»Das Dorf ist überall!« – Ein philosophisch-politischer Essay darüber, warum unsere Landlust reaktionär ist
Die Städte wachsen, aber immer mehr Menschen zieht es auch raus in die Provinz. Auch Björn Vedder ist zurück in eine ländliche Gemeinde gezogen. Mittlerweile aber lautet seine gewagte These: Die Provinz macht gemein.
Denn hinter den ach so beschaulichen Fassaden verbirgt sich oft eine andere Realität: eine krude Mischung aus Vermögens- und Familienwerten, Statuskonsum, Anpassungsdruck und sozialer Kontrolle. Eine kleine Verhaltensabweichung genügt, und man wird von der Mehrheit gejagt, gehänselt, geächtet, beschämt. Gemeinschaft birgt Gemeinheit. Warum nur wollen dann alle »raus«?
Anhand eigener Erfahrungen und mit viel schwarzem Humor demontiert Björn Vedder den Mythos vom besseren Leben in ländlichen Gegenden und entlarvt eine grundlegende Geisteshaltung, die für ihn nicht mehr nur in der Provinz zu finden ist, sondern als provinzieller Geist unsere Gesellschaft ergreift.
»Die Landlust, die hier in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, ist keine Sehnsucht nach einem konkreten Leben auf dem Lande, sondern die Hingabe an eine pittoreske Vorstellung davon, geboren aus dem Unwillen, die Entzauberung der Welt zu ertragen.«
Björn Vedder, »Das Befinden auf dem Lande«
Die Städte wachsen, aber immer mehr Menschen zieht es auch raus in die Provinz. Auch Björn Vedder ist zurück in eine ländliche Gemeinde gezogen. Mittlerweile aber lautet seine gewagte These: Die Provinz macht gemein.
Denn hinter den ach so beschaulichen Fassaden verbirgt sich oft eine andere Realität: eine krude Mischung aus Vermögens- und Familienwerten, Statuskonsum, Anpassungsdruck und sozialer Kontrolle. Eine kleine Verhaltensabweichung genügt, und man wird von der Mehrheit gejagt, gehänselt, geächtet, beschämt. Gemeinschaft birgt Gemeinheit. Warum nur wollen dann alle »raus«?
Anhand eigener Erfahrungen und mit viel schwarzem Humor demontiert Björn Vedder den Mythos vom besseren Leben in ländlichen Gegenden und entlarvt eine grundlegende Geisteshaltung, die für ihn nicht mehr nur in der Provinz zu finden ist, sondern als provinzieller Geist unsere Gesellschaft ergreift.
»Die Landlust, die hier in die Köpfe der Menschen gepflanzt wurde, ist keine Sehnsucht nach einem konkreten Leben auf dem Lande, sondern die Hingabe an eine pittoreske Vorstellung davon, geboren aus dem Unwillen, die Entzauberung der Welt zu ertragen.«
Björn Vedder, »Das Befinden auf dem Lande«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Ich lebe im Dorf, holt mich hier raus
Wo der Stay-at-home-Dad ein Exot ist: Björn Vedder berichtet von seinen heiklen Erfahrungen auf dem Land.
Von Petra Ahne
Auf dem Cover zwei Gummistiefel, einer rotglänzend schick, der andere grob und beschmutzt, dazu der Titel: "Das Befinden auf dem Lande". Man glaubt, das Buch zu einem der vielen Konflikte der Stunde in der Hand zu halten, jenem, der Städter kürzlich die einrollenden Arbeitsfahrzeuge der Bauern bestaunen ließ, im Vergleich zu denen die eigenen SUVs plötzlich ganz klein aussahen. Es geht dann aber gar nicht um die Kluft zwischen Stadt und Land, sondern um die zwischen den Erwartungen Björn Vedders an das Landleben und dem, was er vorgefunden hat. Das ist unerschrocken, bissig und manchmal sehr lustig, aber auch ein Problem.
