In guten wie in schlechten Zeiten
»Eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar, die im ganzen Leben nie mehr als zweiundfünfzig Kilo gewogen hat und seit diesem Silvesterabend noch viel weniger. Trotzdem gehen der Sheriff und die Anwälte davon aus, dass sie sich so weit erholen wird, dass man
sie in einen Rollstuhl setzen und dann durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fahren kann, um ihr den…mehrIn guten wie in schlechten Zeiten
»Eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar, die im ganzen Leben nie mehr als zweiundfünfzig Kilo gewogen hat und seit diesem Silvesterabend noch viel weniger. Trotzdem gehen der Sheriff und die Anwälte davon aus, dass sie sich so weit erholen wird, dass man sie in einen Rollstuhl setzen und dann durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fahren kann, um ihr den Prozess zu machen.« S.5
So beginnt die Geschichte von Edith Goodnough, fast 80, die uns von ihrem Nachbarn Sanders Roscoe erzählt wird. Und zwar ganz privat. Nicht etwa dem neugierigen Reporter vom Denver Post, den hat er mit Schmach vom Hof gejagt.
Doch um Ediths Leben bis zu dem Zeitpunkt der Tragödie 1976 zu verstehen, muss er mit ihren Eltern beginnen. Sie verlassen 1896 das fruchtbare Iowa, um ein kleines Stück Land zu besitzen, doch das Grasland ist karg und trocken. Und die Goodnoughs sind einsam und auf sich gestellt. Eine pfeiferauchende Halb-Cheyenne mit ihrem Jungen sind meilenweit ihre einzigen Nachbarn. Nach dem frühen Tod der Mutter bleiben Edith und ihr Bruder Lyman mit ihrem despotischen Vater zurück, der sie mit harter Hand erzieht und keine Liebe kennt.
Haruf hatte mich bereits auf der ersten Seite mit seinen Worten eingefangen. In ihrer Schlichtheit und Direktheit liegt etwas sehr Einfühlsames, Berührendes, das mal melancholisch, mal ironisch direkt unter die Haut geht. Die Geschichte erstreckt sich über 80 Jahre, die geprägt sind von einem spartanischen Leben und unerfüllten Träumen. Aber auch schönen Momenten, die in Ediths Leben so selten und kostbar waren.
Edith ist eine unerschütterlich verantwortungsbewusste Frau, die nie klagt, kein Selbstmitleid kennt, die tut, was sie tun muss. Ihr ganzes Leben widmet sie ihrer Familie – ihrem tyrannischen Vater und ihrem Bruder Lyman, der viele Jahre auf Reisen ist.
Es ist auch ein bisschen die Geschichte der Roscoes, denn zwischen den benachbarten Familien gibt es auch ein Band, das sie über Generationen zusammenhält, ein Band der Freundschaft, denn wer weiß, wie Ediths Leben ohne sie ausgesehen hätte.
Haruf schildert eindrücklich das entbehrungsreiche Farmerleben. Und doch schafft er es mit seinen Worten, uns auch die Schönheit des rauen Landes zu zeigen. Seine Charaktere sind einfache Menschen, die ein einfaches Leben führen, Fehler machen, auch mal ihre Pflichten vergessen, die kleinen Freuden des Lebens genießen können, vor allem aber untrennbar miteinander verbunden sind. Es menschelt gar arg, und das hat mir richtig gut gefallen.
Am Ende habe ich sehr lange über Familienbande nachgedacht. Wie viel wird von einem erwartet, wie weit reicht die Verpflichtung, wie viel ist die eigene Freiheit wert. Ist eine Familie wirklich so untrennbar miteinander verbunden, dass man sein eigenes Leben, seine Selbstverwirklichung hinter alles andere zurückstellt?
Eine wunderbare, traurige Geschichte über die Bindung zwischen Vätern, Müttern und Kindern und Freunden – über das Band, das sie hält.