Das Böse hat Hochkonjunktur: Bürgerkriege, Chaos, Gewalt und ängstigende Leere sind Phänomene unserer Zeit. Woher kommt diese Resistenz? Safranski beschreibt das Böse als eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit. Er geht dabei zu den Ursprüngen unserer Zivilisation zurück, zu den Mythen, und begleitet von dort aus die unheimliche Karriere des Bösen bis in unsere Zeit. Das Buch lädt ein zu einer aufschlußreichen Reise in die Finsternis.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Da staunte der Alte
Rüdiger Safranski belehrt über Böses / Von Andreas Platthaus
Was bedeutet es, wenn Heinrich Himmler in einer Ansprache vor Mitgliedern der SS-Einsatzgruppen erklärte, ihre Haltung gegenüber ihren Opfern sei "ein Ruhmesblatt unserer Geschichte", weil sie trotz den Leichenhaufen durchgehalten hätten und "dabei anständig geblieben" seien? Ist ein solches Lob Zynismus, eine Perversion jeglichen Verständnisses von Anstand oder gar das Böse schlechthin? Himmler nahm nicht im Geiste Nietzsches, auf den die Nationalsozialisten sich so gern beriefen, eine Umwertung der Werte vor. Er bewertete vielmehr etwas, was bisher noch keinen Wert gehabt hatte, etwas Undenkbares. Das, was früher nicht war, sollte werden, und es sollte gut sein. Himmler besetzte dieses Nichts positiv, was allen Gepflogenheiten menschlicher Tradition widerspricht; seiner Äußerung fehlt jede Bindung an einen Erfahrungshorizont. Deshalb ist er von Zynismus oder Perversion weit entfernt, man kann seine Worte nur als "böse" begreifen: Sie zelebrieren das Nichts.
Rüdiger Safranskis jüngstes Buch widmet sich dem Bösen. Natürlich kann man bei diesem Verfasser sicher sein, einen soliden Überblick über die philosophische Bedeutung des Bösen zu erhalten, und kein Autor würde sich die vielfältigen Erörterungen entgehen lassen, die die Bibel diesem Thema widmet. Doch das anschaulich Böse ist seltsam an den Rand gedrängt. Dabei muß man es gerade heute kennenlernen, wo das InterAction Council, eine Versammlung ehemaliger Regierungschefs, eine "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" entworfen hat, die nicht weniger verlangt als: "Jeder Mensch hat die Pflicht, unter allen Umständen Gutes zu fördern und Böses zu meiden." Endlich wird das dreißig Jahre alte Motto der "Welt im Spiegel" Pro bono, contra malum in einem kategorischen Imperativ umgesetzt.
Wo Helmut Schmidt und Kollegen in die Praxis streben, sucht Safranski seinen Gegenstand zwischen Buchdeckeln, nicht auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Der Marquis de Sade ist ihm der archetypische Sucher nach dem Nichts, vor dem es dem Menschen graust: als der Negierung allen Seins. Mit Joseph Conrad reisen wir ins "Herz der Finsternis", wo selbst der Gewaltherrscher nur noch das Grauen erkennen kann. Die Anschaulichkeit unterwirft sich der abstrakten Erörterung und der Sprachgewalt großer Literatur. Die Banalität des Bösen bleibt auf der Strecke, obwohl Safranski immer wieder betont, daß das Böse nichts will - sondern nur das Nichts. Nichts ist jedoch schrecklicher. Natürlich enthalten Sades und Conrads Bücher einen epistemologischen Mehrwert, doch nie können sie die Angst hervorrufen, von der Heidegger in seinem Aufsatz "Was ist Metaphysik?" sagte, daß sie aus dem Hineingehaltensein des Daseins in das Nichts entstehe.
