Unter dem Druck anhaltender Massenproteste und einer massiven Ausreisewelle entmachteten Politbüro und Zentralkomitee der SED am 17. und 18. Oktober 1989 Generalsekretär Erich Honecker. Doch statt einer erhofften Stabilisierung der Macht unter Thronfolger Egon Krenz begann der rapide Zerfall der Partei. Im ZK spielten sich dramatische Auseinandersetzungen und zunehmend tumultartige Szenen ab, die in der Auflösung der alten SED im Dezember 1989 endeten. Die hier vorgelegten Texte geben den Verlauf der 9. bis 12. Tagung des ZK authentisch wieder. Erstmals seit Öffnung der DDR-Archive werden Diskussionen und Entscheidungen aus dem innersten Zirkel der Macht auf der Basis von Original-Tonbandmitschnitten ungekürzt und im vollen Wortlaut dokumentiert. Sie verdeutlichen die Handlungsunfähigkeit der erstarrten SED-Führung angesichts der akuten Krise im Land.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.1997"Genossen, mich ekelt das an"
Die letzten Tagungen des SED-Zentralkomitees im Herbst 1989
Hans-Hermann Hertle, Gerd-Rüdiger Stephan (Herausgeber): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees. Mit einem Vorwort von Peter Steinbach. Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 500 Seiten, 58,- Mark.
Ein knappes halbes Jahrhundert lang hat die SED über Land und Leute geherrscht, unter dem Schutz sowjetischer Panzer ihren Sozialismus und ihren Staat aufgebaut, ihn gegen äußere, vor allem aber gegen innere Feinde verteidigt - 1989 aber stürzte der SED-Staat binnen weniger Monate wie ein Kartenhaus zusammen. Die Herren des Morgengrauens konnten nur noch fassungslos zusehen, wie ihnen die Macht aus den Händen glitt. Ihre letzten Beratungen, die Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan dokumentiert und kommentiert haben, waren kabarettreif, nur spielten sie sich hinter verschlossenen Türen ab.
Die Macht in der DDR lag in den Händen des SED-Politbüros, das mit Hilfe seines Parteiapparates Staat, Wirtschaft und Gesellschaft steuerte und kontrollierte. Offiziell wurde das Politbüro vom Zentralkomitee gewählt, dem laut Statut höchsten Parteiorgan zwischen den Parteitagen, in Wirklichkeit jedoch legte das Politbüro die Beschlüsse und die Wahlergebnisse des Zentralkomitees vorher fest. Die im ZK versammelte Partei-Elite durfte über Jahrzehnte hinweg vorher genehmigte "Diskussionsbeiträge" leisten, andächtig den Reden der Oberen lauschen und anschließend deren Wahrheiten im Lande verkünden. Das änderte sich erst mit der Tagung vom 18. Oktober 1989.
Die Protokolle der letzten ZK-Tagungen im Spätherbst 1989 vermitteln, soweit die Schrift das vermag, ein authentisches Bild dieser Sitzungen, da sie auf Tonbandmitschnitten beruhen. Zu DDR-Zeiten gab das Büro des Generalsekretärs nur ein sogenanntes "rotes Protokoll" heraus, das nicht mit der stenographischen Niederschrift übereinstimmen mußte.
Die neunte Tagung des Zentralkomitees begann am 18. Oktober um 13.55 Uhr mit einem Paukenschlag. Der langjährige Generalsekretär Erich Honecker bat die versammelten Genossinnen und Genossen, ihn "von der Funktion des Generalsekretärs des Zentralkomitees, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik zu entbinden". Er schlug Egon Krenz, "der fähig und entschlossen ist, der Verantwortung und dem Ausmaß der Arbeit so zu entsprechen, wie es die Lage erfordert", als seinen Nachfolger vor. Das Zentralkomitee billigte dieses Anliegen einstimmig und verabschiedete den Kämpfer "für Sozialismus und Frieden" mit "stürmischem Beifall". Tatsächlich handelte es sich nicht um einen freiwilligen Rücktritt, sondern um einen Sturz, den Krenz mit Zustimmung Gorbatschows eingefädelt hatte.
