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Nichts Genaues schreibt sie nicht: Lydia Davis
Eigentlich fasst sich Lydia Davis gern kurz. Manche ihrer Storys hat sie in nur einen Satz gepresst. Hätte es das Medium vor dreißig Jahren schon gegeben, als die Autorin Prosa zu publizieren begann, wären einige ihrer Kurz- und Kürzestgeschichten ideales Futter für Twitter. Seit sie im Jahr 1976 mit "The Thirteenth Woman and Other Stories" debütierte, hat Davis insgesamt sechs Bände mit mehreren hundert Short Stories veröffentlicht, die man jetzt praktischerweise in einem Band bestaunen kann: Mit "The Collected Stories of Lydia Davis" hat ihr Verlag Farrar, Straus & Giroux eine Bestandsaufnahme ihrer Kurzprosa auf 752 Seiten vorgelegt.
Den ersten Hinweis auf die amerikanische Autorin im deutschen Sprachraum hatte mal wieder Norbert Wehrs "Schreibheft" gegeben, das in seiner sechzigsten Ausgabe im April 2003 erste Arbeiten und die Autorin im Gespräch vorstellte. Vor einem Jahr unternahm der Literaturverlag Droschl mit dem Geschichtenband "Fast keine Erinnerung" einen weiteren Versuch, eine Autorin vorzustellen, die in ihrer Heimat von illustren Namen umgeben ist: Mit Paul Auster war sie Mitte der siebziger Jahre verheiratet, die Franzosen Maurice Blanchot, Michel Butor, Gustave Flaubert, Michel Leiris und Marcel Proust stehen auf der Liste der Bücher, die sie ins Englische übersetzt hat, und in der Schlange der Bewunderer haben sich Jonathan Franzen, Dave Eggers und Rick Moody ganz nach vorn gedrängelt. Man tut ihr sicher kein Unrecht, wenn man Davis als Writer's writer bezeichnet, als eine Autorin, die bevorzugt von ihresgleichen gelesen wird, wofür auch der mit einer halben Million Dollar dotierte "Genie-Preis" der MacArthur Foundation ein Indiz ist, der ihr 2003 zugesprochen wurde.
Entgegen ihrer Gewohnheit hat sich Lydia Davis einmal doch an der längeren Form versucht und das Ergebnis "The End of the Story" genannt. Wenn wir dieses Buch jetzt, vierzehn Jahre nach seiner Veröffentlichung, auf Deutsch lesen können, ist da ein schöner Zufall am Werk. "Das Ende der Geschichte" ist wieder im Literaturverlag Droschl erschienen, der seinen Sitz in Graz hat. Hier hat die Autorin einen Teil ihrer Schulzeit verbracht, und hier lebt auch der Schriftsteller Klaus Hoffer, der den Roman übersetzt hat.
Aber ist "Das Ende der Geschichte" überhaupt ein Roman, wie es so selbstverständlich auf dem Umschlag steht? Eher handelt es sich um das wortreiche Protokoll der Schwierigkeiten beim Verfassen eines Romans, dessen Gegenstand das Scheitern einer hoffnungsvoll aufgeblühten und kalt erstorbenen Liebesgeschichte ist. Die namenlose Ich-Erzählerin arbeitet als Universitätsdozentin und Übersetzerin, ist 35 Jahre alt und trauert einem ebenfalls namenlosen Mann nach, der zwölf Jahre jünger ist und ihr zum Abschied Gedichte auf Französisch schreibt. Viel Geld haben beide nicht. Eines Tages hatte er genug von ihr, zog um, traf eine andere Frau, mit der er eine Tochter bekam. Auch die Erzählerin zog um, fand einen anderen Mann und lebt nun, zur Zeit der Niederschrift, mit Vincent und dessen verwirrtem Vater zusammen.
Viel mehr als in dieser gerafften Zusammenfassung erfahren wir über die Personen in dem ganzen Buch übrigens nicht, denn es behandelt fast ausschließlich die Gefühle der Erzählerin und dokumentiert ihren Versuch, sie nachträglich in Worte zu fassen - was gar nicht so einfach ist: "Es wäre leichter gewesen, am Anfang anzufangen, aber der Anfang gab nicht viel her ohne das, was danach kam, und was danach kam, gab nicht viel her ohne das Ende." Solche Überlegungen sind erst der Auftakt.
