»Heute streiten sich die Feuilletonisten, ob sie besser Bücher schreiben kann oder besser Filme dreht. Die Antwort ist einfach: Doris Dörrie kann beides.« Janet Schayan / Deutschland Deutschland
Eine Geschichte über Liebe und Tod
Als der Modedesigner Alfred nach langer schwer Krankheit stirbt - er hatte Krebs -, will Florian, sein Lebensgefährte, für ihn eine Gedächtnismodenschau organisieren. Aus jeder Kollektion von Alfred will er ein geniales Stück wiederfinden. Auf der Suche nach den einzelnen Modellen trifft Florian auf Babette, die das blaue Kleid, ein Traum aus mittelmeerblauem Organza, gekauft hatte. Beim Kauf des Kleides hatte ihr Alfred seiner Zeit zugerufen: "Das Kleid wird ihr Leben verändern!"
Und Alfred sollte Recht behalten. Vieles war seitdem in Babettes Leben geschehen: Zunächst hatte sie auf einer Reise nach Bali ihren Mann verloren. Trotz ihrer unermesslich großen Trauer lernt sie den zu Depressionen neigenden Anästhesisten Thomas kennen und verliebt sich in ihn. Thomas hat bereits eine Ehe hinter sich und erweist sich anfangs als "liebesunfähig", und das im wahrsten Sinne des Wortes. Parallel zu dieser Affäre mit Thomas freundet sich Babette mit Florian an. Beide verbindet der Verlust eines geliebten Menschen. Um über ihre Trauer hinwegzukommen fliegen die beiden nach Mexiko. Dort feiert man am sog. "Tag der Toten" - an Allerheiligen - riesige Parties auf den Friedhöfen. In dieser lebensbejahenden, ausgelassenen Atmosphäre soll der Toten gedacht werden. Erst durch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Tod finden Babette und Florian nach langer Trauer wieder zurück ins Leben.
Tiefe Trauer als Voraussetzung für Glück
Thema dieses Romans von Doris Dörrie ist der Tod und das Leben. Florian und Babette haben ihren geliebten Partner verloren. Beide drohen an ihrer unbeschreiblich großen Trauer zu zerbrechen. Sie "drehen sich in ihrer Vergangenheit wie in einer Endlosspirale". Erst durch ihre Beziehung mit dem depressiven, pessimistischen Thomas, der seine Mitte, seinen eigentlichen Lebensweg verloren zu haben scheint, bemerkt Babette, wie auch sie sich immer mehr in einem Labyrinth zu verläuft. Diesem Verderben will sie entkommen. Sie erkennt, dass sie und auch Florian lernen müssen, mit dem vergangenen, mit dem Tod des geliebten Partners zu leben. Tod und Trauer gehören zum Leben. Am sog. "Tag der Toten" in Mexiko wird beiden bewusst, dass tiefe Trauer auch die Voraussetzung für Glück sein kann...
(Wibke Garbarukow)
"Doris Dörrie ist eine Meisterin des befreienden Lachens; das ist ihr Geheimnis."
(Siegfried Schober, Die Zeit)
"Doris Dörrie versteht das Handwerk der Erzählerin, und sie schreibt Geschichten, für die ich jeden Fernsehabend sausen lassen würde."
(Annemarie Stoltenberg, Norddeutscher Rundfunk)
Als der Modedesigner Alfred nach langer schwer Krankheit stirbt - er hatte Krebs -, will Florian, sein Lebensgefährte, für ihn eine Gedächtnismodenschau organisieren. Aus jeder Kollektion von Alfred will er ein geniales Stück wiederfinden. Auf der Suche nach den einzelnen Modellen trifft Florian auf Babette, die das blaue Kleid, ein Traum aus mittelmeerblauem Organza, gekauft hatte. Beim Kauf des Kleides hatte ihr Alfred seiner Zeit zugerufen: "Das Kleid wird ihr Leben verändern!"
