso vom Schweigen verschluckt, wie alle anderen Familienmitglieder, sie wurden vom Schweigen aufgefressen, als wäre es ein großer Wal, in dessen Bauch sie, einer nach dem anderen, gelandet waren."
Das Mädchen Brilka sucht, vom Familienschweigen terrorisiert, ihre Tante Niza auf, die in Georgien geboren wurde und seit einigen Jahren in Berlin lebt. Von ihr erhofft sie sich Hilfe bei der Suche nach den Liedern. Bei der Suche nach ihrer Geschichte. Und Niza schreibt es für sie auf. Sie ist die Erzählerin dieses Romans, den Nino Haratischwili "Das achte Leben (Für Brilka)" genannt hat. Sie hatte sich ihr bisheriges Leben lang mit aller Macht gegen dieses Wissen gewehrt. Aus Angst, im Strudel der Geschichten zu versinken, überwältigt zu werden von den Schicksalen aus der Vergangenheit: "Eine Armee würde mich überrollen, gegen die ich machtlos wäre." Doch Niza beginnt zu forschen, beginnt zu erzählen.
Nino Haratischwili, in die Erzählerin Niza verwandelt, fliegt durch die Geschichte. Erzählt mal märchenhaft, dann wieder brutal realistisch, erzählt vom Ururgroßvater, seinen Reisen durch Europa nach dem Rezept für die perfekte Schokolade, seiner Suche in Budapest, in Wien. Bis er das vollendete Rezept schließlich beisammen hat; eine russisch-europäische Symbiose. Sein Schokoladenideal: "Die Chocolaterie vollbrachte es, die französische Patisserie und die österreichische Backtradition mit osteuropäischer Opulenz zu vereinen." Doch die magische Schokolade des Urahnen scheint mit einem Fluch belegt. Wer sie trinkt, verliert den Boden unter den Füßen. Sie beschert denen, die sie genießen, so viel Glück, dass sich die Realität daraufhin umso grausamer an ihnen rächt.
Diese phantastisch schmeckende Unheilsschokolade ist das Leitmotiv des Romans. Das Rezept wird von Tochter zu Tochter als Geheimnis weitergereicht und in den dunkelsten Momenten der Geschichte angewendet. Gekocht, um die brutalsten Schicksalsschläge auszuhalten, ist das Leben danach immer noch dunkler. Das ist märchenhaft und unwahrscheinlich und ist es nicht. Es ist: georgisch.
Haratischwili beschreibt die Menschen ihres Heimatlandes so: Sie sind grundsätzlich bereit, "alles zu glauben, was auch nur ansatzweise märchenhaft, geheimnisvoll oder legendär anmutet". So ist auch die Erzählerin des Buches: unbedingt glaubensbereit. Und diese Glaubensbereitschaft überträgt sich auf den Leser, auch den ungeorgischen, durch erzählerische Kraft. Man spürt einfach, dass die Erzählerin gar nicht auf die Idee kommt, das Unwahrscheinliche anzuzweifeln. Es ist so zwingend möglich, dass es glaubhaft wirklich wird. Und je mehr Seiten man dieser Geschichte folgt, umso kleiner werden die Zweifel des Lesers. Am Ende fühlt man sich beinahe als Teil dieser Geschichte, als Romanfigur - oder die Figuren als Teil des wahren Lebens.
Der Roman ist in acht Bücher unterteilt. Jedes Buch trägt den Namen eines Familienmitglieds. Wir begleiten die Nachkommen des Schokokönigs durch die Zeit. Stasia zunächst, seine stolze Tochter, die im Herrenstil reitet, filterlose Zigaretten raucht, die den sentimentalen Simon heiratet, dessen Herz "dem alten Russland, der europäischen Elite, dem schönen, glanzvollen Leben der guten alten Zeit gehört". Ein weicher Mann, der sich zunächst weigert, sich einer der Ideologien seiner Zeit auszuliefern.