Der neue Möchtegerndiktator hielt anschließend eine mit altbekannten Floskeln durchsetzte Rede, in der er seiner Gefolgschaft versicherte, daß "der Sozialismus auf deutschem Boden nicht zur Disposition steht" und "unsere Macht die Macht der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes ist unter Führung unserer Partei". In der sich anschließenden, für die meisten Mitglieder ungewohnten, weil zaghaft offenen Diskussion war es der "Hoffnungsträger" Hans Modrow, der für den Beginn eines Dialogs mit friedlichen Demonstranten warb, gleichzeitig aber auch Entschlossenheit bekundete, den Sozialismus auch gewaltsam zu verteidigen.
Lief diese Sitzung noch weitgehend nach überkommenem Muster ab, bescherte der erste Tag der zehnten ZK-Tagung dem frischgebackenen Generalsekretär eine neue Erfahrung. Eine Mehrheit der ZK-Mitglieder ließ einige von ihm vorgeschlagene Kandidaten bei der Wahl zum neuen Politbüro durchfallen. Dagegen rückte Hans Modrow, der gleichzeitig als neuer Ministerpräsident nominiert wurde, in das oberste Machtzentrum nach.
Während sich das Zentralkomitee noch mit den Regeln freier Wahlen vertraut machte, verkündeten die für die Wirtschaft verantwortlichen SED-Funktionäre bittere Wahrheiten, die Krenz in den Worten zusammenfaßte: "Das Prinzip, das nur verbraucht werden kann, was vorher erwirtschaftet worden ist, wurde sträflichst verletzt, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik inkonsequent durchgesetzt. Den Leistungsrückständen der Produktion standen steigende Sozial- und Subventionsausgaben gegenüber. Der Ausgleich sollte durch Aufnahme ständig steigender Kredite erreicht werden. Dafür haben wir heute teuer zu bezahlen. Mit der ungenügenden Durchsetzung des Leistungsprinzips entstanden unsoziale Nebenwirkungen wie Schattenwirtschaft, Schmiergelder und Abhängigkeiten durch Beziehungen."
Den Genossen, die immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt hatten, erklärte danach Modrow, nur eine "Ökonomisierung der ganzen Wirtschaft" und die Anerkennung der Leistung "als ein Bewertungsprinzip der sozialistischen Gesellschaft" könnten den DDR-Sozialismus retten. Andere Führungskräfte wie etwa Innenminister Friedrich Dickel sorgten sich dagegen eher um die schwindende Autorität der Staatsorgane, die "mit Fußtritten, Fausthieben, Steinen, Eisenstangen und Reizsprays angegriffen" würden. Den Führungsgenossen dämmerte allmählich, daß ihre Autorität auf tönernen Füßen stand. Zum Dialog mit dem aufmüpfigen Volk fühlten sich nur wenige wie Günter Schabowski oder Hans Modrow berufen. Sensible Gemüter wie etwa der Erste Sekretär der Bezirksleitung in Potsdam, Günther Jahn, verspürten dagegen keine Neigung, sich weiterhin öffentlich beschimpfen zu lassen. Er wolle "lieber ein feiger Hund als ein dummes Schwein" sein, erklärte er und erntete vom Plenum, wie die Tonaufzeichnung aufweist, "zustimmende Zurufe".
Das Schicksal der DDR besiegelte das Zentralkomitee eher beiläufig, indem es dem von Egon Krenz vorgeschlagenen Reisegesetz zustimmte, ohne auch nur zu ahnen, daß einige Stunden später aufgrund eines Mißverständnisses bei der Verkündung dieses Gesetzes durch Günter Schabowski die Mauer in der Nacht vom 9. November 1989 fallen würde.
Die ZK-Riege, die sich am 10. November ab 9.05 Uhr zu ihrem dritten Beratungstag versammelte, ignorierte die in der Nacht eingetretene Entwicklung. Man klammerte sich an die Geschäftsordnung, als ob nichts geschehen wäre. Erst im Verlauf der Sitzung sprach Egon Krenz von dem "Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war und seit heute nacht auf unsere Grenzen gerichtet ist". Dieser Druck, so Krenz weiter, "war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben". Anstatt sich mit der neu entstandenen Lage zu beschäftigen, delegierte das Zentralkomitee die Angelegenheit in eine Kommission, "die diese Frage untersucht und der nächsten Tagung des Zentralkomitees . . . eine Antwort gibt."