Und Alfred sollte Recht behalten. Vieles war seitdem in Babettes Leben geschehen: Zunächst hatte sie auf einer Reise nach Bali ihren Mann verloren. Trotz ihrer unermesslich großen Trauer lernt sie den zu Depressionen neigenden Anästhesisten Thomas kennen und verliebt sich in ihn. Thomas hat bereits eine Ehe hinter sich und erweist sich anfangs als "liebesunfähig", und das im wahrsten Sinne des Wortes. Parallel zu dieser Affäre mit Thomas freundet sich Babette mit Florian an. Beide verbindet der Verlust eines geliebten Menschen. Um über ihre Trauer hinwegzukommen fliegen die beiden nach Mexiko. Dort feiert man am sog. "Tag der Toten" - an Allerheiligen - riesige Parties auf den Friedhöfen. In dieser lebensbejahenden, ausgelassenen Atmosphäre soll der Toten gedacht werden. Erst durch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Tod finden Babette und Florian nach langer Trauer wieder zurück ins Leben.
Tiefe Trauer als Voraussetzung für Glück
Thema dieses Romans von Doris Dörrie ist der Tod und das Leben. Florian und Babette haben ihren geliebten Partner verloren. Beide drohen an ihrer unbeschreiblich großen Trauer zu zerbrechen. Sie "drehen sich in ihrer Vergangenheit wie in einer Endlosspirale". Erst durch ihre Beziehung mit dem depressiven, pessimistischen Thomas, der seine Mitte, seinen eigentlichen Lebensweg verloren zu haben scheint, bemerkt Babette, wie auch sie sich immer mehr in einem Labyrinth zu verläuft. Diesem Verderben will sie entkommen. Sie erkennt, dass sie und auch Florian lernen müssen, mit dem vergangenen, mit dem Tod des geliebten Partners zu leben. Tod und Trauer gehören zum Leben. Am sog. "Tag der Toten" in Mexiko wird beiden bewusst, dass tiefe Trauer auch die Voraussetzung für Glück sein kann...
(Wibke Garbarukow)
"Doris Dörrie ist eine Meisterin des befreienden Lachens; das ist ihr Geheimnis."
(Siegfried Schober, Die Zeit)
"Doris Dörrie versteht das Handwerk der Erzählerin, und sie schreibt Geschichten, für die ich jeden Fernsehabend sausen lassen würde."
(Annemarie Stoltenberg, Norddeutscher Rundfunk)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2002Skelett aus Zuckerguß
Gute Nacht, Freund Hein: Doris Dörrie raucht eine letzte Zigarette
Die Poesie ist durch und durch weiblichen Geschlechts. Sie soll - delectare! - das Gemüt erheitern, und wenn man sie dafür lobt, daß sie es tut, ist sie beleidigt. Auf einmal will sie tiefsinnig, anrührend, moralisch sein - prodesse! Wie also wird die Muse reagieren, die Doris Dörrie geküßt hat, wenn man ihr sagt, daß ihr Musenkind ein heiteres Buch voller ermunternder Szenen hervorgebracht hat, das Sinnfragen bestimmt nicht beantworten, wohl aber manch fade Stunde ins Nichts einer unterhaltsamen Fiktion auflösen kann? Das blaue Kleid, die letzte und überragende Schöpfung eines aidskranken Designers, wird, so prophezeit dieser selbst, jede Frau, die es trägt, verwandeln; und wer sich auf Dörries Buch, dem es den Titel gibt, einlassen will, wird sich mit ihm ebenfalls leichtfüßiger fühlen und leichtsinniger sein als sonst.
Doris Dörrie ist eine schlaue Autorin, die weiß, daß der Schmerz am schönsten da ist, wo er aufhört, und genau an diesem Punkt setzt ihre Erzählung ein. Ihr Romanpersonal besteht aus zwei Toten und drei Überlebenden samt ein paar Nebenfiguren. Das Glück schleicht sich bei den beiden Trauernden, die ihre große Liebe haben begraben müssen, rund um den Friedhof herum wieder ins Herz ein und läßt sich endgültig darin nieder bei einem orgiastischen Totentanz, dem die zwei Trauernden in Mexiko beiwohnen.