Doch die Ideologien warten nicht, dass man sich ihnen verschreibt, es sind die ersten zehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Georgien, das bald zu Russland gehören soll. Keine Zeit, sich rauszuhalten. Simon Jaschi ist der Erste, der erlischt in diesem Riesenbuch. Ja, Erlöschen. Die meisten der Familienhelden sterben nicht schnell. Sie leben lange. Aber sie alle haben etwas gesehen, etwas erlebt, was eigentlich nicht auszuhalten ist. Das Schlimme ist: Es ist eben doch auszuhalten. Immer noch etwas mehr ist auszuhalten. Die Frage ist dann nur: Wie lebt man weiter, wenn man das erlebt hat?
Das Unheil beginnt beinahe sanft, der Ururgroßvater verliert seine Fabrik, er darf zunächst noch als Angestellter dort arbeiten, doch bald schon wird das Haus, in dem der Traum der Einheit Europas und Russlands Wirklichkeit geworden war, dichtgemacht und irgendeine Kantine dort eröffnet. Simon tötet einen Menschen und verliert den Glauben an sich selbst. Er wird noch viele Menschen töten und viele Jahre später in Stalingrad verschwinden.
Es geschieht so viel. Vor allem den Frauen geschieht Schreckliches. Vielleicht auch, weil sie so stark und mächtig und schön und selbstbewusst sind. Nino Haratischwili schenkt der Literatur einige unglaublich mondäne, große, großartige neue Frauengestalten. Die in Palästen hausen, Männerkleider tragen, Männer beherrschen, Frauen lieben, unendlich grausam sind, stark, leidensfähig. In diesem Buch bleibt keiner ohne Erfahrungen des Grauens. Die Menschen, Paare, erleben es meist getrennt voneinander. Danach sehen sie sich wieder. Und können nicht sprechen. Können sich meist nicht einmal mehr berühren. Es ist ein Schweigen zwischen ihnen, ein Leiden, das nicht erzählbar ist. Es wird Generationen dauern, bis es erzählt werden kann. Dazwischen ist eine Stille, an der die Menschen beinahe ersticken.
Sie können nicht sprechen. Und sie dürfen es auch nicht. Das Schweigen wird in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zur sowjetischen Staatsdoktrin: "Warum sie uns verbannen, uns den Kontakt mit anderen Menschen verbieten, uns loswerden wollen? Weil wir es begriffen haben, weil wir alles mit unseren Augen gesehen haben! Wir, die überlebt haben, sind zurück, und sie wissen, dass wir nicht mehr in der Lüge leben können, und man weiß nicht, was man mit uns anstellen soll. Wir überfordern sie. Sie wollen, dass wir alles vergessen."
Das Schweigen, das Erleben, das Leiden verkapselt sich in den Menschen und führt immer wieder zu neuer Gewalt. Gegen sich selbst und gegen andere.
Nino Haratischwili hat die europäische Geschichte als Familiengeschichte neu erzählt. Eine Geschichte vom Rande aus betrachtet: Georgien ist nicht Teil Europas, der "Balkon Europas" wird das Land im Osten oft genannt. Ein Balkon, von dem sich die Menschen herunterstürzen wollen oder von dem sie das Geschehen wie von einer Loge aus betrachten, ein Balkon, unter dem sie Schutz suchen. Ein Balkon, auf dem, in guten Zeiten, das Beste aus Europa und aus Russland zusammenfand.
Europa muss sich neu erzählen - viele unterschiedliche Schriftsteller haben das in diesem Jahr gefordert. Der irakischstämmige deutsche Autor Sherkoh Fatah, der Inder Pankaj Mishra, der Äthiopier Dinaw Mengestu, die in Kenia aufgewachsene Britin Priya Basil, der Amerikaner Dave Eggers, die in Kiew geborene, deutschsprachige Autorin Katja Petrowskaja. Sie alle wünschen sich auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen eine neue, kraftvolle Erzählung der europäischen Idee, der europäischen Ideale, der europäischen Vergangenheit.
