Das Buch aller Bücher ist der zehnte Teil eines monumentalen »work in progress«, dessen erster Teil, Der Untergang von Kasch, 1983 (deutsch 1997) erschienen ist. Es geht um die Bibel, hauptsächlich das Alte Testament. Nicht christlich, nicht jüdisch, nicht fachtheologisch, sondern um »die Bibel nach Calasso«.
Weder kritisch zerpflückend noch theoretisch vereinnahmend, sondern nüchtern und unter Kenntnisnahme der Forschung widmet sich Calassos Großessay in einer strukturierten Nacherzählung ausgewählten Teilen und Strängen der biblischen Geschichte – unter besonderer Berücksichtigung von Themen, denen der Autor von Anfang an auf der Spur gewesen ist. Vor allem dem des Opfers, dem er hier bis hin zu Jesu Tod nachgeht.
Es ist eine späte Einbeziehung der Tora, der »Kinder Israels«, Jahwes, des Monotheismus in Calassos Kosmos. Entsprechend nachdrücklich würdigt der Autor – Advokat des Polytheismus, der Welt der Mythen, des irreduzibel Vielgestaltigen – die Rolle, welche die Götter, Götzen, Idole Ägyptens und der Nachbarstämme immer wieder und über lange Zeit für das Volk Israel gespielt haben. Gerade diese Einfügung in die verwirrend vielfältig changierende Kultur- und Religionsgeschichte des Nahen Ostens erlaubt ihm, das Besondere und Einmalige Jahwes und der Geschichte Jahwes mit Israel zu identifizieren und, ausgreifend bis hin zu Freuds Der Mann Moses und Kafka, hervorzuheben.
Weder kritisch zerpflückend noch theoretisch vereinnahmend, sondern nüchtern und unter Kenntnisnahme der Forschung widmet sich Calassos Großessay in einer strukturierten Nacherzählung ausgewählten Teilen und Strängen der biblischen Geschichte – unter besonderer Berücksichtigung von Themen, denen der Autor von Anfang an auf der Spur gewesen ist. Vor allem dem des Opfers, dem er hier bis hin zu Jesu Tod nachgeht.
Es ist eine späte Einbeziehung der Tora, der »Kinder Israels«, Jahwes, des Monotheismus in Calassos Kosmos. Entsprechend nachdrücklich würdigt der Autor – Advokat des Polytheismus, der Welt der Mythen, des irreduzibel Vielgestaltigen – die Rolle, welche die Götter, Götzen, Idole Ägyptens und der Nachbarstämme immer wieder und über lange Zeit für das Volk Israel gespielt haben. Gerade diese Einfügung in die verwirrend vielfältig changierende Kultur- und Religionsgeschichte des Nahen Ostens erlaubt ihm, das Besondere und Einmalige Jahwes und der Geschichte Jahwes mit Israel zu identifizieren und, ausgreifend bis hin zu Freuds Der Mann Moses und Kafka, hervorzuheben.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent und Theologieprofessor Jörg Frey wird überrascht von Roberto Calassos Buch über die Bibel, bei dem es sich laut Frey um eine "Nacherzählung, Neuinszenierung und psychologisierende Imagination" der biblischen Stoffe handelt. So nehme der Autor eine Art Neuanordnung biblischer Texte und Zitate vor, die er um "Deutungen" aus der jüdischen Literatur und Zitate von Goethe oder Kafka, aber auch um Überlegungen zur Kultur Ägyptens oder zur Bibelwissenschaft ergänze. An deren Verfahren kritisiere er dabei, dass die Texte zum Teil bis zur Unkenntlichkeit "zerschnitten" würden, und stellt dem eigens verfasste Ausformulierungen des Lebens etwa von Saul oder David entgegen, die die "mythischen" Texte in "ungeschönt realistisch Miniaturen" verwandeln, wie der Kritiker erklärt. Um Christliches gehe es dabei kaum, umso mehr um jüdische Identität. Eine sowohl für Kenner als auch für Laien spannende Annäherung an die Bibel, die zugleich verschiedene "kulturphilosophische Reflexionen" anbietet, staunt Frey.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2023In die Untiefen
Roberto Calasso erzählt Biblisches
"Das Buch aller Bücher" ist das jüngste ins Deutsche übersetzte Werk des 2021 verstorbenen italienischen Essayisten und Publizisten Roberto Calasso, der sich nicht nur als Autor zahlreicher kulturphilosophischer Werke einen Namen gemacht hat, sondern auch als Verleger des Adelphi-Verlags. Nach Büchern über indische und griechische Mythologie, über Talleyrand, Tiepolo und Kafka, wendet sich der Autor nun der Bibel zu, dem Alten Testament, das in einer Nacherzählung vor den Augen der Leserschaft neu ersteht.
