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Stefano Massini findet, dass es für viele Lebenslagen noch längst nicht die richtige Bezeichnung gibt. Also erfindet er welche und trifft damit den Kern. Haben Sie zum Beispiel schon vom "Birismus" gehört?
Von Ursula Scheer
Zu den vornehmsten Aufgaben eines Schriftstellers (oder einer Schriftstellerin) gehört es, in Worte zu fassen - und auf diese Weise für Gefühl und Verstand überhaupt erst begreiflich zu machen -, was sonst bloß ein sprachlich ungelichteter, undurchdringlicher Nebel aus Emotionen vermischt mit äußeren Ereignissen bliebe. Nicht umsonst lautet der göttliche Auftrag zur menschlichen Mitschöpfung schon im biblischen Buch Genesis, die Dinge doch bitte bei einem kreativ zu findenden Namen zu nennen. Und nicht umsonst hat das nie enden wollende Worte-schaffen-Wirklichkeit-Sprachspiel die Literatur bis zur Postmoderne und darüber hinaus immer wieder beflügelt.
Der Italiener Stefano Massini kann aus dieser reichen Tradition schöpfen, tut es aber mitnichten semiologisch abgehoben oder dogmatisch, sondern ganz lebenspraktisch und nah am Spektakel des Daseins. Sein "Buch der fehlenden Wörter" ist ein Lexikon der Begriffe, die wir uns noch nicht gemacht haben vom Streben, Scheitern und Gelingen. Auf die Bühne seiner Kurzprosa lässt der Autor und Theaterregisseur aus Florenz bekannte und weniger bekannte historische Persönlichkeiten treten, die in einundzwanzig Erzählungen von A bis Z die Tragik von Ambitionen ausbuchstabieren, um auf diese Weise für jede der geschilderten Unternehmungen das passende Wort zu finden.
Da wäre zum Beispiel der "Birismus". Diese schöne Wortfindung Massinis "bezeichnet den Gemütszustand von Menschen, die das Leben, das sie sich verdienen und wünschen, in greifbarer Nähe vor sich sehen. Trotzdem wird dieses Leben immer wie ein Schiff sein, das nicht in den Hafen einlaufen kann." Klingt abstrakt und ein wenig deprimierend, wird aber konkret und melancholisch-besinnlich in der poetisch komprimierten Geschichte der Brüder László und György Biró. Ginge es auf der Welt mit rechten Dingen zu, hätten die beiden ungarischen Juden Reichtum und Ruhm erringen müssen. Doch so ist es nicht, so war es vor allem nicht, als die Nationalsozialisten Europa verwüsteten. Zwischen dem Augenblick, in dem László die Spur einer im Kinderspiel durch eine Pfütze rollenden Murmel auf dem Boden sieht, hernach mit György den Kugelschreiber erfindet, und dem Augenblick, in dem die beiden auf der Flucht mit dem Schiff nach Argentinien das verheißene Land am Horizont erblicken, spannt sich schon die ganze Tragödie zweier Männer aus, denen der Schritt ins Land des Welterfolgs mit ihrem Patent nicht gelang. Dem Kugelschreiber zum Durchbruch verhalf erst Marcel Bich, der László Biró das Patent für ein Schreibgerät ohne Tintenkleckserei abkaufte und mit seinen Bic-Kulis den Globus überschwemmte. Ein klarer Fall von "Bicherei" - dem Sieg eines Pragmatikers über einen genialen Menschen, der unfähig ist, sein Talent zu verwerten.
Massini beweist in seinem von Magda Wel kongenial illustrierten Band eine ausgesprochene Schwäche für Beinahe-Heroen, Fast-Superstars, Um-ein-Haar-Bezwinger. Zwischen Himmel und Erde, Aufstieg und Absturz bewegt sich schon sein erster Held im Alphabet, der "Annonayiker" Charlie Bud Cowart. Dieser Marinesoldat sollte 1932 mit Kameraden die USS Akron, den Giganten unter den Luftschiffen des amerikanischen Militärs und das größte seiner Zeit, nach der Landung mit Seilen am Boden halten. Doch unbemerkt von den Umstehenden riss es ihn empor. Abgehängt und angehängt zugleich, baumelte er in der Schwebe, als personifizierter innerer Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Befreiung und dessen Negierung.
Hoch hinaus strebte auch die Bergsteigerin Henriette d'Angeville. 1838 bezwang sie den Mont Blanc in "femininer Gewandung". Für die vollbrachte Tat wurde sie ebenso gescholten wie neunzig Jahre später die Radsportlerin Alfonsina Morini für ihre Teilnahme - zunächst als Mann getarnt - am Giro d'Italia. "Henriettesk" oder "alfonsinalisch" findet Massini es folglich, wenn in einem ungleichen Wettstreit zwischen Männern und Frauen der Sieg der Frauen für nichtig erklärt wird.
Einzuwenden wäre hier, dass wohl als ein klarer Fall von Massinismus zu bezeichnen ist, dass die herbeizitierten Fakten im "Buch der fehlenden Wörter" schon so ausgewählt sind, dass sie zur Moral der jeweiligen Geschichte passen. Alfonsina Morini, der "Teufelin im Rock", mag von Veranstaltern der Radrennen mit machistischem Snobismus begegnet worden sein. Das Publikum liebte sie. Aber Stefano Massini betreibt hier ja auch kein biographisches Schreiben, sondern Literatur.
Und in ebenjene verwandelt er die Schicksale von Menschen wie Michael Faraday oder William Randolph Hearst, Massaker in Russland und Schlachten am Rande Österreichs, revolutionär mutige Gesten wie die von Rosa Parks und wahnwitzige Abenteuer wie die Antarktisexpedition. Anleihen nimmt Massini bei der klassischen Mythologie und beim Biblischen, jede seiner Miniaturen stilisiert er kunstvoll zum emblematischen Fall.
Für passionierte Leser ist das eine Einladung, eine Revue der Wortwerdungen an sich vorbeiziehen zu lassen; für alle von der Smartphone-Fragmentierung der Aufmerksamkeit beschädigten Gehirne ist es eine Gelegenheit, auf jeweils wenigen Seiten sich neu dafür begeistern zu können, wie aus Worten erzählte Welten und wieder Worte werden. Im letzten Kapitel seines Wörterbuchs geht es Massini um die großen und die kleinen Dinge und um die Manipulation ihrer Wahrnehmung mit optischen Gerätschaften. Ein treffender Abschluss. Denn das gekonnte Spiel mit Nähe, Distanz und collagierten Perspektiven macht den besonderen Reiz von Massinis Sammlung aus.
Stefano Massini: "Das Buch der fehlenden Wörter".
Mit Illustrationen von Magda Wel. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Hanser Verlag, München 2020. 256 S., Abb., geb., 26,- [Euro].
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