Aufs Land ist Vedder nämlich nicht wirklich gezogen, sondern in eine der wohlhabendsten Gemeinden des Landes, an den bayerischen Ammersee. München schien nach der Geburt des zweiten Kindes nicht mehr so perfekt, die Wohnung zu klein, die Natur zu weit weg. So weit, so klassisch. In einer der den bilderbuchschönen Ammersee säumenden Ortschaften wird man fündig. Björn Vedders Frau pendelt zur Arbeit an der Münchner Uni, er, der freischaffende Publizist und Philosoph, kümmert sich wochentags um die inzwischen drei Kinder und sein wachsendes Befremden mit den anderen Eltern und deren Lebenskonzepten.
Es ist nicht das Befinden auf dem Lande, das er beschreibt, sondern sein eigenes innerhalb eines Milieus, das - wohlsituiert und bildungsnah - ihm nicht allzu fremd sein kann, in dem er als Stay-at-home-Dad aber ein noch größerer Exot ist, als er es in München-Schwabing oder Berlin-Prenzlauer Berg wäre. Am Ammersee wird offenbar noch ein traditionelles Familienmodell gepflegt und Abweichung mit Gemeinheit geahndet, wie der, dass Vedders Tochter eingeflüstert wird, ihre arbeitende Mutter interessiere sich wohl nicht für sie.
In einem Moment fühlt man sich prächtig unterhalten von der Unverblümtheit, mit der sich Björn Vedder an den neuen Nachbarn abarbeitet - unter den Männern, deren Hoffnung auf mehr ehelichen Sex durch Vasektomie und alberne Suche nach einem seetauglichen Hobby er genüsslich beschreibt, hat er jetzt vermutlich nicht mehr so viele Freunde -, im nächsten ärgert man sich über die enge Perspektive, die am eigenen Tellerrand endet. Er wolle "einen aufrichtigen Bericht über sein Leben" geben und "nicht einen solchen über das Leben anderer Leute", zitiert Vedder Henry David Thoreau, der 1845 mit seinem Selbstversorger-Experiment in der Hütte allerdings auch etwas Singuläres tat, während sich zu einem Umzug aufs Land viele entscheiden.
An einer Stelle kündigt der Autor eine Recherche in Brandenburg an, und man ist gespannt auf die Gemütsverfassung in Regionen, die anders als das Alpenvorland geprägt sind von schwindender Infrastruktur und fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten. Es geht dann aber nur in eine Schwedenhaussiedlung südlich von Berlin, in der gelangweilte Frauen den Absprung planen, sobald die Kinder groß sind. Hier regt sich bei Vedder Empathie für die Vollzeit-Mütter vom Ammersee, die ihr Leben möglicherweise gar nicht so toll finden. Um das herauszufinden, hätte er mit ihnen mal sprechen können. Doch sie bleiben Schablonen, und außerhalb der homogenen Schicht, in der er sich wiederfindet, scheint es am Ammersee nicht viel zu geben. Alte Dorfbewohner kommen nicht vor, und der einzige Landwirt, der einen Auftritt hat, ist eher ein Unikum, das in den Wintermonaten an italienischen Universitäten Philosophie lehrt.
Aus autobiographischen Erfahrungen, die die, die sie gemacht haben, mit akademischem Handwerkszeug zu einer soziologischen Bestandsaufnahme erweitern, sind einige der spannendsten Sachbücher der letzten Zeit geworden, zum Beispiel Ewald Fries "Ein Hof und elf Geschwister" oder Steffen Maus "Lütten Klein". Wie Björn Vedder seine Erlebnisse mit Zitaten und Theoriebausteinen von Thomas Hobbes bis Eva Illouz zu einem Psychogramm des Ländlichen pimpt, ist aber ganz schön großspurig. Der vorgefundenen Landverklärung von links - endlich nicht mehr kapitalistisch fremdbestimmt sein - und von rechts - endlich in Ruhe vormodernen Zeiten hinterhertrauern - setzt er die Überzeugung entgegen, "dass das Landleben die Niedertracht nährt, die Verspottung der vermeintlich Schwächeren begünstigt und ihrer öffentlichen Beschämung Vorschub leistet", denn die Gemeinschaft sei nun mal gemein. Der Satz kommt wortgleich zweimal vor, was beim Lektorieren hätte auffallen können.
