Ist Literatur im exterministischen 20. Jahrhundert, in dem Tod ein Meister aus Deutschland geworden ist, noch möglich? Ist ihre Daseinsberechtigung entfallen, da nach Auschwitz jede kulturelle Produktion nur Ausdruck der Barbarei sein kann? Ist Literatur gerade wegen der Gräueltaten notwendig, gar unumgänglich? Welcher Verfahren hat sich solche Literatur zu bedienen? Diese Fragen verfolgt der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2016 in seinen poetischen Untersuchungen und hat eine ebenso knappe wie weitreichende Antwort parat: durch Detailarbeit am Material der Realität wie der Literatur.
Marcel Beyer verfährt bei seinen Erkundungen des Status von Literatur nach dem Ausschlussprinzip: das Radio funktioniert als notwendigerweise eindimensionales Medium; das Kino tritt stets im Gewand der Inszenierung auf und ist bekanntlich genauso manipulierbar wie die Fotografie. Im selben Maße, wie die überlieferten Zeugnisse der Quellenkritik bedürfen, ist für die Dokusoap eine Kritik der in der Regel anmaßenden Zeitzeugen notwendig.
Weit entfernt von jeder Regelpoetik oder den Creative-Writing-Ratschlägen ist die poetische Bilanz, die analytisch, essaysistisch wie erzählerisch verfährt, von Marcel Beyer ernüchternd: eine Literatur ohne Reflexion auf deren Entstehung und zeitgenössischen Tendenzen ist nicht zu haben. Und ist für Marcel Beyer-Leser ermutigend: Dieser Autor beherrscht solche Forderungen der Vergangenheit und der Jetztzeit mit Nachdruck und dem notwendigen Spiel.
Marcel Beyer verfährt bei seinen Erkundungen des Status von Literatur nach dem Ausschlussprinzip: das Radio funktioniert als notwendigerweise eindimensionales Medium; das Kino tritt stets im Gewand der Inszenierung auf und ist bekanntlich genauso manipulierbar wie die Fotografie. Im selben Maße, wie die überlieferten Zeugnisse der Quellenkritik bedürfen, ist für die Dokusoap eine Kritik der in der Regel anmaßenden Zeitzeugen notwendig.
Weit entfernt von jeder Regelpoetik oder den Creative-Writing-Ratschlägen ist die poetische Bilanz, die analytisch, essaysistisch wie erzählerisch verfährt, von Marcel Beyer ernüchternd: eine Literatur ohne Reflexion auf deren Entstehung und zeitgenössischen Tendenzen ist nicht zu haben. Und ist für Marcel Beyer-Leser ermutigend: Dieser Autor beherrscht solche Forderungen der Vergangenheit und der Jetztzeit mit Nachdruck und dem notwendigen Spiel.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2017Wo münden Tränenflüsse?
Heintje, Adorno, Helmut Kohl und der heilige Ignatius: In seinem Essayband „Das blindgeweinte Jahrhundert“
erkundet Marcel Beyer die letzten Jahrzehnte der Bundesrepublik und seine eigene Autorschaft
VON LOTHAR MÜLLER
Da ist, zum Beispiel, dieser tote Hund, aus dessen Auge gelbes Zeug rinnt. Vanillesoße. Als er in die Welt kam, im November 1967 in dem Song „I am the Walrus“ auf dem Beatles-Album „Magical Mystery Tour“, wurde Marcel Beyer zwei Jahre alt. Und da sind die Tränen, die in bestürzender Fülle aus den Augen des heiligen Ignatius von Loyola stürzen, während der Messe, während der Andacht, während des Gebets, und die sich in dem „Geistlichen Tagebuch“, das er seit dem 2. Februar 1544, einem Samstag, führt, in geschriebene Tränen verwandeln.
Natürlich hat der Zufall ein wenig mitgewirkt, um den Hund und den Heiligen in Marcel Beyers neuem Buch „Das blindgeweinte Jahrhundert“ zusammenzuführen. Aber er musste nicht groß nachhelfen. Denn in der Welt des Autors berühren sich die Welt der Popkultur und die der geistigen, wenn auch nicht geistlichen, Exerzitien. In der Musikszene des Rheinlandes ist er aufgewachsen, als er in den Achtzigerjahren zu schreiben begann, kam der Walkman auf, und in den Geisteswissenschaften, die er in Siegen studierte, waren die Theorien, zumal die aus Frankreich, immer noch Drogen. Irgendwann auf dem Weg zur Autorschaft muss dann der Geist von Roland Barthes am Wegesrand gestanden haben, der im Februar 1980 in Paris einem Straßenunfall zum Opfer gefallen war. Er hatte sein Buch „Sade Fourier Loyola“ unter dem Arm und die Seiten aufgeschlagen, auf denen er begonnen hatte, den Tränencode im Tagebuch des Ignatius von Loyola zu entschlüsseln.
„Yellow matter custard dripping from a dead dog’s eye“, das verlangte nach einer neuen Philologie und nach der Wiederentdeckung der deutschsprachigen Dadaisten, Lautpoeten und Toningenieure im frühen 20. Jahrhundert. In beides stürzte sich Beyer hinein, und als er herauskam, fand er sich in der Wiener Wortküche der Lyrikerin Friederike Mayröcker wieder, schrieb Gedichte, Romane, Essays.
