In seiner ebenso umfassenden wie beklemmenden Analyse sieht der renommierte Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht mit dem sich abzeichnenden Massenexitus, dem größten Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier, eine weltweite biologische Tragödie auf uns zukommen. Der Mensch ist heute so zum größten Raubtier und zum entscheidenden Evolutionsfaktor mutiert, der die Existenz aller Lebewesen - auch seine eigene - gefährdet.
Ob das Ende der Evolution, das spätestens ab Mitte des 21. Jahrhunderts ein realistisches Szenario zu werden droht, noch aufzuhalten sein wird, darüber wird allein unser Tun in den unmittelbar vor uns liegenden Jahrzehnten entscheiden.
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Was ist die größte ökologische Krise der Gegenwart? Beim Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht tritt das Artensterben gegen den Klimawandel an.
Es gibt eine Position in der Debatte um die heutigen ökologischen Krisen, die an der Rede von einer Apokalypse ansetzt, um sie ins Lächerliche zu ziehen. Was wollt ihr Apokalyptiker denn, heißt es dann, die Zahl der Hungernden ist unter eine Milliarde gesunken, noch nie haben die Menschen so lange gelebt, nie hatten wir mehr Luxus, Fortschritt und soziale Kontakte, nie waren die Perspektiven für ein gesundes Leben noch jenseits der hundert Jahre besser als heute. Wer so argumentiert, ist für Matthias Glaubrecht in einer fatalen evolutionären Schleife gefangen, im Dopaminrausch seiner ersten und zweiten Natur.
Glaubrecht ist Evolutionsbiologe, Professor für die Biodiversität der Tiere. Die erste Natur des Menschen, hält er fest, ist seine biologische Ausstattung. Sie hat den Menschen in einer Ausbeutermentalität fixiert, mit ihr ist der Weg in die Apokalypse quasi genetisch programmiert, seit Jahrmillionen. Dank seiner zweiten, der kulturellen Natur versucht sich der Mensch seit ein paar hunderttausend Jahren und gerüstet mit zunehmenden kognitiven Kapazitäten Lösungen für das Problem auszudenken, als biologisches Mängelwesen in so gut wie jeder irdischen Umwelt zu überleben. Sie gibt ihm einen entscheidenden Kick, vernebelt ihm aber auch den Geist, weil sie dafür sorgt, dass er seine Interessen rücksichtslos weiterverfolgt - und solcherart blind wird für die Apokalypse. Erst die dritte Natur, die "Vernunftnatur", bietet für Glaubrecht die Aussicht auf eine tatsächliche Lösung. Diese dritte Natur, der sich bei Glaubrecht auch Moral und Religiosität verdanken, ist gewissermaßen die erworbene und kumulative Natur der guten Vorsätze. Sie macht den Menschen zwar nicht unbedingt glücklicher, aber sie könnte ihm theoretisch das Überleben sichern. Wenn nicht gelten würde: Gute Vorsätze scheitern fast immer.
Das ist die Quintessenz eines apokalyptischen Räsonierens, welches den biologischen und anthropologischen Voraussetzungen der Umweltkrise auf den Grund zu gehen versucht. Die größte drohende Katastrophe, das ist für Glaubrecht nicht der menschengemachte Klimawandel, es ist vielmehr das globale Artensterben auf dem Planeten: die größte Auslöschung der Tier- und Pflanzenarten seit dem Ende der Dinosaurier, welche sich vor aller Augen abspielt und doch mehr oder minder übersehen wird.
Seit Jahrzehnten ist der in Hamburg am Centrum für Naturkunde der Universität tätige Zoologe einer der produktivsten und didaktisch geschicktesten Köpfe, wenn es um die Popularisierung der Biodiversitätskrise geht. Aber ihm ist der entscheidende Durchbruch so wenig gelungen wie der internationalen Umweltpolitik. Das Artensterben und damit die genetische Verwüstung des Planeten beschleunigt sich weiter. Wir schaffen es nicht, die Dimension der ökologischen Verwahrlosung unserer kosmischen Heimat zu erfassen - und endlich das Ruder herumzureißen. Und weil sich daran seit Jahrzehnten nichts ändert, hat Glaubrecht nun zu einem Mittel gegriffen, das kaum zur Nachahmung zu empfehlen ist: Er hat die geballte Empirie seines evolutionsbiologischen Wissens, sämtliche Evidenzen des Ökozids und seine über die Jahre gewachsenen Überzeugungen als weltreisender Naturforscher und -schützer zu einem über tausend Seiten dicken Buch verarbeitet. So als gelte es, Massenignoranz mit Papiermasse zu bekämpfen. Es ist ein Buch von fast symbolischer Schwere. Wäre es handlicher, es müsste von der Gewichtigkeit seines Themas und der Tiefe der Argumente kaum einbüßen. Es wäre bloß gewiss leichter an Leser zu bringen. So muss man die Seitenzahl wohl als sinnfälligen Protest gegen die politische Ignoranz gegenüber der Artenapokalypse verstehen.