Die Belege für sein vernichtendes Urteil findet Vedder indes weniger in der Ammerseer Wohlstands-Blase als in seiner Erinnerung an das niedersächsische Dorf, in dem er in den Achtzigerjahren aufwuchs. Ging es dort nur halb so fies zu, wie er beschreibt, ist seine Abneigung mehr als verständlich, in einem Buch über das Landleben von heute aber dennoch nicht gut aufgehoben. Denn wenn er etwa seine These von der Abweichung als Verstoß gegen das dörfliche Prinzip der Reinheit illustriert mit seinem Freund Daniel, Außenseiter wie Vedder, den der Dorfmob zwang, eine Klobürste in den Mund zu nehmen, oder mit dem Pfarrer, der von Aids als gerechter Strafe für Homosexuelle predigte, knallt das zwar. Doch der Pfarrer ist wahrscheinlich tot und die Jugendlichen von heute vielleicht anders drauf. Auch ein Besuch im Heimatdorf hätte aufschlussreich sein können. Und Vedders Polemik eine solidere Grundlage gegeben.
Björn Vedder: "Das Befinden auf dem Lande". Verortung einer Lebensart.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2024. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo der Stay-at-home-Dad ein Exot ist: Björn Vedder berichtet von seinen heiklen Erfahrungen auf dem Land.
Von Petra Ahne
Auf dem Cover zwei Gummistiefel, einer rotglänzend schick, der andere grob und beschmutzt, dazu der Titel: "Das Befinden auf dem Lande". Man glaubt, das Buch zu einem der vielen Konflikte der Stunde in der Hand zu halten, jenem, der Städter kürzlich die einrollenden Arbeitsfahrzeuge der Bauern bestaunen ließ, im Vergleich zu denen die eigenen SUVs plötzlich ganz klein aussahen. Es geht dann aber gar nicht um die Kluft zwischen Stadt und Land, sondern um die zwischen den Erwartungen Björn Vedders an das Landleben und dem, was er vorgefunden hat. Das ist unerschrocken, bissig und manchmal sehr lustig, aber auch ein Problem.
Aufs Land ist Vedder nämlich nicht wirklich gezogen, sondern in eine der wohlhabendsten Gemeinden des Landes, an den bayerischen Ammersee. München schien nach der Geburt des zweiten Kindes nicht mehr so perfekt, die Wohnung zu klein, die Natur zu weit weg. So weit, so klassisch. In einer der den bilderbuchschönen Ammersee säumenden Ortschaften wird man fündig. Björn Vedders Frau pendelt zur Arbeit an der Münchner Uni, er, der freischaffende Publizist und Philosoph, kümmert sich wochentags um die inzwischen drei Kinder und sein wachsendes Befremden mit den anderen Eltern und deren Lebenskonzepten.
Es ist nicht das Befinden auf dem Lande, das er beschreibt, sondern sein eigenes innerhalb eines Milieus, das - wohlsituiert und bildungsnah - ihm nicht allzu fremd sein kann, in dem er als Stay-at-home-Dad aber ein noch größerer Exot ist, als er es in München-Schwabing oder Berlin-Prenzlauer Berg wäre. Am Ammersee wird offenbar noch ein traditionelles Familienmodell gepflegt und Abweichung mit Gemeinheit geahndet, wie der, dass Vedders Tochter eingeflüstert wird, ihre arbeitende Mutter interessiere sich wohl nicht für sie.
In einem Moment fühlt man sich prächtig unterhalten von der Unverblümtheit, mit der sich Björn Vedder an den neuen Nachbarn abarbeitet - unter den Männern, deren Hoffnung auf mehr ehelichen Sex durch Vasektomie und alberne Suche nach einem seetauglichen Hobby er genüsslich beschreibt, hat er jetzt vermutlich nicht mehr so viele Freunde -, im nächsten ärgert man sich über die enge Perspektive, die am eigenen Tellerrand endet. Er wolle "einen aufrichtigen Bericht über sein Leben" geben und "nicht einen solchen über das Leben anderer Leute", zitiert Vedder Henry David Thoreau, der 1845 mit seinem Selbstversorger-Experiment in der Hütte allerdings auch etwas Singuläres tat, während sich zu einem Umzug aufs Land viele entscheiden.