Sowohl dieses Heideggersche Nichts als auch das reale Böse stoßen ab. Sade oder Conrad aber entwickeln einen eigentümlichen Sog, der zumindest im Falle des Marquis kongenial mit seiner Sehnsucht nach der ultimativen Vernichtung einhergeht. Warum bloß vernachlässigt ein Heidegger-Kenner zugunsten der Literatur das erhellende Plädoyer des Philosophen für die Metaphysik, obwohl Safranski sich just eine Wiederbelebung des Metaphysischen als Waffe gegen das Böse auf die Fahne geschrieben hat? "Religion", so führt er am Schluß aus, "ist die spirituelle Antwort auf die Grenzen des Machbaren, sie läßt sich verstehen als ,Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren' (Kambartel). Wenn diese Kultur schwindet, fallen die ökologischen und ökonomischen Maßhalteappelle auf wenig fruchtbaren Boden." Daß erst die toten Götter die Enthemmung des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ermöglicht haben, konnten wir schon häufig lesen. Vielleicht hat der Autor bereits in seiner Heidegger-Biographie zuviel zum "Meister aus Deutschland" gesagt, als daß er sich noch einmal dessen Erörterung zum Nichts stellen mochte. Aber Safranskis ganze Konstruktion des Bösen beruht auf der Zugehörigkeit des Nichts zum menschlichen Leben. Als Relikt der Vorschöpfung ist es selbst der göttlichen Vorsehung entzogen. Glaubt man der Genesis, war Gott recht erstaunt, als seine Abbilder anfingen, im Paradies zu plündern.
Der Sündenfall als Eintritt des Bösen in den Menschen und dann in die Welt ist Safranskis Ausgangspunkt für die eigentliche Erörterung seines Buches. Viel mehr als um "das Böse" geht es um den Untertitel, um "das Drama der Freiheit". Das Böse erscheint als Ausfluß menschlicher Freiheit, die im Garten Eden ihre Premiere hatte. Durch das göttliche Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, hatte der Mensch erstmals eine Wahl: zwischen Einhaltung des Gebots oder dessen Überschreitung. Erst Gottes Nein, das "Kompliment an die Freiheit des Menschen", vollendete den Schöpfungsakt, glaubt Safranski, und machte den Menschen wahrhaft gottähnlich. Diese gemeinsame Freiheit aber kann nur der Mensch für Böses mißbrauchen, denn Gott fehlt die Ursprungssehnsucht, die den Menschen auf das Nichts vor dem Schöpfungsakt verweist. Doch man könnte es auch umgedreht lesen: Mit dem Nein zum Baum der Erkenntnis gibt Gott die anfängliche Bejahung seines Siebentagewerks auf. Es ist nicht alles gut. Auch er hat Böses aus Freiheit entstehen lassen, und der Sündenfall hätte dann nur dafür gesorgt, daß die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gewahrt blieb. Das ursprüngliche Nichts wäre dann ohne Bedeutung.
Doch theologische Erörterungen sind Safranskis Sache nicht. Er bringt es sogar fertig, die Verurteilung von Evas Nachkommen und derjenigen der Schlange zu ewiger Feindschaft auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau zu beziehen. Deshalb übersieht er auch, daß das Böse mitnichten eine exklusive Errungenschaft des Menschen ist. Das in der Bibel dokumentierte Urteil gegen die verführerische Schlange fällt ungleich härter aus als das gegen die Menschen. Doch wo Lyall Watson vor einem halben Jahr eine Naturgeschichte des Bösen schrieb (die allerdings auch im Menschen die einzig bewußt böse Kreatur erkennen wollte), hat Rüdiger Safranski nun die Kulturgeschichte des Bösen nachgeschoben, die etwa den Egoismus der Gene lediglich in einem Absatz streift.