Lange Jahre, schreibt Beyer im Nachwort, trug er eine Frage von Roland Barthes mit sich herum: „Wer schreibt eine Geschichte der Tränen?“ Die Gelegenheit, fragmentarische Vorarbeiten auf ein Buch hin zu verdichten, kam mit der Einladung, im Januar und Februar 2016 die Poetik-Vorlesungen an der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität in Frankfurt am Main zu halten. Eine Geschichte, gar Kulturgeschichte der Tränen hat Marcel Beyer zum Glück nicht geschrieben. Er wäre darin ertrunken. Er hat vielmehr seinen Prosaband „Putins Briefkasten“ (2012) fortgeschrieben, dessen Essays, Anekdoten, Reiseskizzen und Reflexionen die Welt- und Spracherkundung nicht ins Ungefähre betreiben, sondern am Leitfaden der eigenen Biografie, der Ostbewegung eines Westdeutschen, der Mitte der Neunzigerjahre vom Rheinland nach Dresden zog.
Die Welt, aus der dieser Westdeutsche kam, steht nun im Zentrum. „Das blindgeweinte Jahrhundert“ enthält die nachgetragene Vorgeschichte der Wendejahre, den Rückblick in die untergegangene alte Bundesrepublik. Die Lieder des holländischen Kinderstars Heintje, in denen die Tränen nur scheinbar gebannt werden („Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“) hausen noch heute wie Dämonen in der Kindheit des Autors. Wer 1965 geboren ist, dem singen schon an der Wiege die Beatles, aber er ist noch nah genug an der Nachkriegszeit, um über die Eltern und Großeltern mit den Söhnen in Berührung zu kommen, die, anders als bei Heintje, das Schicksal nie wieder mit den Müttern vereint.
Heintje war der Lieblingssänger der Großmutter des Autors. Ihr Lieblingspolitiker war Franz Josef Strauß. Dessen Tod am 1. Oktober 1988 rahmt der Enkel in ein Medaillon ein, das eine Meditation über das Verhältnis von Schweißausbruch und Tränenausbruch einschließt. Helmut Kohl besucht bei seinem Staatsbesuch in der Schweiz im April 1989 das Grab Rainer Maria Rilkes, den er bewundert, und als er im Dezember desselben Jahres mit der Sondermaschine auf dem Flughafen Dresden landet, ist nichts mehr, wie es war.
Der Autor verwandelt sich in diesen Essays in einen Zeitzeugen, der auch von Ereignissen berichtet, bei denen er selbst nicht anwesend war. Wo seine Wünschelrute anschlägt, da entdeckt er vergossene, zurückgehaltene, verdrückte Tränen, die zur inneren Geschichte seines Landes gehören, parteiübergreifend, bei Angela Merkel im Jahr 1995 wie bei ihrem Herausforderer Peer Steinbrück 2013, oder bei einem fiktiven Doppelgänger, der die Schrecksekunde des Skandals durchlebt, in den Dominique Strauss-Kahn geriet, als er im Mai 2011 die Suite 2806 des Sofitel in New York verließ.
Im Essay über das Tränentagebuch des Ignatius von Loyola findet sich das Credo des Autors Marcel Beyer. Für den Heiligen ist die Sprache ein lästiges Hindernis, sein Projekt ist ein Näheprojekt, der unmittelbare Umgang mit Gott im Medium der Tränen. Beyer verwandelt den Tränenfuror in Sprachfuror, jede Selbstauskunft, mit der er den Erwartungen an Poetikvorlesungen entgegenkommt, ist eine Auskunft über den „Sprachrausch“, über „das Gefühl, in der Sprache zu zerfließen“.
Die Verflüssigung und Selbstauflösung des Ich zugunsten der ungehinderten Anwesenheit Gottes stand im Zentrum der christlichen „Gabe der Tränen“, der Roland Barthes auf der Spur war. Marcel Beyer stellt dem Tagebuch des Ignatius in einer furiosen Zitatmontage das Tagebuch des polnischen Autors Witold Gombrowicz gegenüber, in dem von Beginn an klar ist: „Auf den folgenden eintausend Seiten ist alles Stil.“
Beyer folgt Gombrowicz, sein Credo ist eine Hommage an die Schrift, eine Souveränitätserklärung des modernen Autors: „Sechsundzwanzig Buchstaben, schwarz auf weiß, aneinandergereiht und von gleichmäßig großen Lücken strukturiert. Ganz gleich, ob sie in einer Bewegung aus der rechten Hand fließen oder ob sie mit fünf bis sieben Fingern auf einer eindeutig belegten Tastatur in den Rechner getippt werden. Ein kombinatorisches Spiel ohne doppelten Boden, das mir gleichwohl den Zugang zu unbekannten Welten eröffnet, in denen, sofern mich denn danach verlangt, selbst Feen und Zauberer und Gnome tun und lassen, was ich will.“
Es gibt derzeit viele „Memoirs“, autobiografische Texte, in denen scheinbar das Leben selbst zu Wort kommt. Marcel Beyer kennt keine Geschichten, die das Leben schreibt. Er kennt nur geschriebene Tränen. Und betrachtet sie mit Misstrauen, wenn jemand sie in ein Bild hineinretuschiert wie jener Fernsehhistoriker, der im Jahr 1999 die Erzählung in die Welt setzt, der Philosoph Theodor W. Adorno sei an jenem 22. April 1969, als drei junge Frauen im Hörsaal auf ihn zustürzten, ihre Lederjacken öffneten und ihm ihre nackten Brüste zeigten, in Tränen ausgebrochen.
