Benjamín Labatut erzählt vom schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn, von der zwiespältigen Kraft der Wissenschaft und dem verhängnisvollen Moment, an dem wir aufhören, die Welt zu verstehen.
Sie sind Pioniere und Verdammte. Eroberer von Raum und Zeit. Träumer des Absoluten. Sie verändern den Lauf der Geschichte und verzweifeln an sich selbst: Werner Heisenberg, dessen Gleichungen - im Wahn auf der Insel Helgoland entstanden - zum Bau der Atombombe führen. Der Mathematiker Alexander Grothendieck, der es vorzieht, seine Formeln zu verbrennen, um die Menschheit vor ihrem zerstörerischen Potential zu schützen. Oder Fritz Haber, dessen physikalische Verfahren eine Hungerkrise vermeiden und zugleich das diabolischste Werkzeug der Nationalsozialisten hervorbringen werden ...
Sie sind Pioniere und Verdammte. Eroberer von Raum und Zeit. Träumer des Absoluten. Sie verändern den Lauf der Geschichte und verzweifeln an sich selbst: Werner Heisenberg, dessen Gleichungen - im Wahn auf der Insel Helgoland entstanden - zum Bau der Atombombe führen. Der Mathematiker Alexander Grothendieck, der es vorzieht, seine Formeln zu verbrennen, um die Menschheit vor ihrem zerstörerischen Potential zu schützen. Oder Fritz Haber, dessen physikalische Verfahren eine Hungerkrise vermeiden und zugleich das diabolischste Werkzeug der Nationalsozialisten hervorbringen werden ...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2020Du und das Atom
Der chilenische Schriftsteller Benjamín Labatut imaginiert die Geschichte der modernen Naturwissenschaft als große Schmerzensgeschichte
Die Grenze zwischen fiction und non-fiction ist heute durchlässiger als früher, doch bei Licht betrachtet ist das nichts Neues: Peter Schneiders Vivaldi-Biographie zum Beispiel ist kein Roman, sein Buch "Die Lieben meiner Mutter" aber sehr wohl, obwohl beide Texte sich nur thematisch, nicht aber stilistisch unterscheiden. Trotzdem ist es ein Rätsel, warum der Suhrkamp Verlag das soeben auf Deutsch erschienene Buch "Das blinde Licht" des Chilenen Benjamín Labatut als Roman apostrophiert - der Untertitel "Irrfahrten der Wissenschaft" trifft den Sachverhalt genauer. Die Lektüre erinnert mich an dickleibige Wälzer mit Titeln wie "Du und die Natur", "Du und die Physik", die ich als Jugendlicher begeistert verschlang, obwohl oder weil ich von den Ausführungen über Atomphysik und Quantentheorie nur die Hälfte verstand und das Gelesene sofort wieder vergaß.
So auch hier: Der Autor nimmt sich nichts Geringeres vor, als die Grundlagen moderner Physik und Chemie, von der Relativitätstheorie bis zum Bau der Atombombe, nicht zu erklären, sondern zu erzählen. Das gelingt ihm so gut, dass man das Buch mit Bedauern aus der Hand legt, weil es spannender ist als jeder Tatort-Krimi. Also doch ein Roman? Ja, aber ohne das, was seit Robinson Crusoe und Madame Bovary Generationen von Lesern fasziniert: eine Hauptfigur, mit deren tragischem Schicksal man sich identifiziert.
Stattdessen kommen in Labatuts Buch die wissenschaftlichen Koryphäen gleich dutzendweise zu Wort, und um den Überblick zu behalten, hat der Autor sie zu Paaren gebündelt wie einst die Parallelbiographien von Plutarch: Einstein und Max Planck, Heisenberg und Schrödinger, Robert Oppenheimer und Niels Bohr. Die wirklichen Helden des Buchs aber sind Atome - nein, subatomare Teilchen oder Wellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, zugleich aber stillstehen und, wenn sie die Umlaufbahn wechseln, Blitze aussenden. Das verstehe, wer will!