Aber kann man überhaupt von Bosheit sprechen, wo die Natur herrscht? Das neunzehnte Jahrhundert gelangte so nahe an eine Lösung des Theodizeeproblems, wie man nur gelangen konnte. Lessing hatte in seinem frühen Gedicht "Die lehrende Astronomie" um 1750 noch die Harmonie trotz aller erkennbaren Unterschiede feiern können: "Das Übel, schreit der Aberwitz, / Hat unter uns sein Reich gewonnen. / Wohl gut, doch ist des Guten Sitz / In ungezählten größeren Sonnen. / Der Dinge Reihen zu erfüllen, / Schuf jenes Gott mit Widerwillen." Und er fuhr fort: "So, wie den Kenner der Natur / Auch Quarz und Eisenstein vergnügen, / Nicht Gold- und Silberstufen nur / In Fächern, voller Lücken, liegen: / So hat das Übel Gott erlesen / Der Welt zur Füllung, nicht zum Wesen." Die Evolutionstheorie ließ alle Schrecken als wohldurchdachte Winkelzüge im Meisterplan der Natur erscheinen. Ein Gott, der Eisen wachsen ließ, konnte nur schwer den Krieg verurteilen. Die Indifferenz des Biologismus verwischte alle Unterscheidungen von "gut" und "böse", wie auch Safranski feststellt. Ausgerechnet aber diesem Nährboden läßt der Autor seinen Fürst der Finsternis entwachsen: Adolf Hitler.
"Böser Mann, böser Mann": Wie die Papageien rufen sich die Interpreten immer wieder in Erinnerung, wo sie ihre Maßstäbe gewinnen sollen. "Hitler ist die letzte Enthemmung der Moderne", lautet eine der Eingangsthesen des Buches. Seine Politik sei die Katastrophe der menschlichen Freiheit. Das mag zunächst beruhigend klingen, ist aber nicht so gemeint, denn wenn auch keine Steigerung mehr möglich ist, so warnt Safranski doch vor einer Wiederholung. "Da es nun einmal geschehen ist, kann es wieder geschehen", lautet sein banales Fazit. Jeder ist nun ein potentieller Hitler, während er wenige Seiten später - implizit gegen Goldhagen gerichtet - die Alleinverantwortung des "Führers" für die NS-Verbrechen verkündet. Die Leere, die seine Gefolgsleute an Hitler ausgemacht haben, verlangte nach Verbreitung. Da ist wieder das Nichts als Grund des Bösen - der Geist der Verneinung, den die Freiheit notwendig mit sich führen muß, will sie nicht alles wahllos bejahen und damit unfrei werden. Worauf aber gründet dann Safranski seine Hoffnung, daß Hitler zumindest einen unüberbietbaren Höhepunkt des Schreckens darstellt? Die Freiheit muß es doch vielmehr ermöglichen, daß man ihn noch übertreffen kann. Hitler hat mitnichten eine Schwelle überschritten, die zuvor gesperrt gewesen wäre, er hat eine Stufe mehr genommen als seine Vorgänger. Aber die Treppe führt noch weiter.
Gegen solche Versuchungen zum Aufstieg des Bösen setzt Safranski eine Weltbindung, die auf metaphysisches Vertrauen gründet. Hiob und Faust sind ihm zwei Beispiele für die Überwindung transzendentalen Zweifels. Hiob bleibt trotz aller Not seinem Gott treu, Faust huldigt trotz allen Annehmlichkeiten der Kultur am Ende der Natur. Mephistos Ärger über das "immer neue, frische Blut" der Kreaturen wird bei Goethe zum Loblied auf die Evolution, die jeden Toten ersetzt und dem Teufel keine Chance gibt. Heute kann man als moderner Mensch nicht mehr auf die Natur bauen, deren Entropiegesetze allein Chaos und Tod verheißen. Deshalb proklamiert Safranski ein metaphysisches Versprechen, eine Verheißung, um die Erfahrung der Kontingenz zu bewältigen und der Nemesis einer Zivilisation zu entgehen, die sich vom Menschen zu lösen beginne.
Hier verfällt Safranski in eine seltsame Argumentation, die ihn jedoch in beste deutsche Tradition stellt. Wie Thomas Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" spielt Safranski die Kultur gegen die Zivilisation aus. Kein Zweifel, wer gewinnen wird: Die Zivilisation steht für mangelnde Authentizität, für Oberflächlichkeit und Entfremdung. Die Kultur dagegen bezeichnet den Ort des Religiösen. Sie ist metaphysisch aufgeladen und läßt den Menschen in tiefem Vertrauen in sich ruhen, sie füllt die Leere, deren Abgrund in uns lauert und uns anzieht. Eine Zivilgesellschaft kann nie das Ziel Safranskis sein, sein Ideal ist die Glaubensgemeinschaft.
