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Ruhm der Goldenen Zwanziger: Emmy Hennings wollte die Bedingungen für eine neue Welt herbeischreiben
Der Ruhm des Schriftstellers entsteht selten nur aus dem Zuspruch der Leser, sondern gründet in vielfältigen Bedingungen des Kulturbetriebs, in Rezensionen, dem öffentlichen Auftreten, dem Engagement des Verlages, in Urteilen der Kollegen. Emmy Hennings (1885 bis 1948) galt anfangs der zwanziger Jahre neben Else Lasker-Schüler als "größte Dichterin in deutschem Wort und Gefühl". Besonders ihr tagebuchartiger Text "Das Brandmal" (1920) erregte großes Aufsehen in der Literaturkritik und auch bei Schriftstellern, darunter Oskar Loerke, Robert Müller und Rainer Maria Rilke. Hermann Hesse schrieb 1922: "Emmy Hennings ist in Deutschland nahezu ,berühmt', und wenn sie halb so bedeutend und erfolgreich in der Schuhbranche oder im Bankfach wäre wie in der Literatur, so wäre sie Millionärin." Der 1922 erschienene Folgetext "Das ewige Lied" fand jedoch kaum noch Beachtung, wie überhaupt die Autorin relativ schnell in Vergessenheit geriet.
Schon vor dem Erscheinen von "Das Brandmal" hatte sich Emmy Hennings in der Berliner, Münchner und Zürcher Boheme den Ruf eines gefallenen Engels, einer heiligen Hure erworben. Für Hugo Ball, ihren späteren Ehemann, war sie "der wichtigste Mensch, den wir alle kennen". Auch sie selbst litt nicht an mangelndem Selbstbewusstsein. 1918 schrieb sie an Ball: "die Lasker, die Studer, die Kolb, die Dohm, alle haben sie nicht das, was ich zu vergeben habe . . . ich schreibe schon die Bedingungen für eine neue Welt." In der Entstehungsphase bezeichnete sie den Text als "Halbweltbuch", in dem es "die anmutige Verbindung der Religion mit der Erotik" geben sollte.
Dagny, die Ich-Erzählerin von "Das Brandmal", schildert in dem Buch ihre Erlebnisse als Freudenmädchen, Schmierenkomödiantin und Hausiererin. Sie ist zweifellos ein Alter Ego der Autorin, eindeutige autobiographische Bezüge lassen sich aber aufgrund der extremen Innensicht nicht herstellen. "Auch ist es nicht wichtig, zu wissen, woher ich gekommen bin. Was hat die geographische Lage meiner Herkunft, mein Geburtsort, mit meiner Heimatlosigkeit zu tun?" Die sichtbare Welt wird je überlagert von Erinnerung und Reflexion, ist je nur Anlass der Selbstbefragungen eines heimatlosen Subjekts, das alles in Zweifel zieht und so verzweifelt wie vergeblich nach Seelenruhe und Besonnenheit sucht.
Dazu kommt es aber nicht. Immer neu reflektiert sich das Ich in einer Situation der unhintergehbaren Fremdheit und Verworfenheit. "Jeder Anlaß war mir ein Abgrund, ich bin nicht erst heute gefallen. Erst heute merke ich, daß ich immer gefallen bin." Auch die Gotteskindschaft, in der sich Dagny reflektiert, birgt keine Rettung. Die Anrede eines personalen Gottes bestimmt auch den Stil des Textes, der immer wieder ins Gebet übergeht, das für alle Geschändeten sprechen will. "Du siehst die geschminkte Not. Du kennst das übertünchte Elend. Gib uns von dem Übermaß deiner Liebe, auf daß wir lieben können." Der Text ist durchsetzt mit Anspielungen auf Dostojewskijs "Schuld und Sühne", die mystische Literatur, die Legenden der Märtyrer und die Passionsgeschichte, die immer wieder in drastische Bilder für den Schmerz der Existenz münden. "Und niemand weiß, daß ich blutperlend in Gethsemane vergehe."
Die Orte, die die Literatur der "Neuen Sachlichkeit" im objektiven Gestus der Reportage aufsuchte, Straße, Kneipe, Nachtclub und Varieté, werden in der Innensicht Dagnys zu Chiffren der Verblendung und eines grundsätzlich falschen Lebens. Unter dem Ton der Verzweiflung aber erscheint in der gebetsmühlenhaften Wiederholung ein barockes und theatralisches Ergötzen am Anblick der sinnentleerten Welt, das dem heutigen Leser nach anfänglicher Berührung durch die raffinierte Schlichtheit der Schreibweise im Laufe der Lektüre nicht selten auf die Nerven geht.
In der sehr schön gestalteten Edition der Texte mit Stellenkommentar, einer Dokumentation der zeitgenössischen Rezeption, Nachwort und Literaturverzeichnis findet der Leser alle erdenkliche Hilfe zum Verständnis des Textes im historischen Kontext. Die liebens- und lobenswerte Bemühung der Herausgeberinnen wird allerdings die Zwiespältigkeit des Lektüreerlebnisses nicht beseitigen können. Die zeitgenössische Begeisterung für Emmy Hennings wird sich bei allem Respekt wohl kaum noch einmal einstellen, zu flüchtig ist literarischer Ruhm.
FRIEDMAR APEL
Emmy Hennings: "Das Brandmal" / "Das ewige Lied".
Hrsg. und kommentiert von Nicola Behrmann und
Christa Baumberger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 508 S., geb., 24,90 [Euro].
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