Labatuts Buch beginnt mit einem Einstieg, der die Leser, ob sie wollen oder nicht, wie ein cliffhanger zum Weiterlesen zwingt: "Bei einer Untersuchung Monate vor Beginn der Nürnberger Prozesse fiel den Ärzten auf, dass Hermann Görings Finger- und Fußnägel knallrot gefärbt waren." Nicht etwa durch Nagellack, den Göring auftrug, wenn er sich in Karinhall als Nero kostümierte, sondern durch Überdosen von Schmerzmitteln, die er konsumiert hatte, um dem Stress des Krieges gewachsen zu sein. Um vor dem Nürnberger Tribunal auszusagen, musste Göring erst von dieser Sucht geheilt und entgiftet werden. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zur Zyankalikapsel, die er aufbiss, als er erfuhr, dass er nicht, wie gewünscht, erschossen, sondern gehängt werden sollte.
Es ist bewundernswert, wie der Erzähler Labatut den Bogen schlägt vom zyanidhaltigen Preußischblau über die Wandfarbe Pariser Grün, deren Arsenausdünstung Schillers und Napoleons Gesundheit zerrüttete, zu Giftgasattacken im Ersten Weltkrieg und zur Massenvernichtung der Juden durch Zyklon B. Aber in dem rasanten Tempo, mit dem Labatut die Geschichte durcheilt und jedes Mal elegant die Kurve kriegt, liegt eine Gefahr, die im Verlauf der Lektüre deutlich hervortritt. Hier zwei Stichproben: "In den letzten Lebenswochen des Kaisers zerstörte die Krankheit seinen Körper. Seine Haut nahm einen grauen, leichenfahlen Ton an, seine Augen verloren allen Glanz, die Armmuskulatur schwand, in seinem spärlichen Bart klebten Reste von Erbrochenem." Und: "Die Krankheit begann mit zwei Blasen am Mundwinkel. Nach einem Monat bedeckten sie seine Hände, die Füße, die Lippen, den Hals und die Genitalien. Nach zwei Monaten war er tot."
Das erste Mal ist von Napoleon die Rede, der auf St. Helena dahinsiecht, das zweite Mal von Karl Schwarzschild, dem Entdecker der nach ihm benannten Unschärferelation, die Albert Einstein faszinierte, sowie der Schwarzen Löcher im All, wo Raum und Zeit implodieren. Schon hier zeigt sich, welchen Preis der Autor bezahlt, um die Fortschritte der modernen Physik verständlich und sinnlich nachvollziehbar zu machen. Gemeint ist eine fatale Tendenz, die Protagonisten des Buches zu Schmerzensmännern zu stilisieren, die wie Säulenheilige in der Wüste von Teufeln gequält und von Dämonen gepiesackt werden, um durch Nacht zum Licht, sprich: zur Erkenntnis der Wahrheit, zu gelangen.
Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Arbeit und mystischer Schau wird so zur quantité négligeable, ähnlich wie der zwischen dem Physiker Niels Bohr und dem Künstler van Gogh. Es gibt süßen und sauren Kitsch, und um die Selbstaufopferung der Forscher glaubhaft zu machen, zieht Labatut alle Register seiner Erzählkunst und schreckt vor keiner noch so absurden Übertreibung zurück: "Eine Kette aus Menschenköpfen um den Hals, schwang Kali mit ihren zahlreichen Armen Schwerter, Äxte und Messer und bespritzte ihn mit Blutstropfen, und dabei rieb sie ihm das Geschlecht, bis er es vor Erregung nicht mehr aushielt, und in dem Moment enthauptete sie ihn und verzehrte seine Genitalien." Kein Splatter-Roman, sondern ein Versuch, zu veranschaulichen, dass und wie die Quantenmechanik unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, Leben und Tod durcheinanderwirbelt. Trotz aller Einwände aber ist das von Thomas Brovot vorzüglich übersetzte Buch ein großer Wurf und macht neugierig auf das, was dieses enfant terrible der chilenischen Literatur geschrieben hat und in Zukunft noch schreiben wird.