Man muss sich als Leser auf einige Windungen einstellen: "Ich habe versucht, eine brauchbare Ordnung zu finden, aber meine Gedanken sind nicht geordnet - einer unterbricht den anderen oder widerspricht dem anderen, außerdem sind meine Erinnerungen oft nicht zutreffend, sie sind konfus, verkürzt, oder aber sie implodieren."
So verschwenderisch die Erzählerin ihre Befindlichkeit untersucht - längst nicht nur die seelische Seite, sondern ebenso umfassend die körperlichen Folgen ihres Leidens -, so knauserig ist sie bei der Benennung von Orten, obwohl sie über vier prall gefüllte Zettelkästen verfügt. Da ist geheimnisvoll die Rede von "der kleinen Stadt", in der sie wohnt, oder von "der Stadt weiter oben im Norden", in die sie auf der Suche nach dem entschwundenen Geliebten fährt, und ihrem Umzug im Auto "quer durch den Kontinent". Vielleicht ist es gar nicht im Sinne der Autorin, wenn der Verlag im Klappentext verrät, dass es sich bei den geschilderten Landschaften um "die Pazifikküste um San Diego und San Francisco" handelt und um "das Hudson Valley an der Ostküste".
Auch chronologisches Erzählen ist nicht Davis' Sache. Ob aus Überzeugung oder Nachlässigkeit - das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Erzählerin es in ihren Aufzeichnungen eigentlich schon gern ein wenig geordneter hätte, da sie selbst einräumt: "Meine Arbeitsweise den Roman betreffend ist ineffizient, und diese Ineffizienz überträgt sich auf anderes, das ich in Angriff nehme." Mal verlegt sie einen Artikel aus einem Magazin, den sie einbauen wollte, ein andermal kann sie Lücken in ihren Aufzeichnungen nicht deuten. Noch negativer auf die Ökonomie ihres Projekts wirkt sich der Umstand aus, dass ihr Erinnerungsvermögen nicht besonders ausgeprägt und der Blick in den Rückspiegel häufig getrübt ist, wie wir aus der Titelgeschichte des Bandes "Almost No Memory" wissen. "Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir sprachen" heißt es einmal; an anderer Stelle ist ihr die damalige Situation noch weniger präsent: "Ich weiß nicht, ob wir auf der nackten Erde oder auf dem Asphalt gingen, wo wir vorbeikamen oder wie er neben mir herging, ob ungelenk oder beschwingt, rasch oder langsam, dicht neben mir oder ein paar Schritte von mir entfernt."
Anstelle des Gedanken-Kondensats, das man in Davis' Kurzgeschichten bewundern kann, trifft man in diesem Buch oft auf undurchdringlichen Nebel. Daneben gibt es weitere, vom Übersetzer gestreute Stolpersteine wie die nicht wenigen Austriazismen ("herinnen" statt drinnen, Bäume werden "umgeschnitten" statt gefällt, es heißt "weiters" statt außerdem) und eine selbst bei lockerer Auslegung aller Rechtschreibreformen unübliche Variante der Getrenntschreibung bei zusammengesetzten Verben. Auch nimmt es der Übersetzer mit der Kausalität nicht sehr genau, wie folgender Satz zeigt: "Wahrscheinlich hatte er bei der Telefongesellschaft Schulden, weil ich damals gelegentlich von einer Angestellten der Gesellschaft angerufen wurde, die immer überraschend höflich und verständnisvoll fragte, wie sie ihn erreichen könne."
Gegen Ende der sehr privaten und geradezu manischen Reflexion ihrer schriftstellerischen Arbeit stellt Davis' Erzählerin die Vermutung an, dass ein klärendes Gespräch mit ihrem Ex-Geliebten ihr möglicherweise "eine Menge Ärger" erspart hätte. "Dieser Roman hätte vielleicht nicht geschrieben werden müssen." Na ja, sagen wir mal so: Wenn jemand mit großem Appetit eine Bäckerei betritt und nach einem Brot verlangt und der Bäcker ihn auffordert, ihm zunächst bei der Auswahl der Zutaten und bei deren Anmischung zuzusehen - dann hat man ein treffendes Bild für das Gefühl nach der Lektüre von "Das Ende der Geschichte". Es bleibt der Hunger nach einer echten Geschichte.
REINHARD HELLING
Lydia Davis: "Das Ende der Geschichte". Roman. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2009. 256 S., geb., 21,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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