Der diskrete Charme der Bourgeoisie
„Wenn man alles verloren hat, dann kann man gefahrlos alles riskieren.“ (S. 177) – dieses Zitat passt perfekt zu Fritzis Neuanfang in Berlin 1925.
Sie stammt aus der schwäbischen Provinz, ihr Verlobter hat sie verlassen und ihr Vater ist vor kurzem
verstorben. Fritzi ist nichts geblieben außer ihrer Reiseschreibmaschine, einer fundierten Ausbildung als…mehrDer diskrete Charme der Bourgeoisie
„Wenn man alles verloren hat, dann kann man gefahrlos alles riskieren.“ (S. 177) – dieses Zitat passt perfekt zu Fritzis Neuanfang in Berlin 1925.
Sie stammt aus der schwäbischen Provinz, ihr Verlobter hat sie verlassen und ihr Vater ist vor kurzem verstorben. Fritzi ist nichts geblieben außer ihrer Reiseschreibmaschine, einer fundierten Ausbildung als Tippfräulein und dem Traum, Drehbücher zu schreiben. Ihren Unterhalt allerdings will sie sich mit dem Schreiben der Memoiren des Grafen Hans von Keller verdienen. Doch der kann sie kaum bezahlen und hat aus seinen Anwesen eine Künstlerkolonie gemacht, aber er ist auch sehr süß.
Fritzi landet in einem wahren Sündenpfuhl – nach Ansicht ihrer schwäbischen Verwandtschaft. In Kellers heruntergekommener Villa leben Dichter, Maler, Sänger, Musiker – verkrachte Existenzen eben. Und sie alle wohnen kostenlos hier, denn kaum einer verdient bei der Erfüllung seines Traumes genügend Geld, nicht mal der Graf, der Zeitungskolumnen schreiben muss, um zu überleben.
Berlin beeindruckt Fritzi – es ist groß, modern, schnelllebig. Eine Stadt der Emporkömmlinge und Selbstdarsteller, denn hinter den Kulissen ist kaum jemand so, wie er scheint.
Inge, Ihre Vorgängerin beim Grafen, wirkt auf sie geradezu mondän. Sie arbeitet als Vorführfräulein im KaDeWe, immer en Mode. Insgeheim jedoch hofft sie auf den großen Durchbruch beim Film, eine Hauptrolle.
Man trifft sich abends im Café unter den Linden, um zu feiern und sich aushalten zu lassen, trinkt Champagner, raucht und tanzt Charleston. Und man lauscht dem Jazz-Sänger Jonny Gable (das ist natürlich nur ein Künstlername). Gable wohnt auch im Haus des Grafen. Er ist wunderschön, aber eiskalt, man sagt ihm Affären mit diversen Frauen und Männern nach. Doch dann scheint er sich ausgerechnet in die Landpflanze Fritzi zu vergucken. Die muss sich bald entscheiden, was und wen sie wirklich will. „Mit der Liebe ist es wie mit der Kunst, wenn man es halbherzig macht, dann sollte man es besser lassen.“ (S. 162)
Die Bewohner der Keller’chen Villa sind skurril und liebenswert. Sei es das schwule Pärchen Rosa und Wlad, der barfüßiger Maler oder die fette Bildhauerin, welche die Leute mit dem Nudelholz aus der Küche jagt. Und über allem liegt der diskrete Charme der Bourgeoisie. Ein persönliches Drama jagt das nächste, auf der Terrasse werden nächtliche Partys gefeiert – man lebt schließlich nur einmal.
Ich habe Joan Wengs Buch an nur einem Sonntagnachmittag verschlungen und mich nach den goldenen 20ern in Berlin gesehnt. Ich habe mit Fritzi gelebt, geliebt, geweint und gelacht. Das Buch ist unglaublich farbenfroh, sinnlich und abwechslungsreich. Es zeigt Berlin in seiner Blütezeit und das damalige Lebensgefühl sehr anschaulich und der verwendete damalige Slang macht es extrem lebendig.