In der Hommage an Adorno behauptet sich die Literatur gegen das Fernsehen, in den Poetikvorlesungen, die zu diesem Buch beigetragen haben, hat Beyer kein Lied von Heintje vorgespielt, kein Bild gezeigt, nur Worte gemacht. Aber in den Wörtern, in der Schrift steckt bei diesem Autor die Musik, die Malerei, die Fotografie.
Marcel Beyer hat geträumt, er habe das Libretto zu einer Oper, zum letzten Projekt des Medienwissenschaftlers und Pink Floyd-Fans Friedrich Kittler verfasst. In dem Essay darüber sind Poetik und Autobiografie Zwillinge. Und die Welt vor 1989/90 geht in den Balkankriegen unter. Dieser Autor ist in seiner Poetik selbstbewusst und zugleich politisch hellwach.
Sofern mich danach
verlangt, tun und lassen selbst
Feen und Zauberer
und Gnome, was ich will.“
Unter dem Kanzler Helmut Kohl ist Marcel Beyer erwachsen geworden. Bei einem Besuch in der Schweiz entdeckte er 2005 in Kohl den Rilke-Verehrer und baute ihn in sein Tränenbuch ein. Foto: dpa
Marcel Beyer: Das
blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2017. 271 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Heintje, Adorno, Helmut Kohl und der heilige Ignatius: In seinem Essayband „Das blindgeweinte Jahrhundert“
erkundet Marcel Beyer die letzten Jahrzehnte der Bundesrepublik und seine eigene Autorschaft
VON LOTHAR MÜLLER
Da ist, zum Beispiel, dieser tote Hund, aus dessen Auge gelbes Zeug rinnt. Vanillesoße. Als er in die Welt kam, im November 1967 in dem Song „I am the Walrus“ auf dem Beatles-Album „Magical Mystery Tour“, wurde Marcel Beyer zwei Jahre alt. Und da sind die Tränen, die in bestürzender Fülle aus den Augen des heiligen Ignatius von Loyola stürzen, während der Messe, während der Andacht, während des Gebets, und die sich in dem „Geistlichen Tagebuch“, das er seit dem 2. Februar 1544, einem Samstag, führt, in geschriebene Tränen verwandeln.
Natürlich hat der Zufall ein wenig mitgewirkt, um den Hund und den Heiligen in Marcel Beyers neuem Buch „Das blindgeweinte Jahrhundert“ zusammenzuführen. Aber er musste nicht groß nachhelfen. Denn in der Welt des Autors berühren sich die Welt der Popkultur und die der geistigen, wenn auch nicht geistlichen, Exerzitien. In der Musikszene des Rheinlandes ist er aufgewachsen, als er in den Achtzigerjahren zu schreiben begann, kam der Walkman auf, und in den Geisteswissenschaften, die er in Siegen studierte, waren die Theorien, zumal die aus Frankreich, immer noch Drogen. Irgendwann auf dem Weg zur Autorschaft muss dann der Geist von Roland Barthes am Wegesrand gestanden haben, der im Februar 1980 in Paris einem Straßenunfall zum Opfer gefallen war. Er hatte sein Buch „Sade Fourier Loyola“ unter dem Arm und die Seiten aufgeschlagen, auf denen er begonnen hatte, den Tränencode im Tagebuch des Ignatius von Loyola zu entschlüsseln.
„Yellow matter custard dripping from a dead dog’s eye“, das verlangte nach einer neuen Philologie und nach der Wiederentdeckung der deutschsprachigen Dadaisten, Lautpoeten und Toningenieure im frühen 20. Jahrhundert. In beides stürzte sich Beyer hinein, und als er herauskam, fand er sich in der Wiener Wortküche der Lyrikerin Friederike Mayröcker wieder, schrieb Gedichte, Romane, Essays.
Lange Jahre, schreibt Beyer im Nachwort, trug er eine Frage von Roland Barthes mit sich herum: „Wer schreibt eine Geschichte der Tränen?“ Die Gelegenheit, fragmentarische Vorarbeiten auf ein Buch hin zu verdichten, kam mit der Einladung, im Januar und Februar 2016 die Poetik-Vorlesungen an der Johann-Wolfgang- Goethe-Universität in Frankfurt am Main zu halten. Eine Geschichte, gar Kulturgeschichte der Tränen hat Marcel Beyer zum Glück nicht geschrieben. Er wäre darin ertrunken. Er hat vielmehr seinen Prosaband „Putins Briefkasten“ (2012) fortgeschrieben, dessen Essays, Anekdoten, Reiseskizzen und Reflexionen die Welt- und Spracherkundung nicht ins Ungefähre betreiben, sondern am Leitfaden der eigenen Biografie, der Ostbewegung eines Westdeutschen, der Mitte der Neunzigerjahre vom Rheinland nach Dresden zog.
Die Welt, aus der dieser Westdeutsche kam, steht nun im Zentrum. „Das blindgeweinte Jahrhundert“ enthält die nachgetragene Vorgeschichte der Wendejahre, den Rückblick in die untergegangene alte Bundesrepublik. Die Lieder des holländischen Kinderstars Heintje, in denen die Tränen nur scheinbar gebannt werden („Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen“) hausen noch heute wie Dämonen in der Kindheit des Autors. Wer 1965 geboren ist, dem singen schon an der Wiege die Beatles, aber er ist noch nah genug an der Nachkriegszeit, um über die Eltern und Großeltern mit den Söhnen in Berührung zu kommen, die, anders als bei Heintje, das Schicksal nie wieder mit den Müttern vereint.