Dörrie erzählt eine Auferstehungsgeschichte, die lustig über viele Anekdoten dahintorkelt. Der Leser nimmt diese wie kleine Geschenkartikel, in die immer auch ein Stück von ihm selbst hineinverpackt ist. Deshalb wickelt er sie - und sich selbst zugleich damit - auch gerne wieder aus dem Papier des Buches aus und meint, er habe so ein Stück aus dem Leben erwischt. Die Gebote des realistischen Romans - die große Tendenz einer absehbaren Entwicklung mit kleinen, überraschenden Details zu durchmischen und so die unvorhersehbare Wirklichkeit mit Worten einzufangen - handhabt die Autorin mit Bravour. Die Versündigung zum Beispiel, die jede Rückkehr ins Leben und jede Abkehr von den Toten bedeutet, beginnt im wörtlichen Sinne mit einem Stolperer: Der zukünftige Liebhaber vertritt sich, um den Friedhof joggend, den Fuß und muß von der Trauernden getröstet und gepflegt werden. Nun stolpern also die beiden über allerlei Zufälle, auch über Erinnerungen an die Vergangenheit, die die Gegenwart verdunkeln, über Seitensprünge etwa, die noch im Schatten des Todes gewagt worden waren, über Visionen auch von Seitensprüngen, die vielleicht in nächster Zukunft dem neuen Freund zuzumuten eine Verlockung wäre, einer herzlichen Liebesbindung entgegen.
Noch mit dem letzten Satz beweist Doris Dörrie ihre Fähigkeit zur ironischen Distanz dem eigenen symbolstiftenden Metier gegenüber. Das Mädchen mit dem blauen Kleid hat dem neuen Geliebten vom makabren Totenfest in Mexiko ein in Zucker gegossenes Skelett mitgebracht, das das endlich vereinte Paar in stiller Liebeslust, gemeinsam daran lutschend, ins süße Nichts befördert: Bald ist der Tod, so endet die Geschichte einer heftigen Trauer, "nur noch ein Klumpen Zucker ohne Namen".
Ist die Heldin des Romans mehr Witwe von Ephesus oder eher eine neue Eurydike? Als emanzipierte Frau jedenfalls hat sie nicht mitsterben wollen mit dem Geliebten, und wenn sie den dahingegangenen Orpheus durch ihren Schmerzgesang nicht wieder zurück ans Licht locken kann, gibt sie gerne nach. Wo statt Orpheus dann aber eine Romanschriftstellerin weiterdichtet, wird es nicht elegisch, sondern vielleicht ein bißchen banal, dafür aber um so heiterer.
HANNELORE SCHLAFFER
Doris Dörrie: "Das blaue Kleid". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 177 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gute Nacht, Freund Hein: Doris Dörrie raucht eine letzte Zigarette
Die Poesie ist durch und durch weiblichen Geschlechts. Sie soll - delectare! - das Gemüt erheitern, und wenn man sie dafür lobt, daß sie es tut, ist sie beleidigt. Auf einmal will sie tiefsinnig, anrührend, moralisch sein - prodesse! Wie also wird die Muse reagieren, die Doris Dörrie geküßt hat, wenn man ihr sagt, daß ihr Musenkind ein heiteres Buch voller ermunternder Szenen hervorgebracht hat, das Sinnfragen bestimmt nicht beantworten, wohl aber manch fade Stunde ins Nichts einer unterhaltsamen Fiktion auflösen kann? Das blaue Kleid, die letzte und überragende Schöpfung eines aidskranken Designers, wird, so prophezeit dieser selbst, jede Frau, die es trägt, verwandeln; und wer sich auf Dörries Buch, dem es den Titel gibt, einlassen will, wird sich mit ihm ebenfalls leichtfüßiger fühlen und leichtsinniger sein als sonst.
Doris Dörrie ist eine schlaue Autorin, die weiß, daß der Schmerz am schönsten da ist, wo er aufhört, und genau an diesem Punkt setzt ihre Erzählung ein. Ihr Romanpersonal besteht aus zwei Toten und drei Überlebenden samt ein paar Nebenfiguren. Das Glück schleicht sich bei den beiden Trauernden, die ihre große Liebe haben begraben müssen, rund um den Friedhof herum wieder ins Herz ein und läßt sich endgültig darin nieder bei einem orgiastischen Totentanz, dem die zwei Trauernden in Mexiko beiwohnen.