Calasso hat die Bibel genau gelesen und setzt ihre Geschichte aus unzähligen, im Anhang exakt nachgewiesenen Zitaten neu zusammen. Die Nacherzählung verschweigt nichts, verworrene Beziehungen, Lug und Trug, Gräuel und Massaker prägen diese Welt. Eingefügt sind Deutungen aus der jüdischen Literatur, aus Josephus, Midrasch und Maimonides, aber auch Zitate von Goethe, Freud und Kafka, Seitenblicke auf die Kultur Ägyptens und Mesopotamiens und Nadelstiche gegen die Wissenschaft der Bibelgelehrten.
Aus ihr zitiert Calasso meist ältere Werke, die Religionsgeschichte Gressmanns, von Rads Theologie und die jüdischen Kommentare von Umberto Cassuto. Er sieht, wo die Bibelwissenschaft in ihrem historischen Bemühen die Erzählungen zerschnitten und Texte wie das Hohelied zur Unkenntlichkeit entschärft hat. Er bleibt beim überlieferten, redaktionellen Text, dessen Tiefen und Untiefen er gekonnt ausleuchtet, erzählt als Geschichte, was die Redaktoren zusammengefügt und als sinnvoll angesehen haben.
So werden in feinsinnigen, aber ungeschönt realistischen Miniaturen die Lebensbilder von Saul und David gezeichnet, von Salomo und Abraham, Jakob und Mose, ganz gleich wie "mythisch" die Texte auch sind. All diese Gestalten stehen unter dem Eindruck der Intervention des Gottes Jahwe, der so anders ist als die Götter der anderen Völker, der grundlos erwählt, aber dafür die Erstgeburt fordert, der dafür sorgt, dass sein Volk schuldig wird, und ihm exakte Anordnungen für Opfer gibt.
Künstlerisch ist dieses Bild eindrücklich: in seiner drastischen Schilderung der stetigen Kriege und Kämpfe Davids, in der psychologischen Durchleuchtung des ungleichen Kampfes zwischen dem Führer der fremdstämmigen Arbeiter, Mose, und dem Gottkönig Pharao, im Einstieg über die neunhundertvierundsiebzig Generationen vor Erschaffung der Welt geschriebene Thora.
Durchgehendes Thema und Problem ist die Auserwähltheit, die Israel radikal von anderen trennt und immer wieder zu solcher Trennung zwingt - ein Status, den die menschliche Natur nicht erträgt, der Zweifel und dauernde Kämpfe nach sich zieht. Doch bleibt Calasso nicht bei der Bibel. Auf das Kapitel zu Mose folgt ein langes über Freud und seine Auseinandersetzung mit Mose und mit seiner jüdischen Identität: "Die Unmöglichkeit, religiös zu sein, ging einher mit der Unmöglichkeit, auf sein Auserwähltsein zu verzichten, das in längst vergangenen Zeiten von einem Gott beschlossen worden war, an den man nicht glaubte."
So ist Calassos Buch nicht nur eine Nacherzählung, Neuinszenierung und psychologisierende Imagination der biblischen Texte, sondern auch eine kulturphilosophische Reflexion über die Schwierigkeit, ein erwähltes Volk zu sein, über jüdische Identität, Mythos und Moderne und über die Herausforderung durch einen Gott, der immer "anders" sein will.
Auch wer die Bibel gut zu kennen meint, wird von den Perspektiven dieses Buches überrascht werden. Wer von ihr das Schlimmste erwartet, mag sich darin bestätigt sehen, aber doch auch der Faszination erliegen, die Calassos weitgespannte Reimagination auslöst. Christliches begegnet allenfalls am Rande, selbst das Schlusskapitel über den Messias endet mit einer Erzählung von Rabbi Nachman von Bratzlaw. So wird auch am Ende nichts aufgelöst. Der Kosmos der Bilder, Deutungen und Bezüge bleibt offen. Trotz der Dichte an Details ist das Buch gut zu lesen, wenn es auch keine leichte Kost ist und durchgehend an Menschlich-Allzumenschliches rührt, das unter uns wie in fernen Welten begegnet. JÖRG FREY
Roberto Calasso: "Das Buch aller Bücher".
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 600 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roberto Calasso erzählt Biblisches
"Das Buch aller Bücher" ist das jüngste ins Deutsche übersetzte Werk des 2021 verstorbenen italienischen Essayisten und Publizisten Roberto Calasso, der sich nicht nur als Autor zahlreicher kulturphilosophischer Werke einen Namen gemacht hat, sondern auch als Verleger des Adelphi-Verlags. Nach Büchern über indische und griechische Mythologie, über Talleyrand, Tiepolo und Kafka, wendet sich der Autor nun der Bibel zu, dem Alten Testament, das in einer Nacherzählung vor den Augen der Leserschaft neu ersteht.