Eine Erzählung, die von den europäischen Politikern der Gegenwart komplett verweigert wird. Eine Erzählung von Solidarität, eine ebenso selbstkritische wie selbstbewusste Erzählung der europäischen Ideen. Die vom besten und schlimmsten in der Geschichte Europas weiß und daraus Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zieht. Eine Erzählung, die die Menschen für die Idee Europas begeistert, die Antworten geben kann: auf die Fragen des Umgangs mit Flüchtlingen an den Außengrenzen, gewaltsamen Interventionen an den Außengrenzen. Eine Erzählung aus zersplitterten Erfahrungen für eine gemeinschaftliche Idee, eine Erzählung von den Rändern Europas für das Zentrum. Für alle.
Eine solche große Erzählung hat die in Georgien geborene, deutsche Autorin Nino Haratischwili mit ihrem neuen Roman geschaffen. Die letzten Seiten sind leer. Brilka, das Mädchen aus der Gegenwart, das sich fühlt, als wäre es ohne Bauchnabel auf die Welt gekommen, ohne Vorgeschichte, ohne Leitfaden für sein Leben, sie soll diese leeren Seiten füllen.
Aber wir wissen nicht, ob Brilka sie füllen wird. Vielleicht ist Brilka ja doch nur eine Fiktion. Vielleicht müssen wir die Seiten selber füllen.
VOLKER WEIDERMANN
Nino Haratischwili: "Das achte Leben (Für Brilka)". Frankfurter Verlagsanstalt, 1277 Seiten, 34 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer schreibt die Erzählung, die den Europäern die Kraft verleiht, wieder an ihre Ideale zu glauben? Nino Haratischwili, in Georgien geboren, hat in ihrem neuen Roman "Das achte Leben (Für Brilka)" damit begonnen: 1300 Seiten unserer Geschichte, vom Rande her erzählt. Von dort, wo die Menschen aus grausamer Erfahrung wissen, wie leicht und schnell man abstürzen kann
Am Ende dann, nach 1277 Seiten, sind die Seiten weiß. Das achte Buch, das den Namen "Brilka" trägt, ist noch leer. Brilka ist zwölf Jahre alt, lebt in Georgien, hat ein Leben noch vor und viele tausend Leben hinter sich. Die Leben ihrer Tanten, Onkel, Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, so viele Leben, so viele Tode trägt sie in sich.
Wie wir alle. Jeder neue Mensch, der diese Welt betritt, trägt eine größere Last an Vorgeschichte, Vorgeschichten mit sich herum als die Vorgängergeneration. Eine Last oder ein Geschenk. Weisheiten, Grausamkeiten, Träume, Todesarten, Erleben, Staunen, Abstumpfen. Der Berg von Geschichten, auf dem wir geboren werden, wird immer höher. Wir kommen immer älter auf die Welt.
Der Roman, von dem hier die Rede ist, mit den weißen Seiten am Ende, klettert vom Berg der Vergangenheiten fünf Generationen hinab. Es ist die Geschichte eines Schokoladenfabrikanten aus einer kleinen Stadt in Georgien und seiner Nachkommen. Die Geschichte beginnt im Jahr 1900 und endet kurz vor heute. Geschrieben hat ihn Nino Haratischwili, vor 31 Jahren in Tbilissi (Tiflis) geboren, mit zwölf nach Deutschland gekommen, Theaterregisseurin, Dramatikerin, Verfasserin der Romane "Juja" und "Mein sanfter Zwilling", die beide von einem schönen Talent zeugten, aber auch nicht gerade Bäng! machten, als sie erschienen. Haratischwilis Ton war nicht, wie bei anderen Autoren, die mit ihren fremden Sprachen hier ins Deutsche eingewandert waren, bei Terézia Mora etwa oder Feridun Zaimoglu oder Katja Petrowskaja, gleich auf den ersten Seiten als fremd, selbstbewusst verrutscht, besonders und neu zu erkennen. Sondern souveräner, korrekter, vielleicht auch angepasster an die neue Sprache, in der sie schrieb.