Dörrie erzählt eine Auferstehungsgeschichte, die lustig über viele Anekdoten dahintorkelt. Der Leser nimmt diese wie kleine Geschenkartikel, in die immer auch ein Stück von ihm selbst hineinverpackt ist. Deshalb wickelt er sie - und sich selbst zugleich damit - auch gerne wieder aus dem Papier des Buches aus und meint, er habe so ein Stück aus dem Leben erwischt. Die Gebote des realistischen Romans - die große Tendenz einer absehbaren Entwicklung mit kleinen, überraschenden Details zu durchmischen und so die unvorhersehbare Wirklichkeit mit Worten einzufangen - handhabt die Autorin mit Bravour. Die Versündigung zum Beispiel, die jede Rückkehr ins Leben und jede Abkehr von den Toten bedeutet, beginnt im wörtlichen Sinne mit einem Stolperer: Der zukünftige Liebhaber vertritt sich, um den Friedhof joggend, den Fuß und muß von der Trauernden getröstet und gepflegt werden. Nun stolpern also die beiden über allerlei Zufälle, auch über Erinnerungen an die Vergangenheit, die die Gegenwart verdunkeln, über Seitensprünge etwa, die noch im Schatten des Todes gewagt worden waren, über Visionen auch von Seitensprüngen, die vielleicht in nächster Zukunft dem neuen Freund zuzumuten eine Verlockung wäre, einer herzlichen Liebesbindung entgegen.
Noch mit dem letzten Satz beweist Doris Dörrie ihre Fähigkeit zur ironischen Distanz dem eigenen symbolstiftenden Metier gegenüber. Das Mädchen mit dem blauen Kleid hat dem neuen Geliebten vom makabren Totenfest in Mexiko ein in Zucker gegossenes Skelett mitgebracht, das das endlich vereinte Paar in stiller Liebeslust, gemeinsam daran lutschend, ins süße Nichts befördert: Bald ist der Tod, so endet die Geschichte einer heftigen Trauer, "nur noch ein Klumpen Zucker ohne Namen".
Ist die Heldin des Romans mehr Witwe von Ephesus oder eher eine neue Eurydike? Als emanzipierte Frau jedenfalls hat sie nicht mitsterben wollen mit dem Geliebten, und wenn sie den dahingegangenen Orpheus durch ihren Schmerzgesang nicht wieder zurück ans Licht locken kann, gibt sie gerne nach. Wo statt Orpheus dann aber eine Romanschriftstellerin weiterdichtet, wird es nicht elegisch, sondern vielleicht ein bißchen banal, dafür aber um so heiterer.
HANNELORE SCHLAFFER
Doris Dörrie: "Das blaue Kleid". Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 177 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2002Hete und Homo heulen gemeinsam auf die Tiefkühlpizza
Einen Trauerkloß im Hals und im neunten Monat bedeutungsschwanger: Doris Dörries neuer Roman „Das blaue Kleid”
Und dann kommt dieser Satz. Das Leben ist ein überlanges Sommerrätsel, die Liebe ein gezinktes Rubbellos, alle Romanfiguren hocken nägelkauend im Labyrinth des Alltags und wissen weder ein noch aus. In ihren Mündern rollen triste Mantras: Macht das alles einen Sinn? Was ist der Tod? Woher kommen, wohin gehen wir? Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Und dann kommt dieser Satz: „Vielleicht wissen die Mexikaner mehr darüber.”
Die Geschenkpapierdesignerin Babette ist Witwe. Ihr guter Fritz ist in Bali totgefahren worden. Der Anästhesist Thomas ist Scheidungsopfer und joggt sich auf einem Münchner Friedhof den Liebeskummer aus der Seele. Dabei knickt er um, die trauernde Babette hievt ihn auf eine Bank, in die jemand „Liebe” geschnitzt hat. Hoffentlich kommt jetzt ein Werbeblock, denkt der Leser, damit ich mir wenigstens ein paar Bier und eine Flasche Schnaps holen kann, aber es ist ja ein Dörrie-Buch, kein Dörrie-Film, und es geht gleich weiter. Um sich für Thomas schick zu machen, kauft sich Babette ein blaues Kleid bei den schwulen Modedesignern Alfred und Florian. Wie der Zufall namens Doris es so will, ist Florian bald auch Witwer. Sein guter Alfred wird vom Krebs aufgefressen. Florian möchte ihn mit einer Modenschau ehren und braucht dafür Babettes blaues Kleid. Um das Organza-Kleid organisiert sich ein Beziehungsdreieck aus Trauerklößen.