Horst Stern im XXL-Format also? Sicher nicht, denn diese Informationslawine ist nicht die Verzweiflungstat eines gescheiterten Ökoaufklärers. Über weite Teile des Buchs lehnt sich Glaubrecht vielmehr an große Naturbewunderer an, von Alexander von Humboldt über Darwin und Wallace bis zu den Anthropologen der Neuzeit, die es verstanden, von ihrer Faszination angesichts des biologischen Reichtums auf unserem Planeten mitreißend zu berichten. Für die Natur zu interessieren, ihren Reichtum zu beschreiben und den Menschen als alles beherrschende Spezies, das Ziel verfolgt auch Glaubrecht. Doch sein beherrschendes Thema ist eben das Artensterben.
Zwei Drittel der Insektenbiomasse auf der Welt sind wohl mittlerweile verloren, ebenso achtzig Prozent der heimischen Vögel seit der Epoche Darwins: Das sind nur zwei der vielen Indikatoren des Artensterbens, dem Glaubrecht sowohl historisch als auch perspektivisch auf den Grund geht. Der Fokus wandert dabei stets von den ausgelöschten Arten zurück zum Menschen, der letzten Endes auch Opfer dieser Auslöschung ist. Glaubrecht kritisiert vor allem die Unfähigkeit, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Man darf hier keine neuen Argumente erwarten. Die frühe Klage der Ökobewegten im Kreis um Paul und Anne Ehrlich über die "Bevölkerungsexplosion" kehrt hier ebenso wieder wie die Kritik der siebziger Jahre an Ressourcenverbrauch, Umweltverschmutzung und Regenwaldabholzung. Glaubrecht selbst bringt das alles wieder in Erinnerung, und er wiederholt sich dabei gerne. Auch zieht er immer wieder die historische Karte, indem er auf Anthropologen wie Jared Diamond verweist, die akribisch den Existenzkrisen großer Zivilisationen von Angkor Wat bis Ägypten, der Osterinsel bis zu den Mayas nachspürten.
Man erkennt bei der Lektüre des Buchs sehr leicht die geradezu selbstzerstörerische Linie, von der auch unsere heutigen, von Wohlstandsmehrung geprägten Gesellschaften nicht abzuweichen bereit sind. Das heißt allerdings nicht, dass man Glaubrechts große These teilen müsste, dass der Klimawandel das Artensterben zu überblenden droht und Politik und Gesellschaft falschen Prioritäten folgen, indem sie die Lösung der Energiefrage an oberste Stelle setzen. Denn Artenschwund und Klimawandel sind ganz offensichtlich innigst, also auch kausal miteinander verschränkt, was Glaubrechts Schilderungen der frühen Zivilisationskrisen des Homo sapiens ebenso wie viele von ihm angeführte aktuelle Beispiele auch deutlich machen.
Nicht immer geht Glaubrecht mit diesen umweltpolitischen Verstrickungen offen um. So wie er auch manche Widersprüche in Kauf nimmt, die wissenschaftlich interessierte Leser - und sie werden die Mehrzahl seiner Leser stellen - irritieren dürfte: Wenn er etwa gleich zu Anfang sein Heureka-Erlebnis schildert, als Nasa-Astronauten die ersten Bilder von der Erde im All machten und auf diese Weise der Weltöffentlichkeit einen verletzlichen Planeten vor Augen führten, um dann nach seinen eigenen Visionen von der möglichen Weltrettung oder eben des Untergangs zum Rundumschlag gegen die "Milliardengräber" der gerade noch für ihren Akt der Bewusstseinsbildung gelobten Raumfahrt ausholt. Hoffnungsträger Weltraum? Auch diesen Zahn will Glaubrecht seinen Lesern ziehen. Doch mit seiner Attacke verkennt er wohl, wie viel Inspiration und Nachdenklichkeit der menschliche Geist auch aus solchen wissenschaftlichen Abenteuern ziehen kann.
JOACHIM MÜLLER-JUNG
Matthias Glaubrecht: "Das Ende der Evolution". Der Mensch und die Vernichtung der Arten.
C. Bertelsmann Verlag,
München 2019. 1072 S., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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