Heintje war der Lieblingssänger der Großmutter des Autors. Ihr Lieblingspolitiker war Franz Josef Strauß. Dessen Tod am 1. Oktober 1988 rahmt der Enkel in ein Medaillon ein, das eine Meditation über das Verhältnis von Schweißausbruch und Tränenausbruch einschließt. Helmut Kohl besucht bei seinem Staatsbesuch in der Schweiz im April 1989 das Grab Rainer Maria Rilkes, den er bewundert, und als er im Dezember desselben Jahres mit der Sondermaschine auf dem Flughafen Dresden landet, ist nichts mehr, wie es war.
Der Autor verwandelt sich in diesen Essays in einen Zeitzeugen, der auch von Ereignissen berichtet, bei denen er selbst nicht anwesend war. Wo seine Wünschelrute anschlägt, da entdeckt er vergossene, zurückgehaltene, verdrückte Tränen, die zur inneren Geschichte seines Landes gehören, parteiübergreifend, bei Angela Merkel im Jahr 1995 wie bei ihrem Herausforderer Peer Steinbrück 2013, oder bei einem fiktiven Doppelgänger, der die Schrecksekunde des Skandals durchlebt, in den Dominique Strauss-Kahn geriet, als er im Mai 2011 die Suite 2806 des Sofitel in New York verließ.
Im Essay über das Tränentagebuch des Ignatius von Loyola findet sich das Credo des Autors Marcel Beyer. Für den Heiligen ist die Sprache ein lästiges Hindernis, sein Projekt ist ein Näheprojekt, der unmittelbare Umgang mit Gott im Medium der Tränen. Beyer verwandelt den Tränenfuror in Sprachfuror, jede Selbstauskunft, mit der er den Erwartungen an Poetikvorlesungen entgegenkommt, ist eine Auskunft über den „Sprachrausch“, über „das Gefühl, in der Sprache zu zerfließen“.
Die Verflüssigung und Selbstauflösung des Ich zugunsten der ungehinderten Anwesenheit Gottes stand im Zentrum der christlichen „Gabe der Tränen“, der Roland Barthes auf der Spur war. Marcel Beyer stellt dem Tagebuch des Ignatius in einer furiosen Zitatmontage das Tagebuch des polnischen Autors Witold Gombrowicz gegenüber, in dem von Beginn an klar ist: „Auf den folgenden eintausend Seiten ist alles Stil.“
Beyer folgt Gombrowicz, sein Credo ist eine Hommage an die Schrift, eine Souveränitätserklärung des modernen Autors: „Sechsundzwanzig Buchstaben, schwarz auf weiß, aneinandergereiht und von gleichmäßig großen Lücken strukturiert. Ganz gleich, ob sie in einer Bewegung aus der rechten Hand fließen oder ob sie mit fünf bis sieben Fingern auf einer eindeutig belegten Tastatur in den Rechner getippt werden. Ein kombinatorisches Spiel ohne doppelten Boden, das mir gleichwohl den Zugang zu unbekannten Welten eröffnet, in denen, sofern mich denn danach verlangt, selbst Feen und Zauberer und Gnome tun und lassen, was ich will.“
Es gibt derzeit viele „Memoirs“, autobiografische Texte, in denen scheinbar das Leben selbst zu Wort kommt. Marcel Beyer kennt keine Geschichten, die das Leben schreibt. Er kennt nur geschriebene Tränen. Und betrachtet sie mit Misstrauen, wenn jemand sie in ein Bild hineinretuschiert wie jener Fernsehhistoriker, der im Jahr 1999 die Erzählung in die Welt setzt, der Philosoph Theodor W. Adorno sei an jenem 22. April 1969, als drei junge Frauen im Hörsaal auf ihn zustürzten, ihre Lederjacken öffneten und ihm ihre nackten Brüste zeigten, in Tränen ausgebrochen.
In der Hommage an Adorno behauptet sich die Literatur gegen das Fernsehen, in den Poetikvorlesungen, die zu diesem Buch beigetragen haben, hat Beyer kein Lied von Heintje vorgespielt, kein Bild gezeigt, nur Worte gemacht. Aber in den Wörtern, in der Schrift steckt bei diesem Autor die Musik, die Malerei, die Fotografie.
Marcel Beyer hat geträumt, er habe das Libretto zu einer Oper, zum letzten Projekt des Medienwissenschaftlers und Pink Floyd-Fans Friedrich Kittler verfasst. In dem Essay darüber sind Poetik und Autobiografie Zwillinge. Und die Welt vor 1989/90 geht in den Balkankriegen unter. Dieser Autor ist in seiner Poetik selbstbewusst und zugleich politisch hellwach.
Sofern mich danach
verlangt, tun und lassen selbst
Feen und Zauberer
und Gnome, was ich will.“
Unter dem Kanzler Helmut Kohl ist Marcel Beyer erwachsen geworden. Bei einem Besuch in der Schweiz entdeckte er 2005 in Kohl den Rilke-Verehrer und baute ihn in sein Tränenbuch ein. Foto: dpa
Marcel Beyer: Das
blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2017. 271 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2017Der Staatsgast
Als Helmut Kohl das Grab von Rilke besuchte
Von Marcel Beyer
"Der Tag von Raron" heißt eine Erzählung in Marcel Beyers gerade erschienenem Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert", in dem er vom Besuch Helmut Kohls am Grab des Dichters Rainer Maria Rilke erzählt, am 14. April 1989. Wenige Monate später hatte sich die gesamte Welt verändert. April 1989, das war plötzlich "früher", als es offenbar nichts Wichtigeres zu tun gab, als das Grab eines toten Dichters zu besuchen, "dessen Verse bereits eine Generation zuvor nur noch als elend lange Weichspülerwerbung wahrgenommen wurden". Genau diese vermeintliche Harmlosigkeit Rilkes habe Helmut Kohl später geschickt genutzt, als es darum ging, den Kalten Krieg endgültig zu beenden, wenn er in seiner Rede zum Abzug der russischen Streitkräfte Rilke als großen Russlandfreund hervorhob. Rilke lesen, am Grab von Rilke stehen, als Mitglied der GUS-Truppen Abschied nehmen - es sind "Tränensituationen", die Marcel Beyer in seinem neuen Buch interessieren. Wir drucken zum Tod von Helmut Kohl einen Auszug.