Babettes blaues Kleid ist aus eben dem Stoff, aus dem auch Fritz´ und Alfreds neue Heimat ist: „Das Kleid fällt über sie wie ein Stück Himmel.” Das verbindet. Und weil im deutschen Amüsierbetrieb der Schwule vor allem dazu da ist, mit Dackelblick kostengünstig den Therapeuten zu ersetzen, wird Florian im Handumdrehen Babettes bester Kumpel.
Ein redseliges Klageweib
Beide machen all das, was einem für immer die Lust auf einen besten Kumpel vergrault: Sie heulen sich gegenseitig auf die Tiefkühlpizza, kuscheln sich sexfrei aufs Ikea-Sofa, stochern in ihren banalen Biographien herum und hängen mit Gurkenscheiben auf ihren stupiden Gesichtern vor der Glotze. Babette übernimmt den Laberpart in der geschlechterübergreifenden Trauer-WG. In Gesellschaft dieses geschwätzigen Klageweibes sehnt man sich nach der Unfähigkeit zu trauern. Dauernd greint Babette von der Last der Liebe in den Zeiten der Totenwache und von Thomas’ Erektionsschwierigkeiten. Der Arzt kann ohne Pillen nicht in sie dringen. Der beziehungsgeschädigte Anästhesist lebt unter Vollnarkose. Die Geschenkpapierdesignerin braucht die gesamte Romanlänge, bis sie endlich das Präsent einer neuen Liebe auspacken kann. Ungelenk hangelt sich die Romanmechanik an forciert symbolischen Biographien entlang.
Nachdem die öde Therapiegruppe ausgiebig ihre Vergangenheit wiedergekäut hat, reisen Babette und Florian zum Totenfest nach Mexiko, was Dörrie dazu nutzt, aus ihren Reiseführern abzuschreiben. In dieses Baedeker- Patchwork baut sie noch zwei, drei Romanfiguren ein. In Mexiko wollen Babette und Florian den Teufel mit Beelzebub austreiben und sich endlich von ihren Toten befreien. Doch die Gespenster von Fritz und Alfred hocken als blinde Passagiere im Lastenraum der DC 10. Die Hete und der Homo werden sehr viel Salsa, Rumba und Merengue tanzen müssen, um langsam wieder zu ein bisschen Lebenslust zu finden. Doch alles wird gut, die tolle Latino-Laune ist bekanntlich hochansteckend: Dörrie hext Florian einen knackigen Mexikaner in die Arme, und Thomas erwacht endlich aus seiner existentiellen Vollnarkose und reist Babette hinterher. Kuss, Abspann, Träne im Knopfloch. Endlich Schnaps und Bier.
Doris Dörrie ist eine böse Frau. Sie mordet den netten Fritz und den lieben Alfred, nur um nach Herzenslust ihren Karneval voller rührselig inszenierter Trauerrituale und konzeptlosem Existenzgequatsche zu veranstalten. Auf dem mexikanischen Totenfest finden sich Babette und Florian zwischen zahllosen Touristen mit Videokameras wieder. Genauso fühlt sich der Leser dieses Romans: Er hockt in der Trauertourifalle. Doris Dörrie hat nicht das schlechte Image von Hera Lind und anderen Zauberweibern, die Prosecco trinken. Zu Unrecht. Sie arbeitet mit den billigsten Effekten. Aber was heißt arbeitet? Lieblos kramt sie als Tante Kummerkasten in ihrem Baukasten dramaturgischer Förmchen. Sie hat eine verhängnisvolle Vorliebe für offensichtliche Symbole und vulgärpsychologisch aufgeladene Handlungen. Ihre Romanfiguren lecken allegorisch an Totenköpfen aus Zuckerguss, zermatschen Taubeneier, weil sie das Frühjahrsgeturtel vorm Küchenfenster nicht ertragen und irren vielsagend durch Maisfeldlabyrinthe.
