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Eine Biographie, die sich liest wie ein Roman: Das Leben des amerikanischen Diplomaten Richard Holbrooke
An dem Tag, an dem er sterben würde, will Richard Holbrooke mit Barack Obama sprechen. Doch dessen Berater David Axelrod lässt ihn abblitzen. Der Präsident kann den altgedienten Außenpolitiker, den er mit der unlösbaren Aufgabe betraut hat, Frieden nach Afghanistan zu bringen, nicht leiden. Also eilt Holbrooke weiter, rauscht in das Büro von Hillary Clinton und setzt vor der Außenministerin zu einem Vortrag über die historische Bedeutung der Verhandlungen mit den Taliban an. Dabei färbt sich sein Gesicht unnatürlich rot. "Etwas Schreckliches passiert gerade", stammelt Holbrooke, dessen Aorta reißt. Während er zu einem Krankenwagen getragen wird, ruft er seinem Mitarbeiter Arbeitsaufträge zu, die dieser auf der Rückseite eines Kassenzettels notiert. Die Notoperation bringt keine Rettung, Holbrooke stirbt an diesem Tag im Dezember 2010. Bis in den Tod drängt er sich in den Mittelpunkt der Weltpolitik.
Der amerikanische Diplomat gilt als Architekt des Abkommens von Dayton, das 1995 den Krieg in Bosnien-Hercegovina beendete. Wenn in den vergangenen Jahrzehnten etwas Wichtiges in der amerikanischen Außenpolitik passierte, war Holbrooke dabei. Zu seinem großen Unmut aber immer nur in der zweiten Reihe. Er diente mehreren Präsidenten. Barack Obama ernannte ihn zum Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, Bill Clinton machte ihn zum Botschafter in Deutschland und bei den Vereinten Nationen, unter Jimmy Carter leitete er die Abteilung für Asien und den Pazifik im State Department.
George Packer, Journalist der amerikanischen Zeitschrift The Atlantic, hat ein Buch über Holbrookes Leben geschrieben. Das englische Original ist als "Our Man" erschienen, die deutsche Übersetzung lautet "Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts". Die Titel geben einen ersten Hinweis darauf, was sich Packer mit dem Buch vorgenommen hat. Er hat eine Biographie Holbrookes geschrieben, die sich wie ein Roman liest. Gleichzeitig ist das Buch eine scharfe Analyse der amerikanischen Außenpolitik, vom Vietnamkrieg bis zum Krieg in Afghanistan. "Er war unser Mann. Das ist der Grund, warum ich diese Geschichte erzählen möchte", schreibt Packer. Holbrooke verkörpert für ihn die Stärken und Schwächen der amerikanischen Außenpolitik: "Unser Selbstvertrauen und unsere Energie, unsere Reichweite und unsere Einsatzmöglichkeiten, unser Überfluss und unsere Blindheit - entsprachen im Großen und Ganzen denen von Holbrooke." Packer hat mit zahlreichen Weggefährten gesprochen und hatte Zugang zu Holbrookes Nachlass. Auszüge aus seinen Tagebüchern und Notizen finden sich im Buch wieder.
Packer beginnt die Geschichte mit Holbrookes Eintritt in den diplomatischen Dienst. Während seines ersten Auslandseinsatzes in Vietnam verteilt er als Entwicklungshelfer Reis und amerikanisches Geld. Wie alle seine Kollegen weiß er nichts über das Land und versteht die Sprache nicht, ist aber idealistisch und möchte den Vietnamesen helfen, es besser zu machen. In Washington will man verhindern, dass Vietnam in die Hände des Kommunismus fällt. Die amerikanische Botschaft in Saigon kabelt einen optimistischen Bericht nach dem anderen ins Weiße Haus. Diese Naivität kennzeichne das amerikanische Engagement im Ausland, von Vietnam bis Afghanistan, schreibt Packer. Holbrooke hingegen begreift schnell, dass die Strategie der Amerikaner nicht aufgehen wird. Auf seinem Posten im ländlichen Vietnam erlebt er, wie die Vietcong immer weiter gen Süden vorrücken.
Seine Meinung äußert er jedoch nur, wenn es ihm auch etwas bringt. Denn Holbrooke will hoch hinaus in Washington, so schnell wie möglich. Seine Konkurrenten sticht er aus, seinen Vorgesetzten biedert er sich an. Packer zeigt Holbrooke als egozentrisch und über die Maßen von sich überzeugt. Er will sich in das Weltgeschehen einmischen, einfach weil er sich für den Besten hält. Beliebt macht ihn dieses Verhalten nicht. Seinen Ambitionen ordnet er alles unter. Während er nach Vietnam, auf den Balkan und nach Afghanistan jettet und um Posten im State Department kämpft, gehen seine Ehen, Affären, Freundschaften zu Bruch. Schließlich ist es genau dieses Verhalten, das ihn innerhalb der Machtelite Washingtons für das Amt des Außenministers, das er gerne übernommen hätte, unmöglich macht.
Diese Schwächen erkennt Packer auch im Interventionismus der amerikanischen Außenpolitik: "Was auch immer es ist, das große Mächte und bedeutende Menschen zu Fall bringt - schlichte Hybris oder Dekadenz oder Verschwendungssucht, so etwas wie Unaufmerksamkeit oder Versagensangst oder einfach nur das Alter -, genau das setzte irgendwann ein, und deshalb geht es hier um ein vergangenes Zeitalter." Das halbe amerikanische Jahrhundert, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Terror am Beginn des neuen Millenniums, findet bei Packer ein unrühmliches Ende: "Ein Goldenes Zeitalter war es nicht, wir haben uns verrannt, und eine Menge ist schiefgegangen, doch ich trauere ihm jetzt schon nach."
Im englischen Sprachraum ist das Buch schon 2019 auf den Markt gekommen. Vor drei Jahren war die Welt eine andere. Heute herrscht in Europa wieder Krieg. Und mit seinen Militärmanövern um Taiwan hat China demonstriert, wie fragil der Frieden in Asien ist. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass es noch zu früh ist, die Vereinigten Staaten wehmütig als internationale Ordnungsmacht abzuschreiben. Sie haben noch immer die stärkste Armee, sind eine Wirtschaftsmacht und, trotz aller Bemühungen der Europäischen Union, die einzige Demokratie, die den erstarkenden Autokratien wirklich die Stirn bieten kann.
Vor diesem Hintergrund sollte man Packers Buch nicht als Abgesang auf eine Supermacht lesen. Vielmehr kann es heute als kritische Analyse des amerikanischen Interventionismus und der inneren Strukturen des Außenpolitikapparats dienen - um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Dafür bietet es eine Fülle an detailliert ausrecherchierten Beispielen, von Vietnam bis Afghanistan. Packers Idee, einen der wichtigsten amerikanischen Außenpolitiker über mehrere Jahrzehnte sprichwörtlich zu verfolgen, macht wegweisende politische Ereignisse so erfahrbar, als wäre man selbst dabei gewesen. Der damit verbundene Einblick in Holbrookes Privatleben ist so unterhaltsam wie tragisch. Unweigerlich drängt sich beim Lesen der Vergleich mit aktuellen Konflikten auf. Vermutlich ohne es beabsichtigt zu haben, bereitet Packer den Leser gedanklich auf mögliche künftige Einsätze der Vereinigten Staaten im Ausland vor. Denn welche Alternative gäbe es? In einer Welt, in der die internationale Gemeinschaft Länder wie Russland und China einfach gewähren lässt, kann niemand leben wollen. ANNA SCHILLER
George Packer: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts. Richard Holbrookes Mission.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2022. 704 S., 34,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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