Da steht er jetzt. Er liest:
ROSE, OH REINER WIDERSPRUCH,
LUST,
NIEMANDES SCHLAF ZU SEIN
UNTER SOVIEL
LIDERN.
Er liest, wie zu vermuten ist, die von Rilke in seinem Testament als Grabinschrift bestimmten Worte noch einmal. Er wird diese opaken, in sich geschlossenen, wie aus einem fest geschlossenen Auge heraus gesprochenen Verse ohnehin auswendig kennen. Dem Betrachter wendet er den Rücken zu.
Niemand - als Letzter wohl er selbst - würde behaupten, der Staatsgast pflegte engen Kontakt zu Schriftstellern, sieht man einmal von jenem schwerlich als Schriftsteller zu bezeichnenden Mann ab, der ihn auf seinem Staatsbesuch in Israel begleitet hat. Ein mittlerweile vollkommen vergessener Autor, dem niemand hätte widersprechen können, wäre er darauf verfallen, sich selbst als größten Troll zu preisen, den die alte Bundesrepublik je hervorgebracht hat. Es gehört zu den großen Mysterien der Bundesrepublik, dass ernst zu nehmende Figuren aus der politischen Sphäre über Jahrzehnte hinweg seine Nähe gesucht, ja, dass sie es überhaupt je länger als dreißig Sekunden in seiner Gegenwart ausgehalten haben, ohne in Tränen der Verzweiflung auszubrechen.
Leicht kann es einem noch heute passieren, ob man sich nun ein näheres Bild von ihm machen möchte oder nicht, dass man bei einem Streifzug durch die Antiquariate in München irgendwo auf einem Bücherstapel eines seiner zahllosen Werke findet. Vielleicht nicht unbedingt den 1940 von ihm herausgegebenen Sammelband "Krieg und Dichtung. Soldaten werden Dichter - Dichter werden Soldaten. Ein Volksbuch", auch nicht "Der deutsche Selbstmord. Diktatur der Meinungsmacher" von 1963, dessen Titel einem aus der jüngeren Vergangenheit so verflixt bekannt vorkommt. (. . .)
Er also nimmt auf der Israelreise des Bundeskanzlers jene Stelle ein, die Max Frisch auf der Chinareise Helmut Schmidts eingenommen hat.
Fortsetzung auf Seite 42.
Deutlicher könnte ein Politiker nicht zum Ausdruck bringen, welche Rolle die Literatur in seinem Leben spielt - ohne in die Verlegenheit zu geraten, auch nur ein einziges Wort über Literatur verlieren zu müssen.
Möglich, die eigene Unbedarftheit, die eigene Harmlosigkeit in Sachen Literatur will kompensiert sein, indem man sich, wenn überhaupt, in Gesellschaft von Schriftstellern zeigt, die das genaue Gegenteil von Harmlosigkeit versprechen. Ernst Jünger mit seinem sicheren Gespür für die Macht scheint dies instinktiv begriffen zu haben, da er dem Kanzler anlässlich eines Besuches in Wilflingen in seinen von Literaturkritik und -geschichte gnädig übergangenen historischen Kriminalroman die Widmung "Zur Erinnerung an eine ungefährliche Begegnung" schrieb. Ein weicher Händedruck, verbunden mit der Einladung, in zehn Jahren zum hundertsten Geburtstag ruhig wieder mal in der Oberförsterei vorbeizuschauen.
Und nun, höchst rätselhaft, dieser Besuch bei einem toten Dichter, der wie kein zweiter im zwanzigsten Jahrhundert für blumige, parfümvollendete Harmlosigkeiten steht. Wenn dieses Bild auch kaum auf näherer Kenntnis seiner Werke beruht, so lässt sich doch vom Menschen Rainer Maria Rilke, vom gewöhnlichen Rilke fraglos feststellen, dass er zumindest kein Mann zum Fürchten war. Weder fiel er durch besondere Aggressivität auf, noch kultivierte er einen martialischen Gestus, von dem sich im Grunde nur aufschneiderische Etappenhasen tief beeindruckt zeigen können.
Nie wäre Rilke auf die Idee gekommen, mit anderen Schriftstellern vorzugsweise in Kontakt zu treten, indem er Anzeige wegen "übelster pornographischer Ferkeleien" gegen sie erstattet, wie jener Autor mit dem unaussprechlichen, der Gattung Spermophilus zugehörigen Namen es als selbsternanntes Gewissen der Nation mit Vorliebe tat. Nie hätte Rilke sich wie Ernst Jünger stolz fotografieren lassen, während er um die Leiche eines britischen Offiziers herumtänzelt und mit einem langen Stock hantiert, anscheinend am Oberschenkel des seiner Stiefel beraubten, wie ein Stück Dreck präsentierten Toten herumstochernd, und damit einen nicht eben sonderlich "männlichen" Anblick bietend, als wäre er mit einer dieser Massenmörderfiguren im zerfallenden Jugoslawien eng verwandt.