Im weiteren Verlauf der Debatte überboten sich die Redner mit Vorschlägen zur Rettung des Sozialismus, aber auch mit persönlichen Entschuldigungen. Schließlich einigte man sich auf ein "Aktionsprogramm", in dem das Zentralkomitee feststellte, "daß ernste Fehler des abgelösten Politbüros Partei und Republik in eine tiefe Krise geführt haben". Als Sündenbock mußte der langjährige oberste Wirtschaftslenker Günter Mittag herhalten, der "wegen gröblichster Verstöße gegen die innerparteiliche Demokratie, gegen die Partei-und Staatsdisziplin sowie die Schädigung des Ansehens der Partei" aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen wurde. In der nachfolgenden erregten Diskussion um Verantwortung und Schuld erklärte der langjährige Generalintendant der städtischen Theater Leipzig, Karl Kayser, aus Altersgründen seinen Rücktritt mit den Worten: "Genossen, mich ekelt das alles an", was Egon Krenz mit den Worten: "Mich auch, ja" kommentierte.
Ob die nicht im Zentralkomitee vertretenen Aktivisten aus der Kaderreserve der Partei, die auf die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages drängten, ähnliche Gefühle hegten, ist nicht überliefert. Auf der schon drei Tage später stattfindenden elften ZK-Tagung demontierten sie jedoch die neue alte Parteiführung, die schließlich dem Druck nachgab, einen Parteitag und nicht, wie zuvor beschlossen, die weniger wichtige Parteikonferenz einzuberufen. Und sie erzwangen den "freiwilligen" Rücktritt der alten Garde, die neben Honecker über Jahrzehnte die Geschicke der DDR bestimmt hatte.
Doch der Gruppe um Krenz half alles Lavieren nicht. Die "kritische" Parteibasis, die inzwischen in den Bezirken und Kreisen die alten Funktionäre abgewählt hatte, wollte Modrow inthronisieren, der das Zentrum der Macht von der Partei auf den Staat verlagern wollte. Wenn es Modrow in den wenigen Monaten seiner Regierungszeit auch nicht gelang, die DDR zu retten, konnte er auf diese Weise seiner Partei und manchem ihrer verdienten Kämpfer zu einem guten Start in die postsozialistische Ära verhelfen. Das inzwischen durch Rücktritte und Ausschlüsse arg geschrumpfte Zentralkomitee durfte auf seiner letzten Tagung am 3. Dezember 1989 noch seinen Rücktritt erklären, ehe eine neue Gruppe um Modrow und Gysi die Macht in der Partei übernahm und sie in PDS umbenannte.
Bevor Egon Krenz mit den Worten "Genossinnen und Genossen! Die Tagung ist beendet" scheinbar auch das Ende der SED besiegelte, zeigte er noch einmal, daß er nichts, aber auch gar nichts gelernt hatte. In gewohnter Manier bat er die Delegierten, die Manipulation der Kommunalwahl vom Mai 1989, die zu ersten größeren Protesten geführt hatte, nicht zu thematisieren, denn "es gab aber keine andere Möglichkeit, ein anderes Wahlergebnis bekanntzugeben, weil es so entsprechend den Protokollen, die auch in den Kreisen existierten, zusammengestellt worden ist". Sollte dieses Thema neu aufgerollt werden, befürchtete er, "dann räumen wir nicht nur Positionen, die wir noch besitzen, dann können wir ganz nach Hause gehen. Ich bitte, das nicht zu Protokoll zu nehmen." Bei soviel entwaffnender Verlogenheit und angesichts der offenbar werdenden Politik der alten Parteiführung sah das langjährige ZK-Mitglied Bernhard Quandt nur die Möglichkeit, die Todesstrafe wieder einzuführen: man solle die "Verbrecherbande des alten Politbüros", die "unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben", einfach "standrechtlich erschießen".