Solche Ergebnisse sind provokant, weil sie unzeitgemäß erscheinen. Anregend ist Safranski allemal. Doch wozu eine nahezu wortwörtliche Wiederholung zweier Absätze auf den Seiten 247 und 316 f.? Aber vielleicht sollte mit dieser Freud-Reprise auch nur eine seltsame Lücke in der Argumentation verdeckt werden. Denn Psychologie und Psychoanalyse spielen in Safranskis Werk kaum eine Rolle. Nur Freuds ominöser Todestrieb wird breit erörtert, obwohl sich schon Hannah Arendt gegen die Anwendung dieser Theorie auf reale Vorkommnisse verwahrt hat. Vor 25 Jahren füllte Safranskis Verlag noch fast einen ganzen Materialband zum Thema "Das Böse" mit psychoanalytischen Erörterungen.
Aber Safranski versperrt sich ohnehin der Konkretisierung seines Themas. Nicht nur daß sich kaum Beispiele für tatsächlich böses Handeln finden - der Autor weigert sich auch, das Böse auf den Begriff zu bringen. "Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann." Die Anstrengungen des Begriffs hat Safranski also erfolgreich vermieden; das von Hegel aufgezeigte Dilemma, daß die Welt mit ihren Begriffen in Konflikt kommen kann, bleibt außen vor. Das könnte eine Erklärung für die Blutarmut des Textes sein: Die Spannung zwischen dem Begriff und seinen realen Ausprägungen muß nicht am Einzelfall ausgehalten werden. Vielleicht will Safranski aber auch nur ausdrücken, daß das Böse unbegreiflich ist. Dieses Ergebnis am Ende eines ganzen Buchs zum Thema wäre dann doch etwas enttäuschend.
Rüdiger Safranski: "Das Böse". Oder das Drama der Freiheit. Carl Hanser Verlag, München 1997. 335 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rüdiger Safranski belehrt über Böses / Von Andreas Platthaus
Was bedeutet es, wenn Heinrich Himmler in einer Ansprache vor Mitgliedern der SS-Einsatzgruppen erklärte, ihre Haltung gegenüber ihren Opfern sei "ein Ruhmesblatt unserer Geschichte", weil sie trotz den Leichenhaufen durchgehalten hätten und "dabei anständig geblieben" seien? Ist ein solches Lob Zynismus, eine Perversion jeglichen Verständnisses von Anstand oder gar das Böse schlechthin? Himmler nahm nicht im Geiste Nietzsches, auf den die Nationalsozialisten sich so gern beriefen, eine Umwertung der Werte vor. Er bewertete vielmehr etwas, was bisher noch keinen Wert gehabt hatte, etwas Undenkbares. Das, was früher nicht war, sollte werden, und es sollte gut sein. Himmler besetzte dieses Nichts positiv, was allen Gepflogenheiten menschlicher Tradition widerspricht; seiner Äußerung fehlt jede Bindung an einen Erfahrungshorizont. Deshalb ist er von Zynismus oder Perversion weit entfernt, man kann seine Worte nur als "böse" begreifen: Sie zelebrieren das Nichts.
Rüdiger Safranskis jüngstes Buch widmet sich dem Bösen. Natürlich kann man bei diesem Verfasser sicher sein, einen soliden Überblick über die philosophische Bedeutung des Bösen zu erhalten, und kein Autor würde sich die vielfältigen Erörterungen entgehen lassen, die die Bibel diesem Thema widmet. Doch das anschaulich Böse ist seltsam an den Rand gedrängt. Dabei muß man es gerade heute kennenlernen, wo das InterAction Council, eine Versammlung ehemaliger Regierungschefs, eine "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" entworfen hat, die nicht weniger verlangt als: "Jeder Mensch hat die Pflicht, unter allen Umständen Gutes zu fördern und Böses zu meiden." Endlich wird das dreißig Jahre alte Motto der "Welt im Spiegel" Pro bono, contra malum in einem kategorischen Imperativ umgesetzt.