Jeder Absatz eine Filmsequenz, der Produzent hat wahrscheinlich schon den Scheck unterschrieben. Ab und an eine Prise köstlichen Humors made in Hannover. Die einzige Stilfigur ist die Ironie des Schicksals. Jede Seite ist im neunten Monat bedeutungsschwanger. Die Leitmetapher in diesem Text ist der Schalter. Schaltbrett vorm Kopf. Alles wird hier „angeknipst”: das Lächeln, die Sterne und die gesamte Gefühlswelt der Personen. Das ist symptomatisch für Dörries mechanisches Weltbild: Es gibt für alles einen Zentralschalter, und an dem sitzt Doris Dörrie. Der Stilschalter hingegen steht in der Off-Position. Sprachlich unterscheidet sich dieser Roman-Ersatz in nichts von der tranigen Lebensbeichte, die in einem tussigen Szene-Italiener vom Nachbartisch herüberweht. Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Bleibt die Frage, wozu man dann Schriftsteller braucht
Softies mit Pediküre-Abo
Die Sprache reicht vielleicht für die Script-Rohfassung zu einem rührseligen Spot für Darmkrebsvorsorge. Einen ganzen Roman trägt sie nicht. Manche Sätze allerdings sähe man gerne von Roberto Blanco vertont: „Er nahm Viagra, dann konnte es keine Liebe sein.” Kann denn Viagra Sünde sein? Die wertvollste Erkenntnis dieses Romans schlummert in dem erektionsfördernden Tipp, die Fellatio einmal mit Pfefferminzbonbons der Marke „Altoids” in der saugenden Maultasche zu probieren. Doch dieser Tipp kommt dann auch noch aus einem Frauenmagazin, wie Dörrie bekennt: „Gott segne alle Frauenzeitschriften. ”
Das Empörende an solcher Literatur ist ihre Feigheit. Dörrie könnte es sich erlauben, etwas Neues zu wagen. Es müsste nicht einmal das große literarische Wagnis sein, sondern einfach nur eine tastende Erzählhaltung, eine künstlerische Form, die sie noch nie ausprobiert hat. Statt dessen reitet sie einfach ihren abgelatschten, unverfänglichen Entertainmentstiefel voller sympathischer Schwuler, melancholischer, aber grundsätzlich lebensfroher Tussen, rührender Softies mit Pediküre-Abo und durchgelegenen Ikea-Sofas weiter.
Einer der ganz wenigen Lichtblicke in diesem wehenden Humbug aus reinem Organza ist eine handwerklich adrett gestrickte, am Rande etwas ausgefranste Genitiv-Metapher: „Der Pullover meines Lebens hatte am Saum ein sehr wirres unregelmäßiges Muster, dafür war das letzte große Stück glatt rechts gestrickt, schön regelmäßig und ohne Fehler.” Vielleicht will uns dieser Roman voller gewickelter, geschnürter und geraffter Textilien sagen, dass Doris Dörries eigentliches Talent im Entwerfen passabler Schnitt- und Strickmusterchen liegt. Dann sollte sie es nicht mit Bücherschreiben verschwenden.
STEPHAN MAUS
DORIS DÖRRIE: Das blaue Kleid. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 177 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Einen Trauerkloß im Hals und im neunten Monat bedeutungsschwanger: Doris Dörries neuer Roman „Das blaue Kleid”
Und dann kommt dieser Satz. Das Leben ist ein überlanges Sommerrätsel, die Liebe ein gezinktes Rubbellos, alle Romanfiguren hocken nägelkauend im Labyrinth des Alltags und wissen weder ein noch aus. In ihren Mündern rollen triste Mantras: Macht das alles einen Sinn? Was ist der Tod? Woher kommen, wohin gehen wir? Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Und dann kommt dieser Satz: „Vielleicht wissen die Mexikaner mehr darüber.”