Lebendiger als viele Kommentare und Analysen legen diese Protokolle offen, woran die DDR zugrunde ging. Das Buch sei jedem empfohlen, der sich für die Geschichte der deutschen Teilung interessiert - auch wenn er sich über die These vom Ende der SED und das überflüssige und bisweilen widersinnige Vorwort ärgern mag. KLAUS SCHROEDER
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Die letzten Tagungen des SED-Zentralkomitees im Herbst 1989
Hans-Hermann Hertle, Gerd-Rüdiger Stephan (Herausgeber): Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees. Mit einem Vorwort von Peter Steinbach. Ch. Links Verlag, Berlin 1997. 500 Seiten, 58,- Mark.
Ein knappes halbes Jahrhundert lang hat die SED über Land und Leute geherrscht, unter dem Schutz sowjetischer Panzer ihren Sozialismus und ihren Staat aufgebaut, ihn gegen äußere, vor allem aber gegen innere Feinde verteidigt - 1989 aber stürzte der SED-Staat binnen weniger Monate wie ein Kartenhaus zusammen. Die Herren des Morgengrauens konnten nur noch fassungslos zusehen, wie ihnen die Macht aus den Händen glitt. Ihre letzten Beratungen, die Hans-Hermann Hertle und Gerd-Rüdiger Stephan dokumentiert und kommentiert haben, waren kabarettreif, nur spielten sie sich hinter verschlossenen Türen ab.
Die Macht in der DDR lag in den Händen des SED-Politbüros, das mit Hilfe seines Parteiapparates Staat, Wirtschaft und Gesellschaft steuerte und kontrollierte. Offiziell wurde das Politbüro vom Zentralkomitee gewählt, dem laut Statut höchsten Parteiorgan zwischen den Parteitagen, in Wirklichkeit jedoch legte das Politbüro die Beschlüsse und die Wahlergebnisse des Zentralkomitees vorher fest. Die im ZK versammelte Partei-Elite durfte über Jahrzehnte hinweg vorher genehmigte "Diskussionsbeiträge" leisten, andächtig den Reden der Oberen lauschen und anschließend deren Wahrheiten im Lande verkünden. Das änderte sich erst mit der Tagung vom 18. Oktober 1989.
Die Protokolle der letzten ZK-Tagungen im Spätherbst 1989 vermitteln, soweit die Schrift das vermag, ein authentisches Bild dieser Sitzungen, da sie auf Tonbandmitschnitten beruhen. Zu DDR-Zeiten gab das Büro des Generalsekretärs nur ein sogenanntes "rotes Protokoll" heraus, das nicht mit der stenographischen Niederschrift übereinstimmen mußte.
Die neunte Tagung des Zentralkomitees begann am 18. Oktober um 13.55 Uhr mit einem Paukenschlag. Der langjährige Generalsekretär Erich Honecker bat die versammelten Genossinnen und Genossen, ihn "von der Funktion des Generalsekretärs des Zentralkomitees, vom Amt des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und von der Funktion des Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik zu entbinden". Er schlug Egon Krenz, "der fähig und entschlossen ist, der Verantwortung und dem Ausmaß der Arbeit so zu entsprechen, wie es die Lage erfordert", als seinen Nachfolger vor. Das Zentralkomitee billigte dieses Anliegen einstimmig und verabschiedete den Kämpfer "für Sozialismus und Frieden" mit "stürmischem Beifall". Tatsächlich handelte es sich nicht um einen freiwilligen Rücktritt, sondern um einen Sturz, den Krenz mit Zustimmung Gorbatschows eingefädelt hatte.
Der neue Möchtegerndiktator hielt anschließend eine mit altbekannten Floskeln durchsetzte Rede, in der er seiner Gefolgschaft versicherte, daß "der Sozialismus auf deutschem Boden nicht zur Disposition steht" und "unsere Macht die Macht der Arbeiterklasse und des ganzen Volkes ist unter Führung unserer Partei". In der sich anschließenden, für die meisten Mitglieder ungewohnten, weil zaghaft offenen Diskussion war es der "Hoffnungsträger" Hans Modrow, der für den Beginn eines Dialogs mit friedlichen Demonstranten warb, gleichzeitig aber auch Entschlossenheit bekundete, den Sozialismus auch gewaltsam zu verteidigen.
