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Gelobt sei das Schisma: Heinz Schilling schreibt weiter an seiner großen Erzählung von der modernisierenden Kraft der neuzeitlichen Kirchen.
Was wäre, wenn Martin Luther Papst geworden wäre? Im Jahr 1976 beantwortete Kingsley Amis diese Frage in seinem phantastischen Roman "The Alteration". Darin entwirft Amis das Panorama eines fiktiven Europas im zwanzigsten Jahrhundert, das den Zerfall des Christentums in Katholizismus und Protestantismus vermieden hat. Die Reformation führte nicht zur Kirchenspaltung, sondern beförderte vielmehr Luther selbst als Papst Germanian I. auf den Stuhl Petri. Diese imaginierte "Änderung" des Geschichtsverlaufs hat bei Amis drastische Folgen. Die Moderne ist ausgeblieben. Im England der Jetztzeit singen noch immer Kastraten, es gibt keine Elektrizität, und die technologische Entwicklung ist auch sonst kaum vorangekommen, "Wissenschaft" ist ein Schimpfwort, und die Größen der abendländischen Kultur stehen unter der Knute der Kirche. Ohne Reformation ist die alternative Gegenwart dunkel, klerikal und theokratisch.
Der Weg von Amis' Roman zum neuen Buch des emeritierten Historikers Heinz Schilling ist kürzer, als er scheinen mag. Auch Schillings große Erzählung kreist um den Zusammenhang zwischen Reformation und europäischer Gegenwart. Ein zentrales Charakteristikum des Christentums, das Schilling schon in der Spätantike und im Mittelalter ausfindig macht, besteht in seiner bipolaren inneren Struktur. Transzendenz und Immanenz, Glaube und Welt, Kirche und Staat - das Christentum legitimiert und bedient jeweils beide Pole. Mit Papst und Kaiser hatte die westliche Christenheit deshalb lange eine Doppelspitze. Sooft beide Führungspositionen auch miteinander konkurrierten, noch häufiger gingen sie enge Allianzen ein. Das betraf insbesondere die Bekämpfung von Abweichlergruppen, von denen zunächst angesichts koordinierter geistlich-weltlicher Machtausübung keine längerfristig überleben konnte.
Doch die erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Häretikerbekämpfung zwischen Kirche und weltlicher Macht bröckelte im frühen sechzehnten Jahrhundert. Die weltlichen Herrscher entdeckten allmählich, dass die Förderung von Glaubensabweichlern gegen den Papst unter Umständen gewinnbringender war als deren gemeinsame Bekämpfung. Viele Reformatoren fanden deshalb nach 1517 die Unterstützung ihrer Obrigkeiten, die die Reformation geschickt nutzten, um ihre entstehenden Staatsapparate zu stärken. Die traditionsreiche Allianz von geistlichen und weltlichen Mächten wurde wiederbelebt, ja sie wurde intensiver als je zuvor, nun freilich unter dem Zeichen einer gespaltenen Christenheit.
Das stärkte nicht nur die Macht der Staaten; es entstanden nun erst die modernen christlichen Großkirchen, die sich in ständigem Austausch mit der werdenden Staatsmacht zu institutionalisierten, homogenen und hierarchischen Massenorganisationen entwickelten. Ein tiefgreifender Wandel im Verständnis von Kirche, Glauben und religiösem Leben war die Folge. Zwei ideologisch gegensätzliche, strukturell jedoch ganz ähnlich organisierte Lager entstanden und beäugten sich mit äußerster Feindschaft.