An einer Stelle kündigt der Autor eine Recherche in Brandenburg an, und man ist gespannt auf die Gemütsverfassung in Regionen, die anders als das Alpenvorland geprägt sind von schwindender Infrastruktur und fehlenden Entwicklungsmöglichkeiten. Es geht dann aber nur in eine Schwedenhaussiedlung südlich von Berlin, in der gelangweilte Frauen den Absprung planen, sobald die Kinder groß sind. Hier regt sich bei Vedder Empathie für die Vollzeit-Mütter vom Ammersee, die ihr Leben möglicherweise gar nicht so toll finden. Um das herauszufinden, hätte er mit ihnen mal sprechen können. Doch sie bleiben Schablonen, und außerhalb der homogenen Schicht, in der er sich wiederfindet, scheint es am Ammersee nicht viel zu geben. Alte Dorfbewohner kommen nicht vor, und der einzige Landwirt, der einen Auftritt hat, ist eher ein Unikum, das in den Wintermonaten an italienischen Universitäten Philosophie lehrt.
Aus autobiographischen Erfahrungen, die die, die sie gemacht haben, mit akademischem Handwerkszeug zu einer soziologischen Bestandsaufnahme erweitern, sind einige der spannendsten Sachbücher der letzten Zeit geworden, zum Beispiel Ewald Fries "Ein Hof und elf Geschwister" oder Steffen Maus "Lütten Klein". Wie Björn Vedder seine Erlebnisse mit Zitaten und Theoriebausteinen von Thomas Hobbes bis Eva Illouz zu einem Psychogramm des Ländlichen pimpt, ist aber ganz schön großspurig. Der vorgefundenen Landverklärung von links - endlich nicht mehr kapitalistisch fremdbestimmt sein - und von rechts - endlich in Ruhe vormodernen Zeiten hinterhertrauern - setzt er die Überzeugung entgegen, "dass das Landleben die Niedertracht nährt, die Verspottung der vermeintlich Schwächeren begünstigt und ihrer öffentlichen Beschämung Vorschub leistet", denn die Gemeinschaft sei nun mal gemein. Der Satz kommt wortgleich zweimal vor, was beim Lektorieren hätte auffallen können.
Die Belege für sein vernichtendes Urteil findet Vedder indes weniger in der Ammerseer Wohlstands-Blase als in seiner Erinnerung an das niedersächsische Dorf, in dem er in den Achtzigerjahren aufwuchs. Ging es dort nur halb so fies zu, wie er beschreibt, ist seine Abneigung mehr als verständlich, in einem Buch über das Landleben von heute aber dennoch nicht gut aufgehoben. Denn wenn er etwa seine These von der Abweichung als Verstoß gegen das dörfliche Prinzip der Reinheit illustriert mit seinem Freund Daniel, Außenseiter wie Vedder, den der Dorfmob zwang, eine Klobürste in den Mund zu nehmen, oder mit dem Pfarrer, der von Aids als gerechter Strafe für Homosexuelle predigte, knallt das zwar. Doch der Pfarrer ist wahrscheinlich tot und die Jugendlichen von heute vielleicht anders drauf. Auch ein Besuch im Heimatdorf hätte aufschlussreich sein können. Und Vedders Polemik eine solidere Grundlage gegeben.
Björn Vedder: "Das Befinden auf dem Lande". Verortung einer Lebensart.
HarperCollins Verlag, Hamburg 2024. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht allzu aufschlussreich findet Rezensentin Petra Ahne, was Björn Vedder vom Landleben zu berichten weiß. Vom Leben am Ammersee genauer gesagt, und da beginnen schon die Probleme, denn die Gemeinde, in die Vedder als stay-at-home-Dad zieht, gehört zu den reichsten Deutschlands. Konservativer als in der Stadt mag es hier zwar zugehen, gesteht Ahne Vedder zu, aber repräsentativ für das gegenwärtige Landleben sind Vedders Abrechnungen mit seinen neuen Nachbarn wohl eher nicht. Auch ein Ausflug nach Brandenburg ändert daran nichts, meint Ahne, während Passagen, die sich Vedders Kindheit im ländlichen Niedersachsen widmen, zwar tatsächlich rurale Härten thematisieren, aber eben Distanz zur Gegenwart halten. Etwas mehr Empirie und etwas weniger von Hobbes und Illouz geborgte Theorie wäre angebracht gewesen, kritisiert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Das [Buch] ist unerschrocken, bissig und [...] sehr lustig [...] Petra Ahne Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240316