Lief diese Sitzung noch weitgehend nach überkommenem Muster ab, bescherte der erste Tag der zehnten ZK-Tagung dem frischgebackenen Generalsekretär eine neue Erfahrung. Eine Mehrheit der ZK-Mitglieder ließ einige von ihm vorgeschlagene Kandidaten bei der Wahl zum neuen Politbüro durchfallen. Dagegen rückte Hans Modrow, der gleichzeitig als neuer Ministerpräsident nominiert wurde, in das oberste Machtzentrum nach.
Während sich das Zentralkomitee noch mit den Regeln freier Wahlen vertraut machte, verkündeten die für die Wirtschaft verantwortlichen SED-Funktionäre bittere Wahrheiten, die Krenz in den Worten zusammenfaßte: "Das Prinzip, das nur verbraucht werden kann, was vorher erwirtschaftet worden ist, wurde sträflichst verletzt, die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik inkonsequent durchgesetzt. Den Leistungsrückständen der Produktion standen steigende Sozial- und Subventionsausgaben gegenüber. Der Ausgleich sollte durch Aufnahme ständig steigender Kredite erreicht werden. Dafür haben wir heute teuer zu bezahlen. Mit der ungenügenden Durchsetzung des Leistungsprinzips entstanden unsoziale Nebenwirkungen wie Schattenwirtschaft, Schmiergelder und Abhängigkeiten durch Beziehungen."
Den Genossen, die immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkannt hatten, erklärte danach Modrow, nur eine "Ökonomisierung der ganzen Wirtschaft" und die Anerkennung der Leistung "als ein Bewertungsprinzip der sozialistischen Gesellschaft" könnten den DDR-Sozialismus retten. Andere Führungskräfte wie etwa Innenminister Friedrich Dickel sorgten sich dagegen eher um die schwindende Autorität der Staatsorgane, die "mit Fußtritten, Fausthieben, Steinen, Eisenstangen und Reizsprays angegriffen" würden. Den Führungsgenossen dämmerte allmählich, daß ihre Autorität auf tönernen Füßen stand. Zum Dialog mit dem aufmüpfigen Volk fühlten sich nur wenige wie Günter Schabowski oder Hans Modrow berufen. Sensible Gemüter wie etwa der Erste Sekretär der Bezirksleitung in Potsdam, Günther Jahn, verspürten dagegen keine Neigung, sich weiterhin öffentlich beschimpfen zu lassen. Er wolle "lieber ein feiger Hund als ein dummes Schwein" sein, erklärte er und erntete vom Plenum, wie die Tonaufzeichnung aufweist, "zustimmende Zurufe".
Das Schicksal der DDR besiegelte das Zentralkomitee eher beiläufig, indem es dem von Egon Krenz vorgeschlagenen Reisegesetz zustimmte, ohne auch nur zu ahnen, daß einige Stunden später aufgrund eines Mißverständnisses bei der Verkündung dieses Gesetzes durch Günter Schabowski die Mauer in der Nacht vom 9. November 1989 fallen würde.
Die ZK-Riege, die sich am 10. November ab 9.05 Uhr zu ihrem dritten Beratungstag versammelte, ignorierte die in der Nacht eingetretene Entwicklung. Man klammerte sich an die Geschäftsordnung, als ob nichts geschehen wäre. Erst im Verlauf der Sitzung sprach Egon Krenz von dem "Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war und seit heute nacht auf unsere Grenzen gerichtet ist". Dieser Druck, so Krenz weiter, "war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben". Anstatt sich mit der neu entstandenen Lage zu beschäftigen, delegierte das Zentralkomitee die Angelegenheit in eine Kommission, "die diese Frage untersucht und der nächsten Tagung des Zentralkomitees . . . eine Antwort gibt."