Es war diese staatlich verfestigte Kirchenspaltung, nicht jedoch die Reformation Luthers per se, die in Schillings Augen zur treibenden historischen Kraft wurde und die Moderne mit all ihren Ambivalenzen heraufführte. Neben einem vorbildlosen Willen zur Disziplinierung großer Menschengruppen steht der ungeheure künstlerische Ausdruckswillen, den das konfessionelle Zeitalter entfachte. Damals entstanden neuartige innerliche Formen des Glaubenslebens ebenso wie jener unerbittliche Wahrheitsanspruch der Kirchen, der mehr als einmal zu brutalem Fundamentalismus führte. Obwohl die Kirchen streng über die Gelehrten und ihre Ideen wachten, trieb ihre Rivalität sie doch zugleich zu Höchstleistungen an. Nicht trotz, sondern in und wegen der Kirchenspaltung wurde Europa modern. Daraus zieht Schilling sympathische Lehren für die Gegenwart. Die "Freude am religiös-spirituellen wie kulturellen Reichtum der europäischen Christenheit" sollte den ökumenischen Alltag des 21. Jahrhunderts anleiten.
Seit den frühen Achtzigerjahren haben diese Thesen Schillings zur "Konfessionalisierung" Europas die Forschung angeregt und zugleich heftige Diskussionen ausgelöst. Ein Einwand lautet, hier würden großflächige Erklärungsansätze die Vielfalt historischer Erfahrungen nivellieren. Andere Kritiker meinen, dass sich wesentliche Teile des modernen, demokratischen Selbstverständnisses Europas gerade nicht auf den Loyalitätsabsolutismus der Konfessionskirchen zurückführen lassen. Die konfessionelle Spaltung mag Europa den Umgang mit Pluralität zunächst aufgenötigt haben, doch akzeptiert wurde sie von den konfessionalisierten Kirchen gerade nicht. Toleranzideen entsprangen alternativen Argumentationsreservoirs. Sofern sie religiös motiviert waren, entstammten sie häufig dem humanistischen oder mystischen Christentum; häufig wurde Duldung jedoch auch einfach pragmatisch legitimiert oder juristisch begründet. Die Durchsetzung religiöser Vielfalt war so schwierig, weil sie eine zutiefst antikonfessionalistische Idee war. Hier erreicht die These des neuzeitlichen Konfessionalismus als modernisierende Kraft ihre Grenze.
Schillings Buch integriert zahlreiche seiner früheren Publikationen. Es spiegelt die eindrucksvolle Fülle seiner Forschungen wider. Zugleich gibt es Fehlstellen. Frömmigkeit dient meist nur der Illustration sozialhistorischer Trends; statt um menschliches Innenleben geht es vorrangig um strukturelle Prozesse. Die Aufklärung findet nur auf wenigen Seiten des Epilogs statt. Vor allem fehlen zentrale Themen wie Mission, Kolonien, Religionsbegegnungen. Das ist mehr als nur eine sachliche Lücke, denn mit diesen heute besonders drängenden Themen verbindet sich die Frage, welche Rolle die Konfessionen eigentlich bei der Globalisierung des Christentums hatten. Wie konfessionalisiert waren die neuen, indigen geprägten Christentümer des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Kongo, in Äthiopien, in Japan oder am Amazonas? Die neuartigen religiösen Erfahrungen in diesen Missionen wirkten schnell und ganz direkt auf die pastorale Praxis in Europa zurück. Europa selbst, seine schwer zugänglichen Binnenregionen, die Berggegenden oder einsamen Inseln etwa, wurde im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert zum Missionsgebiet erklärt.
Während Schilling sehr anschaulich die urbane Dimension des neuzeitlichen Christentums betont, könnte man genauso gut auch die Neuentdeckung der ländlichen Räume als ein Signum des modernen, missionarischen Christentums bezeichnen. So regt Heinz Schillings geradlinige Erzählung von der modernisierenden Kraft der neuzeitlichen Kirchen durch ihren eindrucksvollen Reichtum an Wissen und pointierten Thesen nachdrücklich dazu an, auch zukünftig über die Rolle des Christentums in der Geschichte Europas nachzudenken. MARKUS FRIEDRICH
Heinz Schilling: "Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa". Aufbruch in die Welt von heute.
Herder Verlag, Freiburg 2022. 480 S., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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