Und jetzt also: 1277 Seiten, Familienepos, Jahrhundertroman, es gibt schon gute Gründe, als Leser da erst mal skeptisch zu sein. Erstens kann das ohnehin fast niemand: über eine so lange Strecke nicht zu langweilen, die Fäden der Geschichte zusammenzuhalten, Zusammenhänge nicht zu behaupten, sondern zu erzählen. Und dann noch: zwei Weltkriege, noch mehr Revolutionen, Folter, Flucht, Exil, das ganze europäische Jahrhundert schon mal neu - da denkt man großväterlich: Junge Frau, sehr mutig, aber das lasse ich mir lieber aus lebens- und literaturerfahrener Greisenperspektive erzählen.
Und jetzt das. Und jetzt dieser Roman über Stasia und Kostja, Kitty und Andro, über Ida und Ida, Niza, Alla, Fred. Über eine Schokolade mit Zauberkraft, Europa als Sehnsucht, Wien als Sehnsucht, über einen Diktator, der in Georgien auf die Welt kam und der im Roman immer nur Soso oder Generalissimo genannt wird, als gelte es, den dunklen Zauber heute noch zu bannen. Über den Geheimdienstchef Beria, der auch in Georgien geboren wurde, im Roman nur "der große kleine Mann" genannt wird und der als dunkle Macht die georgische Schokoladenfamilie ins Verderben schickt. Aus Liebe oder Begehren oder Gier oder so etwas in der Art.
Ein georgisches Mädchen, Brilka, zwölf Jahre alt, fährt durch das Europa der Gegenwart, den "Kontinent der Gleichgültigkeit", wie es heißt. Sie will Sängerin werden, Tänzerin, sie will nach Wien, um dort die Rechte an den Liedern zu erwerben, die eine Vorfahrin von ihr, Kitty, vor vielen Jahren komponiert und gesungen hat. Sie fühlt sich diesen Liedern verwandt, eine Sehnsucht ist darin, ein Schmerz, den sie kennt. Aber sie kennt die Ursache des Schmerzes nicht. Sie ist in ein Schweigen hineingeboren worden, ihre Eltern sind früh gestorben, sie wächst bei der Großmutter auf. Sie weiß nicht einmal, wie ihre Mutter starb. Es heißt, sie sei von einer Dachterrasse gefallen. Warum? Hat sie sich umgebracht? Und wieder: Warum? Niemand redet mit ihr. Schon ihren Vorfahren ging das so: "Sie wurden genauso vom Schweigen verschluckt, wie alle anderen Familienmitglieder, sie wurden vom Schweigen aufgefressen, als wäre es ein großer Wal, in dessen Bauch sie, einer nach dem anderen, gelandet waren."
Das Mädchen Brilka sucht, vom Familienschweigen terrorisiert, ihre Tante Niza auf, die in Georgien geboren wurde und seit einigen Jahren in Berlin lebt. Von ihr erhofft sie sich Hilfe bei der Suche nach den Liedern. Bei der Suche nach ihrer Geschichte. Und Niza schreibt es für sie auf. Sie ist die Erzählerin dieses Romans, den Nino Haratischwili "Das achte Leben (Für Brilka)" genannt hat. Sie hatte sich ihr bisheriges Leben lang mit aller Macht gegen dieses Wissen gewehrt. Aus Angst, im Strudel der Geschichten zu versinken, überwältigt zu werden von den Schicksalen aus der Vergangenheit: "Eine Armee würde mich überrollen, gegen die ich machtlos wäre." Doch Niza beginnt zu forschen, beginnt zu erzählen.