Im weiteren Verlauf der Debatte überboten sich die Redner mit Vorschlägen zur Rettung des Sozialismus, aber auch mit persönlichen Entschuldigungen. Schließlich einigte man sich auf ein "Aktionsprogramm", in dem das Zentralkomitee feststellte, "daß ernste Fehler des abgelösten Politbüros Partei und Republik in eine tiefe Krise geführt haben". Als Sündenbock mußte der langjährige oberste Wirtschaftslenker Günter Mittag herhalten, der "wegen gröblichster Verstöße gegen die innerparteiliche Demokratie, gegen die Partei-und Staatsdisziplin sowie die Schädigung des Ansehens der Partei" aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen wurde. In der nachfolgenden erregten Diskussion um Verantwortung und Schuld erklärte der langjährige Generalintendant der städtischen Theater Leipzig, Karl Kayser, aus Altersgründen seinen Rücktritt mit den Worten: "Genossen, mich ekelt das alles an", was Egon Krenz mit den Worten: "Mich auch, ja" kommentierte.
Ob die nicht im Zentralkomitee vertretenen Aktivisten aus der Kaderreserve der Partei, die auf die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages drängten, ähnliche Gefühle hegten, ist nicht überliefert. Auf der schon drei Tage später stattfindenden elften ZK-Tagung demontierten sie jedoch die neue alte Parteiführung, die schließlich dem Druck nachgab, einen Parteitag und nicht, wie zuvor beschlossen, die weniger wichtige Parteikonferenz einzuberufen. Und sie erzwangen den "freiwilligen" Rücktritt der alten Garde, die neben Honecker über Jahrzehnte die Geschicke der DDR bestimmt hatte.
Doch der Gruppe um Krenz half alles Lavieren nicht. Die "kritische" Parteibasis, die inzwischen in den Bezirken und Kreisen die alten Funktionäre abgewählt hatte, wollte Modrow inthronisieren, der das Zentrum der Macht von der Partei auf den Staat verlagern wollte. Wenn es Modrow in den wenigen Monaten seiner Regierungszeit auch nicht gelang, die DDR zu retten, konnte er auf diese Weise seiner Partei und manchem ihrer verdienten Kämpfer zu einem guten Start in die postsozialistische Ära verhelfen. Das inzwischen durch Rücktritte und Ausschlüsse arg geschrumpfte Zentralkomitee durfte auf seiner letzten Tagung am 3. Dezember 1989 noch seinen Rücktritt erklären, ehe eine neue Gruppe um Modrow und Gysi die Macht in der Partei übernahm und sie in PDS umbenannte.
Bevor Egon Krenz mit den Worten "Genossinnen und Genossen! Die Tagung ist beendet" scheinbar auch das Ende der SED besiegelte, zeigte er noch einmal, daß er nichts, aber auch gar nichts gelernt hatte. In gewohnter Manier bat er die Delegierten, die Manipulation der Kommunalwahl vom Mai 1989, die zu ersten größeren Protesten geführt hatte, nicht zu thematisieren, denn "es gab aber keine andere Möglichkeit, ein anderes Wahlergebnis bekanntzugeben, weil es so entsprechend den Protokollen, die auch in den Kreisen existierten, zusammengestellt worden ist". Sollte dieses Thema neu aufgerollt werden, befürchtete er, "dann räumen wir nicht nur Positionen, die wir noch besitzen, dann können wir ganz nach Hause gehen. Ich bitte, das nicht zu Protokoll zu nehmen." Bei soviel entwaffnender Verlogenheit und angesichts der offenbar werdenden Politik der alten Parteiführung sah das langjährige ZK-Mitglied Bernhard Quandt nur die Möglichkeit, die Todesstrafe wieder einzuführen: man solle die "Verbrecherbande des alten Politbüros", die "unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben", einfach "standrechtlich erschießen".
Lebendiger als viele Kommentare und Analysen legen diese Protokolle offen, woran die DDR zugrunde ging. Das Buch sei jedem empfohlen, der sich für die Geschichte der deutschen Teilung interessiert - auch wenn er sich über die These vom Ende der SED und das überflüssige und bisweilen widersinnige Vorwort ärgern mag. KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main