Calasso hat die Bibel genau gelesen und setzt ihre Geschichte aus unzähligen, im Anhang exakt nachgewiesenen Zitaten neu zusammen. Die Nacherzählung verschweigt nichts, verworrene Beziehungen, Lug und Trug, Gräuel und Massaker prägen diese Welt. Eingefügt sind Deutungen aus der jüdischen Literatur, aus Josephus, Midrasch und Maimonides, aber auch Zitate von Goethe, Freud und Kafka, Seitenblicke auf die Kultur Ägyptens und Mesopotamiens und Nadelstiche gegen die Wissenschaft der Bibelgelehrten.
Aus ihr zitiert Calasso meist ältere Werke, die Religionsgeschichte Gressmanns, von Rads Theologie und die jüdischen Kommentare von Umberto Cassuto. Er sieht, wo die Bibelwissenschaft in ihrem historischen Bemühen die Erzählungen zerschnitten und Texte wie das Hohelied zur Unkenntlichkeit entschärft hat. Er bleibt beim überlieferten, redaktionellen Text, dessen Tiefen und Untiefen er gekonnt ausleuchtet, erzählt als Geschichte, was die Redaktoren zusammengefügt und als sinnvoll angesehen haben.
So werden in feinsinnigen, aber ungeschönt realistischen Miniaturen die Lebensbilder von Saul und David gezeichnet, von Salomo und Abraham, Jakob und Mose, ganz gleich wie "mythisch" die Texte auch sind. All diese Gestalten stehen unter dem Eindruck der Intervention des Gottes Jahwe, der so anders ist als die Götter der anderen Völker, der grundlos erwählt, aber dafür die Erstgeburt fordert, der dafür sorgt, dass sein Volk schuldig wird, und ihm exakte Anordnungen für Opfer gibt.
Künstlerisch ist dieses Bild eindrücklich: in seiner drastischen Schilderung der stetigen Kriege und Kämpfe Davids, in der psychologischen Durchleuchtung des ungleichen Kampfes zwischen dem Führer der fremdstämmigen Arbeiter, Mose, und dem Gottkönig Pharao, im Einstieg über die neunhundertvierundsiebzig Generationen vor Erschaffung der Welt geschriebene Thora.
Durchgehendes Thema und Problem ist die Auserwähltheit, die Israel radikal von anderen trennt und immer wieder zu solcher Trennung zwingt - ein Status, den die menschliche Natur nicht erträgt, der Zweifel und dauernde Kämpfe nach sich zieht. Doch bleibt Calasso nicht bei der Bibel. Auf das Kapitel zu Mose folgt ein langes über Freud und seine Auseinandersetzung mit Mose und mit seiner jüdischen Identität: "Die Unmöglichkeit, religiös zu sein, ging einher mit der Unmöglichkeit, auf sein Auserwähltsein zu verzichten, das in längst vergangenen Zeiten von einem Gott beschlossen worden war, an den man nicht glaubte."
So ist Calassos Buch nicht nur eine Nacherzählung, Neuinszenierung und psychologisierende Imagination der biblischen Texte, sondern auch eine kulturphilosophische Reflexion über die Schwierigkeit, ein erwähltes Volk zu sein, über jüdische Identität, Mythos und Moderne und über die Herausforderung durch einen Gott, der immer "anders" sein will.
Auch wer die Bibel gut zu kennen meint, wird von den Perspektiven dieses Buches überrascht werden. Wer von ihr das Schlimmste erwartet, mag sich darin bestätigt sehen, aber doch auch der Faszination erliegen, die Calassos weitgespannte Reimagination auslöst. Christliches begegnet allenfalls am Rande, selbst das Schlusskapitel über den Messias endet mit einer Erzählung von Rabbi Nachman von Bratzlaw. So wird auch am Ende nichts aufgelöst. Der Kosmos der Bilder, Deutungen und Bezüge bleibt offen. Trotz der Dichte an Details ist das Buch gut zu lesen, wenn es auch keine leichte Kost ist und durchgehend an Menschlich-Allzumenschliches rührt, das unter uns wie in fernen Welten begegnet. JÖRG FREY
Roberto Calasso: "Das Buch aller Bücher".
Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 600 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»So ist Calassos Buch nicht nur eine Nacherzählung, Neuinszenierung und psychologisierende Imagination der biblischen Texte, sondern auch eine kulturphilosophische Reflexion über die Schwierigkeit, ein erwähltes Volk zu sein, über jüdische identität, Mythos und Moderne und über die Herausforderung durch einen Gott, der immer 'anders' sein will.« Jörg Frey Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230114