Wo Helmut Schmidt und Kollegen in die Praxis streben, sucht Safranski seinen Gegenstand zwischen Buchdeckeln, nicht auf den Schlachtfeldern oder in den Konzentrationslagern. Der Marquis de Sade ist ihm der archetypische Sucher nach dem Nichts, vor dem es dem Menschen graust: als der Negierung allen Seins. Mit Joseph Conrad reisen wir ins "Herz der Finsternis", wo selbst der Gewaltherrscher nur noch das Grauen erkennen kann. Die Anschaulichkeit unterwirft sich der abstrakten Erörterung und der Sprachgewalt großer Literatur. Die Banalität des Bösen bleibt auf der Strecke, obwohl Safranski immer wieder betont, daß das Böse nichts will - sondern nur das Nichts. Nichts ist jedoch schrecklicher. Natürlich enthalten Sades und Conrads Bücher einen epistemologischen Mehrwert, doch nie können sie die Angst hervorrufen, von der Heidegger in seinem Aufsatz "Was ist Metaphysik?" sagte, daß sie aus dem Hineingehaltensein des Daseins in das Nichts entstehe.
Sowohl dieses Heideggersche Nichts als auch das reale Böse stoßen ab. Sade oder Conrad aber entwickeln einen eigentümlichen Sog, der zumindest im Falle des Marquis kongenial mit seiner Sehnsucht nach der ultimativen Vernichtung einhergeht. Warum bloß vernachlässigt ein Heidegger-Kenner zugunsten der Literatur das erhellende Plädoyer des Philosophen für die Metaphysik, obwohl Safranski sich just eine Wiederbelebung des Metaphysischen als Waffe gegen das Böse auf die Fahne geschrieben hat? "Religion", so führt er am Schluß aus, "ist die spirituelle Antwort auf die Grenzen des Machbaren, sie läßt sich verstehen als ,Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren' (Kambartel). Wenn diese Kultur schwindet, fallen die ökologischen und ökonomischen Maßhalteappelle auf wenig fruchtbaren Boden." Daß erst die toten Götter die Enthemmung des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert ermöglicht haben, konnten wir schon häufig lesen. Vielleicht hat der Autor bereits in seiner Heidegger-Biographie zuviel zum "Meister aus Deutschland" gesagt, als daß er sich noch einmal dessen Erörterung zum Nichts stellen mochte. Aber Safranskis ganze Konstruktion des Bösen beruht auf der Zugehörigkeit des Nichts zum menschlichen Leben. Als Relikt der Vorschöpfung ist es selbst der göttlichen Vorsehung entzogen. Glaubt man der Genesis, war Gott recht erstaunt, als seine Abbilder anfingen, im Paradies zu plündern.
Der Sündenfall als Eintritt des Bösen in den Menschen und dann in die Welt ist Safranskis Ausgangspunkt für die eigentliche Erörterung seines Buches. Viel mehr als um "das Böse" geht es um den Untertitel, um "das Drama der Freiheit". Das Böse erscheint als Ausfluß menschlicher Freiheit, die im Garten Eden ihre Premiere hatte. Durch das göttliche Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, hatte der Mensch erstmals eine Wahl: zwischen Einhaltung des Gebots oder dessen Überschreitung. Erst Gottes Nein, das "Kompliment an die Freiheit des Menschen", vollendete den Schöpfungsakt, glaubt Safranski, und machte den Menschen wahrhaft gottähnlich. Diese gemeinsame Freiheit aber kann nur der Mensch für Böses mißbrauchen, denn Gott fehlt die Ursprungssehnsucht, die den Menschen auf das Nichts vor dem Schöpfungsakt verweist. Doch man könnte es auch umgedreht lesen: Mit dem Nein zum Baum der Erkenntnis gibt Gott die anfängliche Bejahung seines Siebentagewerks auf. Es ist nicht alles gut. Auch er hat Böses aus Freiheit entstehen lassen, und der Sündenfall hätte dann nur dafür gesorgt, daß die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gewahrt blieb. Das ursprüngliche Nichts wäre dann ohne Bedeutung.