Von dem Moment, als der Staatsgast vor Rilkes Grab steht, lässt sich keine einzige Aufnahme auftreiben, sei es, dass die mitreisenden Fotografen hier auf dem Totenacker aus Gründen der Pietät nicht abgedrückt haben, sei es, dass die Bilder nie freigegeben wurden. Ob der Gast an Rilkes letzter Ruhestätte Tränen vergießt, wüsste kein Mensch zu sagen. Gut möglich auch, es geht ihm wie Malte Laurids Brigge, von dem es heißt: "Andere weinten; er aber war innen voll glänzender Tränen und presste nur die kalten Hände ineinander, um es zu ertragen."
Merkwürdigerweise sehe ich ihn in Vertretung seiner Frau am Grab stehen. Als hätte sie ihm, als er in die Schweiz aufbrach, das Versprechen abgenommen, an ihrer Stelle den kleinen Kirchhof oberhalb der Rhone aufzusuchen, wo ihr Lieblingsdichter begraben liegt. Ein Dichter, so meine aus der Luft gegriffene Phantasie, den die Kanzlergattin mit eigenen Jugendschwärmereien in Verbindung bringt, mit Mädchenträumen von einer durch und durch poetischen, von Poesie getragenen Welt, die ein für alle Mal hinter einer undurchdringlichen Nebelwand verschwand, genau in dem Moment, als die junge Frau dem aufstrebenden, streng kalkulierenden, seinen Blick fest auf die Macht richtenden Mann an ihrer Seite das Jawort gab.
Merkwürdiger noch, und mich selbst erschreckend: Im Grunde sehe ich ihn, ebendiesen Mann, dessen vielleicht nicht Jugend-, aber doch lange genug gehegter Erwachsenentraum von der Macht vor sieben Jahren Wirklichkeit geworden ist, nicht einfach in Vertretung seiner Frau an Rilkes Grab, ich sehe ihn - Vergangenheit und Zukunft ineinanderschiebend - am Grab seiner verstorbenen Gattin.
* * * Die wenigen greifbaren Fotos vom Besuch im Wallis führen mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Die Gattin des Staatsgastes ist wohlauf. Man erkennt sie, mit dem charakteristischen, zwischen Weltskepsis und Weltvertrauen changierenden Gesichtsausdruck, leicht an der Seite ihres Mannes. Und ihr Mann lacht.
Er lacht im Sonderzug der Schweizerischen Bundesbahnen, so wie die ganze Tischgesellschaft lacht. Aus dem Fenster schaut er nicht, und es ist kaum vorstellbar, dass ihm in dieser Situation Rilkeverse durch den Kopf gehen. Der Zug hält in Raron, einem Städtchen im Wallis. Sie steigen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschen sie, dem Foto nach zu urteilen, während ein junger Soldat am Bahnsteig einen kleinen Vortrag hält. Doch er, der Staatsgast, lacht. Er lacht, als ihm auf der Straße eine Frau mit rotgefärbtem Haar ihren fähnchenschwingenden Sohn entgegenhält, den er, ganz sachte, mit dem Zeigefinger am Unterarm berührt. Bereits am Vortag hat er mit dem Schweizer Bundespräsidenten am Haus Wattenwyl auf einem Sofa zusammengesessen, und zwar noch nicht gelacht, aber doch wenigstens gelächelt: Man sieht da, wie die Anspannung nach und nach aus seinem Gesicht weicht, nachdem er noch am Vormittag auf einer Pressekonferenz in Bonn eine Kabinettsumbildung bekanntgegeben und damit fürs Erste ein von Kanzlersturzphantasien begleitetes Rumoren innerhalb der Regierung beendet hat.
Lediglich eine offizielle Fotografie aus Raron gibt es, die ihn nachdenklich zeigt. Darauf sieht man, alles grau in grau: unter dem einfarbigen Himmel die Rarner Burgkirche im Dunst. Nur einen Grauton tiefer der schneegesprenkelte Fels. Im Vordergrund, bis an den unteren Bildrand langsam in Schwarz verschwimmend, der Staatsgast im hochgeschlossenen, anthrazitfarbenen Trenchcoat und neben ihm, im ebenso dunklen, gestreiften Jackett, der Bundespräsident. Der Bundespräsident streckt den linken Arm aus, wendet den Blick nach links, als sei er im Begriff, den Ortsfremden auf ein gleichermaßen graues landschaftliches Detail hinzuweisen, während er vielleicht, Rilke zitierend, bemerkt: "Ich weiß mit Schnee nicht viel anzufangen." Der Gast aber scheint gar nicht zuzuhören, schaut in die Luft, die Ferne. Er wirkt entrückt.
Marcel Beyer ist Schriftsteller und lebt in Dresden. Im vergangenen Jahr erhielt er für sein Werk den renommierten Georg-Büchner-Preis.