HANS CHRISTOPH BUCH
Benjamín Labatut: "Das blinde Licht". Irrfahrten der Wissenschaft.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2020. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der chilenische Schriftsteller Benjamín Labatut imaginiert die Geschichte der modernen Naturwissenschaft als große Schmerzensgeschichte
Die Grenze zwischen fiction und non-fiction ist heute durchlässiger als früher, doch bei Licht betrachtet ist das nichts Neues: Peter Schneiders Vivaldi-Biographie zum Beispiel ist kein Roman, sein Buch "Die Lieben meiner Mutter" aber sehr wohl, obwohl beide Texte sich nur thematisch, nicht aber stilistisch unterscheiden. Trotzdem ist es ein Rätsel, warum der Suhrkamp Verlag das soeben auf Deutsch erschienene Buch "Das blinde Licht" des Chilenen Benjamín Labatut als Roman apostrophiert - der Untertitel "Irrfahrten der Wissenschaft" trifft den Sachverhalt genauer. Die Lektüre erinnert mich an dickleibige Wälzer mit Titeln wie "Du und die Natur", "Du und die Physik", die ich als Jugendlicher begeistert verschlang, obwohl oder weil ich von den Ausführungen über Atomphysik und Quantentheorie nur die Hälfte verstand und das Gelesene sofort wieder vergaß.
So auch hier: Der Autor nimmt sich nichts Geringeres vor, als die Grundlagen moderner Physik und Chemie, von der Relativitätstheorie bis zum Bau der Atombombe, nicht zu erklären, sondern zu erzählen. Das gelingt ihm so gut, dass man das Buch mit Bedauern aus der Hand legt, weil es spannender ist als jeder Tatort-Krimi. Also doch ein Roman? Ja, aber ohne das, was seit Robinson Crusoe und Madame Bovary Generationen von Lesern fasziniert: eine Hauptfigur, mit deren tragischem Schicksal man sich identifiziert.
Stattdessen kommen in Labatuts Buch die wissenschaftlichen Koryphäen gleich dutzendweise zu Wort, und um den Überblick zu behalten, hat der Autor sie zu Paaren gebündelt wie einst die Parallelbiographien von Plutarch: Einstein und Max Planck, Heisenberg und Schrödinger, Robert Oppenheimer und Niels Bohr. Die wirklichen Helden des Buchs aber sind Atome - nein, subatomare Teilchen oder Wellen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, zugleich aber stillstehen und, wenn sie die Umlaufbahn wechseln, Blitze aussenden. Das verstehe, wer will!
Labatuts Buch beginnt mit einem Einstieg, der die Leser, ob sie wollen oder nicht, wie ein cliffhanger zum Weiterlesen zwingt: "Bei einer Untersuchung Monate vor Beginn der Nürnberger Prozesse fiel den Ärzten auf, dass Hermann Görings Finger- und Fußnägel knallrot gefärbt waren." Nicht etwa durch Nagellack, den Göring auftrug, wenn er sich in Karinhall als Nero kostümierte, sondern durch Überdosen von Schmerzmitteln, die er konsumiert hatte, um dem Stress des Krieges gewachsen zu sein. Um vor dem Nürnberger Tribunal auszusagen, musste Göring erst von dieser Sucht geheilt und entgiftet werden. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zur Zyankalikapsel, die er aufbiss, als er erfuhr, dass er nicht, wie gewünscht, erschossen, sondern gehängt werden sollte.