Doch theologische Erörterungen sind Safranskis Sache nicht. Er bringt es sogar fertig, die Verurteilung von Evas Nachkommen und derjenigen der Schlange zu ewiger Feindschaft auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau zu beziehen. Deshalb übersieht er auch, daß das Böse mitnichten eine exklusive Errungenschaft des Menschen ist. Das in der Bibel dokumentierte Urteil gegen die verführerische Schlange fällt ungleich härter aus als das gegen die Menschen. Doch wo Lyall Watson vor einem halben Jahr eine Naturgeschichte des Bösen schrieb (die allerdings auch im Menschen die einzig bewußt böse Kreatur erkennen wollte), hat Rüdiger Safranski nun die Kulturgeschichte des Bösen nachgeschoben, die etwa den Egoismus der Gene lediglich in einem Absatz streift.
Aber kann man überhaupt von Bosheit sprechen, wo die Natur herrscht? Das neunzehnte Jahrhundert gelangte so nahe an eine Lösung des Theodizeeproblems, wie man nur gelangen konnte. Lessing hatte in seinem frühen Gedicht "Die lehrende Astronomie" um 1750 noch die Harmonie trotz aller erkennbaren Unterschiede feiern können: "Das Übel, schreit der Aberwitz, / Hat unter uns sein Reich gewonnen. / Wohl gut, doch ist des Guten Sitz / In ungezählten größeren Sonnen. / Der Dinge Reihen zu erfüllen, / Schuf jenes Gott mit Widerwillen." Und er fuhr fort: "So, wie den Kenner der Natur / Auch Quarz und Eisenstein vergnügen, / Nicht Gold- und Silberstufen nur / In Fächern, voller Lücken, liegen: / So hat das Übel Gott erlesen / Der Welt zur Füllung, nicht zum Wesen." Die Evolutionstheorie ließ alle Schrecken als wohldurchdachte Winkelzüge im Meisterplan der Natur erscheinen. Ein Gott, der Eisen wachsen ließ, konnte nur schwer den Krieg verurteilen. Die Indifferenz des Biologismus verwischte alle Unterscheidungen von "gut" und "böse", wie auch Safranski feststellt. Ausgerechnet aber diesem Nährboden läßt der Autor seinen Fürst der Finsternis entwachsen: Adolf Hitler.
"Böser Mann, böser Mann": Wie die Papageien rufen sich die Interpreten immer wieder in Erinnerung, wo sie ihre Maßstäbe gewinnen sollen. "Hitler ist die letzte Enthemmung der Moderne", lautet eine der Eingangsthesen des Buches. Seine Politik sei die Katastrophe der menschlichen Freiheit. Das mag zunächst beruhigend klingen, ist aber nicht so gemeint, denn wenn auch keine Steigerung mehr möglich ist, so warnt Safranski doch vor einer Wiederholung. "Da es nun einmal geschehen ist, kann es wieder geschehen", lautet sein banales Fazit. Jeder ist nun ein potentieller Hitler, während er wenige Seiten später - implizit gegen Goldhagen gerichtet - die Alleinverantwortung des "Führers" für die NS-Verbrechen verkündet. Die Leere, die seine Gefolgsleute an Hitler ausgemacht haben, verlangte nach Verbreitung. Da ist wieder das Nichts als Grund des Bösen - der Geist der Verneinung, den die Freiheit notwendig mit sich führen muß, will sie nicht alles wahllos bejahen und damit unfrei werden. Worauf aber gründet dann Safranski seine Hoffnung, daß Hitler zumindest einen unüberbietbaren Höhepunkt des Schreckens darstellt? Die Freiheit muß es doch vielmehr ermöglichen, daß man ihn noch übertreffen kann. Hitler hat mitnichten eine Schwelle überschritten, die zuvor gesperrt gewesen wäre, er hat eine Stufe mehr genommen als seine Vorgänger. Aber die Treppe führt noch weiter.