Nino Haratischwili, in die Erzählerin Niza verwandelt, fliegt durch die Geschichte. Erzählt mal märchenhaft, dann wieder brutal realistisch, erzählt vom Ururgroßvater, seinen Reisen durch Europa nach dem Rezept für die perfekte Schokolade, seiner Suche in Budapest, in Wien. Bis er das vollendete Rezept schließlich beisammen hat; eine russisch-europäische Symbiose. Sein Schokoladenideal: "Die Chocolaterie vollbrachte es, die französische Patisserie und die österreichische Backtradition mit osteuropäischer Opulenz zu vereinen." Doch die magische Schokolade des Urahnen scheint mit einem Fluch belegt. Wer sie trinkt, verliert den Boden unter den Füßen. Sie beschert denen, die sie genießen, so viel Glück, dass sich die Realität daraufhin umso grausamer an ihnen rächt.
Diese phantastisch schmeckende Unheilsschokolade ist das Leitmotiv des Romans. Das Rezept wird von Tochter zu Tochter als Geheimnis weitergereicht und in den dunkelsten Momenten der Geschichte angewendet. Gekocht, um die brutalsten Schicksalsschläge auszuhalten, ist das Leben danach immer noch dunkler. Das ist märchenhaft und unwahrscheinlich und ist es nicht. Es ist: georgisch.
Haratischwili beschreibt die Menschen ihres Heimatlandes so: Sie sind grundsätzlich bereit, "alles zu glauben, was auch nur ansatzweise märchenhaft, geheimnisvoll oder legendär anmutet". So ist auch die Erzählerin des Buches: unbedingt glaubensbereit. Und diese Glaubensbereitschaft überträgt sich auf den Leser, auch den ungeorgischen, durch erzählerische Kraft. Man spürt einfach, dass die Erzählerin gar nicht auf die Idee kommt, das Unwahrscheinliche anzuzweifeln. Es ist so zwingend möglich, dass es glaubhaft wirklich wird. Und je mehr Seiten man dieser Geschichte folgt, umso kleiner werden die Zweifel des Lesers. Am Ende fühlt man sich beinahe als Teil dieser Geschichte, als Romanfigur - oder die Figuren als Teil des wahren Lebens.
Der Roman ist in acht Bücher unterteilt. Jedes Buch trägt den Namen eines Familienmitglieds. Wir begleiten die Nachkommen des Schokokönigs durch die Zeit. Stasia zunächst, seine stolze Tochter, die im Herrenstil reitet, filterlose Zigaretten raucht, die den sentimentalen Simon heiratet, dessen Herz "dem alten Russland, der europäischen Elite, dem schönen, glanzvollen Leben der guten alten Zeit gehört". Ein weicher Mann, der sich zunächst weigert, sich einer der Ideologien seiner Zeit auszuliefern.
Doch die Ideologien warten nicht, dass man sich ihnen verschreibt, es sind die ersten zehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Georgien, das bald zu Russland gehören soll. Keine Zeit, sich rauszuhalten. Simon Jaschi ist der Erste, der erlischt in diesem Riesenbuch. Ja, Erlöschen. Die meisten der Familienhelden sterben nicht schnell. Sie leben lange. Aber sie alle haben etwas gesehen, etwas erlebt, was eigentlich nicht auszuhalten ist. Das Schlimme ist: Es ist eben doch auszuhalten. Immer noch etwas mehr ist auszuhalten. Die Frage ist dann nur: Wie lebt man weiter, wenn man das erlebt hat?
Das Unheil beginnt beinahe sanft, der Ururgroßvater verliert seine Fabrik, er darf zunächst noch als Angestellter dort arbeiten, doch bald schon wird das Haus, in dem der Traum der Einheit Europas und Russlands Wirklichkeit geworden war, dichtgemacht und irgendeine Kantine dort eröffnet. Simon tötet einen Menschen und verliert den Glauben an sich selbst. Er wird noch viele Menschen töten und viele Jahre später in Stalingrad verschwinden.
