Welche einzigartigen Bedingungen im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts herrschten, die es zum Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der menschlichen Sexualität machten, zeigt der Historiker Robert Beachy anhand einer Fülle an Figuren und Episoden. Vor allem Berlin mit seinem berühmten Nachtleben entwickelte sich in dieser Zeit zum Magneten für eine lebendige, internationale schwule Szene und zog Künstler wie Christopher Isherwood und W.H. Auden an, die der Zeit in ihren Werken ein Denkmal setzten. Mit seiner Geschichte der Homosexualität in Deutschland verändert Robert Beachy das Bild von Kaiserzeit und Weimarer Republik und fügt unserem Verständnis dieser Epoche eine wichtige Facette hinzu.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Berlin ist anders: Robert Beachy über die deutsche Erfindung der Homosexualität
Es lohnt sich, die Lektüre von Robert Beachys "Das andere Berlin" mit dem letzten Absatz zu beginnen. In einem melancholisch gestimmten Schlusswort erinnert der amerikanische Autor daran, dass der Christopher Street Day mit einigem Recht auch nach einer Berliner Straße hätte benannt werden können. Gewiss war folgenreich, was im New Yorker Greenwich Village als "Stonewall riots" im Juni 1969 seinen Ausgang nahm. Wer jedoch nach älteren Wurzeln der homosexuellen Emanzipationsbewegung sucht, für den hält Beachy einen Vorschlag bereit: Homosexualität ist eine deutsche Erfindung, die seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem von Berlin aus in die Welt kam. "Conträre Sexualempfindung" (so formulierte der Brockhaus seinerzeit) also als ein Exportschlager des noch jungen Kaiserreichs?
Es mag in solcher Zuspitzung unterkomplex klingen. Doch besticht Beachy gerade mit der scheinbaren Schlichtheit seiner These. In insgesamt acht Kapiteln entwirft er das Panorama eines "anderen Berlins". Der in Seoul lehrende Historiker beweist sich dabei als glänzender Erzähler einer komplizierten Geschichte. Manches, was Beachy anspricht, ist bereits gut erforscht, die Harden-Eulenburg-Affäre etwa oder auch die zentrale, weit über Berlin hinausreichende Rolle Magnus Hirschfelds für die wissenschaftliche Erforschung der Homosexualität. Doch erscheinen sie nun im Zusammenhang einer wechselvollen, von der Gründung des Kaiserreichs bis zum Ende der Weimarer Republik reichenden Epoche der Emanzipation. Dieser Entwurf eines großen Ganzen ist es, der Beachys Studie überaus lesenswert macht. Seine Synthese wirft insbesondere auf die wilhelminische Ära ein neues Licht. Aufgezeigt werden hierbei mentalitätsgeschichtliche Linien, die auch nicht durch die Zäsur eines Weltkriegs unterbrochen worden sind.
Liberalität tritt in einer solchen Erzählung als fragiles Gut in Erscheinung. Fortlaufend berichtet Beachy von irritierenden Nachbarschaften und von einer überraschenden Nähe des Staates zur homosexuellen Subkultur. Als etwa die Berliner Polizei im Februar 1885 das "Seegersche Lokal" in der Jägerstraße stürmte, verhaftete sie zwar zwölf Männer, die "sich geküsst, geliebkost, auf das Gesäß geklopft, einander auf den Schoß gesetzt, sich fast alle mit Mädchennamen genannt, an die Geschlechtsteile gegriffen" hatten. Doch während diese Worte eines Zivilbeamten noch zu Protokoll genommen wurden, eröffneten in der Nachbarschaft bereits fünf neue Szenebars. Das von der Berliner Polizeibehörde auf solche Erfahrungen hin eingerichtete "Homosexuellen-Dezernat" verfolgte subtilere Methoden. Tolerierung wurde nun durch Kontrolle aus der Halbdistanz gerahmt.
Bald schon, so jedenfalls legt es Beachy nahe, nahm die Idee staatlicher Kontrolle der homosexuellen Subkultur den Charakter eines Kuriositätenkabinetts an. Der Gründer und langjährige Leiter des Dezernats, Leopold von Meerscheidt-Hüllessem, führte höchstpersönlich sein internationales Publikum durch die einschlägigen Lokale, um ihnen deviante Studienobjekte zu präsentieren. Mit den Mitteln staatlicher Überwachung und dem ganzen Repertoire von Aufzeichnungsmethoden wurde aber zugleich seit den achtziger Jahren mehr und mehr festgeschrieben, wofür zwei Jahrzehnte zuvor Karl Heinrich Ulrichs vor dem Deutschen Juristentag von seinen Kollegen noch niedergeschrien wurde: die Anerkennung der Homosexualität als einer eigenen Form des Zusammenlebens, die Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Ehe hierbei übrigens eingeschlossen.
Berlin entwickelte sich jedoch nicht allein zu einem "Labor für sexuelle Abweichungen". Das von Meerscheidt-Hüllessem geführte Dezernat wurde 1896 umbenannt und war fortan für "Homosexuelle und Erpresser" zuständig. Magnus Hirschfeld schätzte, dass jeder dritte Berliner Homosexuelle im Lauf seines Lebens Opfer einer Erpressung wurde. Doch wussten nicht allein Stricher, die offenbar besonders häufig auf diese Weise ihren Freiern zusetzten, um eine solche Möglichkeit, den bürgerlichen Tod als perfide Waffe einzusetzen. 1907 wurde Homosexualität zum Gegenstand der Presse, der Gerichte und schließlich sogar des Parlaments. Zur Debatte stand eine heikle Frage: War, wissentlich oder auch nicht, Wilhelm II. von einem Kreis homosexueller Ratgeber umgeben? War Wilhelms "Liebenberger Tafelrunde", der hochrangige Diplomaten, Militärs und Politiker angehörten, nichts anderes als eine Gruppe homosexueller Freunde, die die Geschicke des Kaiserreichs in ihrem Sinne zu beeinflussen suchten?
Die von Maximilian Harden losgetretene Kampagne mündete nicht allein in Verleumdungsklagen und Prozessen. Der preußische Staat sah sich in Gestalt seines Kriegsministers Karl von Einem dazu veranlasst, vor dem Reichstag ganz offiziell das Verhältnis des Staates zur Homosexualität klarzustellen. Konnte es sein, dass es auch in den Reihen des deutschen Offizierskorps Homosexuelle gab? Im schrillen Tonfall gab der Minister Auskunft: "Ein solcher Mann darf nie und nimmer Offizier sein. Ein solcher Mann kommt in die Lage, sich gegen seinen Eid zu vergehen . . . Ein solcher Mann untergräbt die Disziplin." Für die Schlussworte seiner Rede vermerkt das Protokoll der Reichstagssitzung fortgesetzten lebhaften Beifall: "Wo ein solcher Mann mit solchen Gefühlen in der Armee weilen sollte, da möchte ich ihm zurufen: Nimm deinen Abschied, entferne dich, denn du gehörst nicht in unsere Reihen! Wird er aber gefaßt, meine Herren, wer es auch sei, und mag er stehen, an welchem Ort es auch ist, so muß er vernichtet werden." Ein Vierteljahrhundert später folgten, nicht allein in Berlin, solchen Worten die Taten. Diese Zeit genauer in den Blick zu nehmen, hat Robert Beachy für einen zweiten Band in Aussicht gestellt.
STEFFEN SIEGEL.
Robert Beachy: "Das andere Berlin". Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867-1933.
Aus dem Englischen von Hans Freundl. Siedler Verlag, Berlin 2015. 464 S., geb., 24,99 [Euro].
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