Die Geschenkpapierdesignerin Babette ist Witwe. Ihr guter Fritz ist in Bali totgefahren worden. Der Anästhesist Thomas ist Scheidungsopfer und joggt sich auf einem Münchner Friedhof den Liebeskummer aus der Seele. Dabei knickt er um, die trauernde Babette hievt ihn auf eine Bank, in die jemand „Liebe” geschnitzt hat. Hoffentlich kommt jetzt ein Werbeblock, denkt der Leser, damit ich mir wenigstens ein paar Bier und eine Flasche Schnaps holen kann, aber es ist ja ein Dörrie-Buch, kein Dörrie-Film, und es geht gleich weiter. Um sich für Thomas schick zu machen, kauft sich Babette ein blaues Kleid bei den schwulen Modedesignern Alfred und Florian. Wie der Zufall namens Doris es so will, ist Florian bald auch Witwer. Sein guter Alfred wird vom Krebs aufgefressen. Florian möchte ihn mit einer Modenschau ehren und braucht dafür Babettes blaues Kleid. Um das Organza-Kleid organisiert sich ein Beziehungsdreieck aus Trauerklößen.
Babettes blaues Kleid ist aus eben dem Stoff, aus dem auch Fritz´ und Alfreds neue Heimat ist: „Das Kleid fällt über sie wie ein Stück Himmel.” Das verbindet. Und weil im deutschen Amüsierbetrieb der Schwule vor allem dazu da ist, mit Dackelblick kostengünstig den Therapeuten zu ersetzen, wird Florian im Handumdrehen Babettes bester Kumpel.
Ein redseliges Klageweib
Beide machen all das, was einem für immer die Lust auf einen besten Kumpel vergrault: Sie heulen sich gegenseitig auf die Tiefkühlpizza, kuscheln sich sexfrei aufs Ikea-Sofa, stochern in ihren banalen Biographien herum und hängen mit Gurkenscheiben auf ihren stupiden Gesichtern vor der Glotze. Babette übernimmt den Laberpart in der geschlechterübergreifenden Trauer-WG. In Gesellschaft dieses geschwätzigen Klageweibes sehnt man sich nach der Unfähigkeit zu trauern. Dauernd greint Babette von der Last der Liebe in den Zeiten der Totenwache und von Thomas’ Erektionsschwierigkeiten. Der Arzt kann ohne Pillen nicht in sie dringen. Der beziehungsgeschädigte Anästhesist lebt unter Vollnarkose. Die Geschenkpapierdesignerin braucht die gesamte Romanlänge, bis sie endlich das Präsent einer neuen Liebe auspacken kann. Ungelenk hangelt sich die Romanmechanik an forciert symbolischen Biographien entlang.
Nachdem die öde Therapiegruppe ausgiebig ihre Vergangenheit wiedergekäut hat, reisen Babette und Florian zum Totenfest nach Mexiko, was Dörrie dazu nutzt, aus ihren Reiseführern abzuschreiben. In dieses Baedeker- Patchwork baut sie noch zwei, drei Romanfiguren ein. In Mexiko wollen Babette und Florian den Teufel mit Beelzebub austreiben und sich endlich von ihren Toten befreien. Doch die Gespenster von Fritz und Alfred hocken als blinde Passagiere im Lastenraum der DC 10. Die Hete und der Homo werden sehr viel Salsa, Rumba und Merengue tanzen müssen, um langsam wieder zu ein bisschen Lebenslust zu finden. Doch alles wird gut, die tolle Latino-Laune ist bekanntlich hochansteckend: Dörrie hext Florian einen knackigen Mexikaner in die Arme, und Thomas erwacht endlich aus seiner existentiellen Vollnarkose und reist Babette hinterher. Kuss, Abspann, Träne im Knopfloch. Endlich Schnaps und Bier.