Marcel Beyer, "Das blindgeweinte Jahrhundert". Suhrkamp-Verlag, 271 Seiten, 22,95 Euro Abb. Suhrkamp
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Helmut Kohl das Grab von Rilke besuchte
Von Marcel Beyer
"Der Tag von Raron" heißt eine Erzählung in Marcel Beyers gerade erschienenem Buch "Das blindgeweinte Jahrhundert", in dem er vom Besuch Helmut Kohls am Grab des Dichters Rainer Maria Rilke erzählt, am 14. April 1989. Wenige Monate später hatte sich die gesamte Welt verändert. April 1989, das war plötzlich "früher", als es offenbar nichts Wichtigeres zu tun gab, als das Grab eines toten Dichters zu besuchen, "dessen Verse bereits eine Generation zuvor nur noch als elend lange Weichspülerwerbung wahrgenommen wurden". Genau diese vermeintliche Harmlosigkeit Rilkes habe Helmut Kohl später geschickt genutzt, als es darum ging, den Kalten Krieg endgültig zu beenden, wenn er in seiner Rede zum Abzug der russischen Streitkräfte Rilke als großen Russlandfreund hervorhob. Rilke lesen, am Grab von Rilke stehen, als Mitglied der GUS-Truppen Abschied nehmen - es sind "Tränensituationen", die Marcel Beyer in seinem neuen Buch interessieren. Wir drucken zum Tod von Helmut Kohl einen Auszug.
Da steht er jetzt. Er liest:
ROSE, OH REINER WIDERSPRUCH,
LUST,
NIEMANDES SCHLAF ZU SEIN
UNTER SOVIEL
LIDERN.
Er liest, wie zu vermuten ist, die von Rilke in seinem Testament als Grabinschrift bestimmten Worte noch einmal. Er wird diese opaken, in sich geschlossenen, wie aus einem fest geschlossenen Auge heraus gesprochenen Verse ohnehin auswendig kennen. Dem Betrachter wendet er den Rücken zu.
Niemand - als Letzter wohl er selbst - würde behaupten, der Staatsgast pflegte engen Kontakt zu Schriftstellern, sieht man einmal von jenem schwerlich als Schriftsteller zu bezeichnenden Mann ab, der ihn auf seinem Staatsbesuch in Israel begleitet hat. Ein mittlerweile vollkommen vergessener Autor, dem niemand hätte widersprechen können, wäre er darauf verfallen, sich selbst als größten Troll zu preisen, den die alte Bundesrepublik je hervorgebracht hat. Es gehört zu den großen Mysterien der Bundesrepublik, dass ernst zu nehmende Figuren aus der politischen Sphäre über Jahrzehnte hinweg seine Nähe gesucht, ja, dass sie es überhaupt je länger als dreißig Sekunden in seiner Gegenwart ausgehalten haben, ohne in Tränen der Verzweiflung auszubrechen.
Leicht kann es einem noch heute passieren, ob man sich nun ein näheres Bild von ihm machen möchte oder nicht, dass man bei einem Streifzug durch die Antiquariate in München irgendwo auf einem Bücherstapel eines seiner zahllosen Werke findet. Vielleicht nicht unbedingt den 1940 von ihm herausgegebenen Sammelband "Krieg und Dichtung. Soldaten werden Dichter - Dichter werden Soldaten. Ein Volksbuch", auch nicht "Der deutsche Selbstmord. Diktatur der Meinungsmacher" von 1963, dessen Titel einem aus der jüngeren Vergangenheit so verflixt bekannt vorkommt. (. . .)
Er also nimmt auf der Israelreise des Bundeskanzlers jene Stelle ein, die Max Frisch auf der Chinareise Helmut Schmidts eingenommen hat.
Fortsetzung auf Seite 42.
Deutlicher könnte ein Politiker nicht zum Ausdruck bringen, welche Rolle die Literatur in seinem Leben spielt - ohne in die Verlegenheit zu geraten, auch nur ein einziges Wort über Literatur verlieren zu müssen.
Möglich, die eigene Unbedarftheit, die eigene Harmlosigkeit in Sachen Literatur will kompensiert sein, indem man sich, wenn überhaupt, in Gesellschaft von Schriftstellern zeigt, die das genaue Gegenteil von Harmlosigkeit versprechen. Ernst Jünger mit seinem sicheren Gespür für die Macht scheint dies instinktiv begriffen zu haben, da er dem Kanzler anlässlich eines Besuches in Wilflingen in seinen von Literaturkritik und -geschichte gnädig übergangenen historischen Kriminalroman die Widmung "Zur Erinnerung an eine ungefährliche Begegnung" schrieb. Ein weicher Händedruck, verbunden mit der Einladung, in zehn Jahren zum hundertsten Geburtstag ruhig wieder mal in der Oberförsterei vorbeizuschauen.
Und nun, höchst rätselhaft, dieser Besuch bei einem toten Dichter, der wie kein zweiter im zwanzigsten Jahrhundert für blumige, parfümvollendete Harmlosigkeiten steht. Wenn dieses Bild auch kaum auf näherer Kenntnis seiner Werke beruht, so lässt sich doch vom Menschen Rainer Maria Rilke, vom gewöhnlichen Rilke fraglos feststellen, dass er zumindest kein Mann zum Fürchten war. Weder fiel er durch besondere Aggressivität auf, noch kultivierte er einen martialischen Gestus, von dem sich im Grunde nur aufschneiderische Etappenhasen tief beeindruckt zeigen können.
Nie wäre Rilke auf die Idee gekommen, mit anderen Schriftstellern vorzugsweise in Kontakt zu treten, indem er Anzeige wegen "übelster pornographischer Ferkeleien" gegen sie erstattet, wie jener Autor mit dem unaussprechlichen, der Gattung Spermophilus zugehörigen Namen es als selbsternanntes Gewissen der Nation mit Vorliebe tat. Nie hätte Rilke sich wie Ernst Jünger stolz fotografieren lassen, während er um die Leiche eines britischen Offiziers herumtänzelt und mit einem langen Stock hantiert, anscheinend am Oberschenkel des seiner Stiefel beraubten, wie ein Stück Dreck präsentierten Toten herumstochernd, und damit einen nicht eben sonderlich "männlichen" Anblick bietend, als wäre er mit einer dieser Massenmörderfiguren im zerfallenden Jugoslawien eng verwandt.