Es geschieht so viel. Vor allem den Frauen geschieht Schreckliches. Vielleicht auch, weil sie so stark und mächtig und schön und selbstbewusst sind. Nino Haratischwili schenkt der Literatur einige unglaublich mondäne, große, großartige neue Frauengestalten. Die in Palästen hausen, Männerkleider tragen, Männer beherrschen, Frauen lieben, unendlich grausam sind, stark, leidensfähig. In diesem Buch bleibt keiner ohne Erfahrungen des Grauens. Die Menschen, Paare, erleben es meist getrennt voneinander. Danach sehen sie sich wieder. Und können nicht sprechen. Können sich meist nicht einmal mehr berühren. Es ist ein Schweigen zwischen ihnen, ein Leiden, das nicht erzählbar ist. Es wird Generationen dauern, bis es erzählt werden kann. Dazwischen ist eine Stille, an der die Menschen beinahe ersticken.
Sie können nicht sprechen. Und sie dürfen es auch nicht. Das Schweigen wird in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zur sowjetischen Staatsdoktrin: "Warum sie uns verbannen, uns den Kontakt mit anderen Menschen verbieten, uns loswerden wollen? Weil wir es begriffen haben, weil wir alles mit unseren Augen gesehen haben! Wir, die überlebt haben, sind zurück, und sie wissen, dass wir nicht mehr in der Lüge leben können, und man weiß nicht, was man mit uns anstellen soll. Wir überfordern sie. Sie wollen, dass wir alles vergessen."
Das Schweigen, das Erleben, das Leiden verkapselt sich in den Menschen und führt immer wieder zu neuer Gewalt. Gegen sich selbst und gegen andere.
Nino Haratischwili hat die europäische Geschichte als Familiengeschichte neu erzählt. Eine Geschichte vom Rande aus betrachtet: Georgien ist nicht Teil Europas, der "Balkon Europas" wird das Land im Osten oft genannt. Ein Balkon, von dem sich die Menschen herunterstürzen wollen oder von dem sie das Geschehen wie von einer Loge aus betrachten, ein Balkon, unter dem sie Schutz suchen. Ein Balkon, auf dem, in guten Zeiten, das Beste aus Europa und aus Russland zusammenfand.
Europa muss sich neu erzählen - viele unterschiedliche Schriftsteller haben das in diesem Jahr gefordert. Der irakischstämmige deutsche Autor Sherkoh Fatah, der Inder Pankaj Mishra, der Äthiopier Dinaw Mengestu, die in Kenia aufgewachsene Britin Priya Basil, der Amerikaner Dave Eggers, die in Kiew geborene, deutschsprachige Autorin Katja Petrowskaja. Sie alle wünschen sich auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen eine neue, kraftvolle Erzählung der europäischen Idee, der europäischen Ideale, der europäischen Vergangenheit.
Eine Erzählung, die von den europäischen Politikern der Gegenwart komplett verweigert wird. Eine Erzählung von Solidarität, eine ebenso selbstkritische wie selbstbewusste Erzählung der europäischen Ideen. Die vom besten und schlimmsten in der Geschichte Europas weiß und daraus Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zieht. Eine Erzählung, die die Menschen für die Idee Europas begeistert, die Antworten geben kann: auf die Fragen des Umgangs mit Flüchtlingen an den Außengrenzen, gewaltsamen Interventionen an den Außengrenzen. Eine Erzählung aus zersplitterten Erfahrungen für eine gemeinschaftliche Idee, eine Erzählung von den Rändern Europas für das Zentrum. Für alle.
Eine solche große Erzählung hat die in Georgien geborene, deutsche Autorin Nino Haratischwili mit ihrem neuen Roman geschaffen. Die letzten Seiten sind leer. Brilka, das Mädchen aus der Gegenwart, das sich fühlt, als wäre es ohne Bauchnabel auf die Welt gekommen, ohne Vorgeschichte, ohne Leitfaden für sein Leben, sie soll diese leeren Seiten füllen.
Aber wir wissen nicht, ob Brilka sie füllen wird. Vielleicht ist Brilka ja doch nur eine Fiktion. Vielleicht müssen wir die Seiten selber füllen.
VOLKER WEIDERMANN
Nino Haratischwili: "Das achte Leben (Für Brilka)". Frankfurter Verlagsanstalt, 1277 Seiten, 34 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main