Gegen solche Versuchungen zum Aufstieg des Bösen setzt Safranski eine Weltbindung, die auf metaphysisches Vertrauen gründet. Hiob und Faust sind ihm zwei Beispiele für die Überwindung transzendentalen Zweifels. Hiob bleibt trotz aller Not seinem Gott treu, Faust huldigt trotz allen Annehmlichkeiten der Kultur am Ende der Natur. Mephistos Ärger über das "immer neue, frische Blut" der Kreaturen wird bei Goethe zum Loblied auf die Evolution, die jeden Toten ersetzt und dem Teufel keine Chance gibt. Heute kann man als moderner Mensch nicht mehr auf die Natur bauen, deren Entropiegesetze allein Chaos und Tod verheißen. Deshalb proklamiert Safranski ein metaphysisches Versprechen, eine Verheißung, um die Erfahrung der Kontingenz zu bewältigen und der Nemesis einer Zivilisation zu entgehen, die sich vom Menschen zu lösen beginne.
Hier verfällt Safranski in eine seltsame Argumentation, die ihn jedoch in beste deutsche Tradition stellt. Wie Thomas Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" spielt Safranski die Kultur gegen die Zivilisation aus. Kein Zweifel, wer gewinnen wird: Die Zivilisation steht für mangelnde Authentizität, für Oberflächlichkeit und Entfremdung. Die Kultur dagegen bezeichnet den Ort des Religiösen. Sie ist metaphysisch aufgeladen und läßt den Menschen in tiefem Vertrauen in sich ruhen, sie füllt die Leere, deren Abgrund in uns lauert und uns anzieht. Eine Zivilgesellschaft kann nie das Ziel Safranskis sein, sein Ideal ist die Glaubensgemeinschaft.
Solche Ergebnisse sind provokant, weil sie unzeitgemäß erscheinen. Anregend ist Safranski allemal. Doch wozu eine nahezu wortwörtliche Wiederholung zweier Absätze auf den Seiten 247 und 316 f.? Aber vielleicht sollte mit dieser Freud-Reprise auch nur eine seltsame Lücke in der Argumentation verdeckt werden. Denn Psychologie und Psychoanalyse spielen in Safranskis Werk kaum eine Rolle. Nur Freuds ominöser Todestrieb wird breit erörtert, obwohl sich schon Hannah Arendt gegen die Anwendung dieser Theorie auf reale Vorkommnisse verwahrt hat. Vor 25 Jahren füllte Safranskis Verlag noch fast einen ganzen Materialband zum Thema "Das Böse" mit psychoanalytischen Erörterungen.
Aber Safranski versperrt sich ohnehin der Konkretisierung seines Themas. Nicht nur daß sich kaum Beispiele für tatsächlich böses Handeln finden - der Autor weigert sich auch, das Böse auf den Begriff zu bringen. "Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann." Die Anstrengungen des Begriffs hat Safranski also erfolgreich vermieden; das von Hegel aufgezeigte Dilemma, daß die Welt mit ihren Begriffen in Konflikt kommen kann, bleibt außen vor. Das könnte eine Erklärung für die Blutarmut des Textes sein: Die Spannung zwischen dem Begriff und seinen realen Ausprägungen muß nicht am Einzelfall ausgehalten werden. Vielleicht will Safranski aber auch nur ausdrücken, daß das Böse unbegreiflich ist. Dieses Ergebnis am Ende eines ganzen Buchs zum Thema wäre dann doch etwas enttäuschend.
Rüdiger Safranski: "Das Böse". Oder das Drama der Freiheit. Carl Hanser Verlag, München 1997. 335 S., geb., 45,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main