Von dem Moment, als der Staatsgast vor Rilkes Grab steht, lässt sich keine einzige Aufnahme auftreiben, sei es, dass die mitreisenden Fotografen hier auf dem Totenacker aus Gründen der Pietät nicht abgedrückt haben, sei es, dass die Bilder nie freigegeben wurden. Ob der Gast an Rilkes letzter Ruhestätte Tränen vergießt, wüsste kein Mensch zu sagen. Gut möglich auch, es geht ihm wie Malte Laurids Brigge, von dem es heißt: "Andere weinten; er aber war innen voll glänzender Tränen und presste nur die kalten Hände ineinander, um es zu ertragen."
Merkwürdigerweise sehe ich ihn in Vertretung seiner Frau am Grab stehen. Als hätte sie ihm, als er in die Schweiz aufbrach, das Versprechen abgenommen, an ihrer Stelle den kleinen Kirchhof oberhalb der Rhone aufzusuchen, wo ihr Lieblingsdichter begraben liegt. Ein Dichter, so meine aus der Luft gegriffene Phantasie, den die Kanzlergattin mit eigenen Jugendschwärmereien in Verbindung bringt, mit Mädchenträumen von einer durch und durch poetischen, von Poesie getragenen Welt, die ein für alle Mal hinter einer undurchdringlichen Nebelwand verschwand, genau in dem Moment, als die junge Frau dem aufstrebenden, streng kalkulierenden, seinen Blick fest auf die Macht richtenden Mann an ihrer Seite das Jawort gab.
Merkwürdiger noch, und mich selbst erschreckend: Im Grunde sehe ich ihn, ebendiesen Mann, dessen vielleicht nicht Jugend-, aber doch lange genug gehegter Erwachsenentraum von der Macht vor sieben Jahren Wirklichkeit geworden ist, nicht einfach in Vertretung seiner Frau an Rilkes Grab, ich sehe ihn - Vergangenheit und Zukunft ineinanderschiebend - am Grab seiner verstorbenen Gattin.
* * * Die wenigen greifbaren Fotos vom Besuch im Wallis führen mich unsanft in die Wirklichkeit zurück. Die Gattin des Staatsgastes ist wohlauf. Man erkennt sie, mit dem charakteristischen, zwischen Weltskepsis und Weltvertrauen changierenden Gesichtsausdruck, leicht an der Seite ihres Mannes. Und ihr Mann lacht.
Er lacht im Sonderzug der Schweizerischen Bundesbahnen, so wie die ganze Tischgesellschaft lacht. Aus dem Fenster schaut er nicht, und es ist kaum vorstellbar, dass ihm in dieser Situation Rilkeverse durch den Kopf gehen. Der Zug hält in Raron, einem Städtchen im Wallis. Sie steigen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschen sie, dem Foto nach zu urteilen, während ein junger Soldat am Bahnsteig einen kleinen Vortrag hält. Doch er, der Staatsgast, lacht. Er lacht, als ihm auf der Straße eine Frau mit rotgefärbtem Haar ihren fähnchenschwingenden Sohn entgegenhält, den er, ganz sachte, mit dem Zeigefinger am Unterarm berührt. Bereits am Vortag hat er mit dem Schweizer Bundespräsidenten am Haus Wattenwyl auf einem Sofa zusammengesessen, und zwar noch nicht gelacht, aber doch wenigstens gelächelt: Man sieht da, wie die Anspannung nach und nach aus seinem Gesicht weicht, nachdem er noch am Vormittag auf einer Pressekonferenz in Bonn eine Kabinettsumbildung bekanntgegeben und damit fürs Erste ein von Kanzlersturzphantasien begleitetes Rumoren innerhalb der Regierung beendet hat.
Lediglich eine offizielle Fotografie aus Raron gibt es, die ihn nachdenklich zeigt. Darauf sieht man, alles grau in grau: unter dem einfarbigen Himmel die Rarner Burgkirche im Dunst. Nur einen Grauton tiefer der schneegesprenkelte Fels. Im Vordergrund, bis an den unteren Bildrand langsam in Schwarz verschwimmend, der Staatsgast im hochgeschlossenen, anthrazitfarbenen Trenchcoat und neben ihm, im ebenso dunklen, gestreiften Jackett, der Bundespräsident. Der Bundespräsident streckt den linken Arm aus, wendet den Blick nach links, als sei er im Begriff, den Ortsfremden auf ein gleichermaßen graues landschaftliches Detail hinzuweisen, während er vielleicht, Rilke zitierend, bemerkt: "Ich weiß mit Schnee nicht viel anzufangen." Der Gast aber scheint gar nicht zuzuhören, schaut in die Luft, die Ferne. Er wirkt entrückt.
Marcel Beyer ist Schriftsteller und lebt in Dresden. Im vergangenen Jahr erhielt er für sein Werk den renommierten Georg-Büchner-Preis.
Marcel Beyer, "Das blindgeweinte Jahrhundert". Suhrkamp-Verlag, 271 Seiten, 22,95 Euro Abb. Suhrkamp
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» ... ein einziges intellektuelles Abenteuer. « Gregor Dotzauer Der Tagesspiegel 20170507