Doris Dörrie ist eine böse Frau. Sie mordet den netten Fritz und den lieben Alfred, nur um nach Herzenslust ihren Karneval voller rührselig inszenierter Trauerrituale und konzeptlosem Existenzgequatsche zu veranstalten. Auf dem mexikanischen Totenfest finden sich Babette und Florian zwischen zahllosen Touristen mit Videokameras wieder. Genauso fühlt sich der Leser dieses Romans: Er hockt in der Trauertourifalle. Doris Dörrie hat nicht das schlechte Image von Hera Lind und anderen Zauberweibern, die Prosecco trinken. Zu Unrecht. Sie arbeitet mit den billigsten Effekten. Aber was heißt arbeitet? Lieblos kramt sie als Tante Kummerkasten in ihrem Baukasten dramaturgischer Förmchen. Sie hat eine verhängnisvolle Vorliebe für offensichtliche Symbole und vulgärpsychologisch aufgeladene Handlungen. Ihre Romanfiguren lecken allegorisch an Totenköpfen aus Zuckerguss, zermatschen Taubeneier, weil sie das Frühjahrsgeturtel vorm Küchenfenster nicht ertragen und irren vielsagend durch Maisfeldlabyrinthe.
Jeder Absatz eine Filmsequenz, der Produzent hat wahrscheinlich schon den Scheck unterschrieben. Ab und an eine Prise köstlichen Humors made in Hannover. Die einzige Stilfigur ist die Ironie des Schicksals. Jede Seite ist im neunten Monat bedeutungsschwanger. Die Leitmetapher in diesem Text ist der Schalter. Schaltbrett vorm Kopf. Alles wird hier „angeknipst”: das Lächeln, die Sterne und die gesamte Gefühlswelt der Personen. Das ist symptomatisch für Dörries mechanisches Weltbild: Es gibt für alles einen Zentralschalter, und an dem sitzt Doris Dörrie. Der Stilschalter hingegen steht in der Off-Position. Sprachlich unterscheidet sich dieser Roman-Ersatz in nichts von der tranigen Lebensbeichte, die in einem tussigen Szene-Italiener vom Nachbartisch herüberweht. Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Bleibt die Frage, wozu man dann Schriftsteller braucht
Softies mit Pediküre-Abo
Die Sprache reicht vielleicht für die Script-Rohfassung zu einem rührseligen Spot für Darmkrebsvorsorge. Einen ganzen Roman trägt sie nicht. Manche Sätze allerdings sähe man gerne von Roberto Blanco vertont: „Er nahm Viagra, dann konnte es keine Liebe sein.” Kann denn Viagra Sünde sein? Die wertvollste Erkenntnis dieses Romans schlummert in dem erektionsfördernden Tipp, die Fellatio einmal mit Pfefferminzbonbons der Marke „Altoids” in der saugenden Maultasche zu probieren. Doch dieser Tipp kommt dann auch noch aus einem Frauenmagazin, wie Dörrie bekennt: „Gott segne alle Frauenzeitschriften. ”
Das Empörende an solcher Literatur ist ihre Feigheit. Dörrie könnte es sich erlauben, etwas Neues zu wagen. Es müsste nicht einmal das große literarische Wagnis sein, sondern einfach nur eine tastende Erzählhaltung, eine künstlerische Form, die sie noch nie ausprobiert hat. Statt dessen reitet sie einfach ihren abgelatschten, unverfänglichen Entertainmentstiefel voller sympathischer Schwuler, melancholischer, aber grundsätzlich lebensfroher Tussen, rührender Softies mit Pediküre-Abo und durchgelegenen Ikea-Sofas weiter.
Einer der ganz wenigen Lichtblicke in diesem wehenden Humbug aus reinem Organza ist eine handwerklich adrett gestrickte, am Rande etwas ausgefranste Genitiv-Metapher: „Der Pullover meines Lebens hatte am Saum ein sehr wirres unregelmäßiges Muster, dafür war das letzte große Stück glatt rechts gestrickt, schön regelmäßig und ohne Fehler.” Vielleicht will uns dieser Roman voller gewickelter, geschnürter und geraffter Textilien sagen, dass Doris Dörries eigentliches Talent im Entwerfen passabler Schnitt- und Strickmusterchen liegt. Dann sollte sie es nicht mit Bücherschreiben verschwenden.
STEPHAN MAUS
DORIS DÖRRIE: Das blaue Kleid. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2002. 177 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de