Es ist bewundernswert, wie der Erzähler Labatut den Bogen schlägt vom zyanidhaltigen Preußischblau über die Wandfarbe Pariser Grün, deren Arsenausdünstung Schillers und Napoleons Gesundheit zerrüttete, zu Giftgasattacken im Ersten Weltkrieg und zur Massenvernichtung der Juden durch Zyklon B. Aber in dem rasanten Tempo, mit dem Labatut die Geschichte durcheilt und jedes Mal elegant die Kurve kriegt, liegt eine Gefahr, die im Verlauf der Lektüre deutlich hervortritt. Hier zwei Stichproben: "In den letzten Lebenswochen des Kaisers zerstörte die Krankheit seinen Körper. Seine Haut nahm einen grauen, leichenfahlen Ton an, seine Augen verloren allen Glanz, die Armmuskulatur schwand, in seinem spärlichen Bart klebten Reste von Erbrochenem." Und: "Die Krankheit begann mit zwei Blasen am Mundwinkel. Nach einem Monat bedeckten sie seine Hände, die Füße, die Lippen, den Hals und die Genitalien. Nach zwei Monaten war er tot."
Das erste Mal ist von Napoleon die Rede, der auf St. Helena dahinsiecht, das zweite Mal von Karl Schwarzschild, dem Entdecker der nach ihm benannten Unschärferelation, die Albert Einstein faszinierte, sowie der Schwarzen Löcher im All, wo Raum und Zeit implodieren. Schon hier zeigt sich, welchen Preis der Autor bezahlt, um die Fortschritte der modernen Physik verständlich und sinnlich nachvollziehbar zu machen. Gemeint ist eine fatale Tendenz, die Protagonisten des Buches zu Schmerzensmännern zu stilisieren, die wie Säulenheilige in der Wüste von Teufeln gequält und von Dämonen gepiesackt werden, um durch Nacht zum Licht, sprich: zur Erkenntnis der Wahrheit, zu gelangen.
Der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Arbeit und mystischer Schau wird so zur quantité négligeable, ähnlich wie der zwischen dem Physiker Niels Bohr und dem Künstler van Gogh. Es gibt süßen und sauren Kitsch, und um die Selbstaufopferung der Forscher glaubhaft zu machen, zieht Labatut alle Register seiner Erzählkunst und schreckt vor keiner noch so absurden Übertreibung zurück: "Eine Kette aus Menschenköpfen um den Hals, schwang Kali mit ihren zahlreichen Armen Schwerter, Äxte und Messer und bespritzte ihn mit Blutstropfen, und dabei rieb sie ihm das Geschlecht, bis er es vor Erregung nicht mehr aushielt, und in dem Moment enthauptete sie ihn und verzehrte seine Genitalien." Kein Splatter-Roman, sondern ein Versuch, zu veranschaulichen, dass und wie die Quantenmechanik unsere Vorstellungen von Raum und Zeit, Leben und Tod durcheinanderwirbelt. Trotz aller Einwände aber ist das von Thomas Brovot vorzüglich übersetzte Buch ein großer Wurf und macht neugierig auf das, was dieses enfant terrible der chilenischen Literatur geschrieben hat und in Zukunft noch schreiben wird.
HANS CHRISTOPH BUCH
Benjamín Labatut: "Das blinde Licht". Irrfahrten der Wissenschaft.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2020. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ralph Hammerthaler scheint fasziniert von Benjamin Labatuts Roman, der sich laut Rezensent aus einem "schweifend essayistischen Schreiben herausschält". Eine Geschichte des Gifts Cyanid enthält das Buch ebenso wie kleine Porträts von Wissenschaftlern wie Karl Schwarzschild oder Werner Heisenberg. Die Komposition scheint Hammerthal kunstvoll, Stil und Sprache "brillant". Selten wurden dem Rezensenten die Grenzen des Denkens und Zustände der Epiphanie in der Wissenschaft unterhaltsamer nahegebracht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Benjamín Labatut zeigt meisterlich die Grenze zwischen Wahnsinn und Wissenschaft ... und schafft es, dass Quantenmechanik und Biochemik begreiflich werden. Ich kann Das blinde Licht von Herzen empfehlen.« Charlotte Van den Broeck SWR2 lesenswert Magazin 20210922