András Szabad wächst in einer ungarischen Kleinstadt auf, innig geliebt von seiner Mutter, einer Bibliothekarin. 1956 wird sein Vater wegen Teilnahme am Aufstand verhaftet. Als er nach drei Jahren völlig gebrochen nach Hause kommt, stirbt die Mutter – das Ende einer Kindheit. Mit dem Vater zieht er nach Budapest, und András entdeckt das Fotografieren. Die Kamera wird seine Leidenschaft, das Organ, mit dem er der Welt auflauert, sie sich vom Leib hält und aufs Bild bannt. Nie lässt er sie los, die Kamera ist immer dabei, auch wenn er sich verliebt.
Als er Jahrzehnte später vom Unfalltod Évas erfährt, einer nach Amerika emigrierten Pianistin, mit der ihn eine Amour fou verband, beginnt er sein Leben niederzuschreiben – kurze Episoden, gestochen scharfe Dialoge, wie in einem Kammerspiel. Eine unheimliche Kälte und Einsamkeit durchweht diesen Künstlerroman, der um die Frage kreist, woher die Gewalt und die Verletzlichkeit kommen, die András in sich spürt.
»Schöner hat lange niemand mehr von der Düsternis erzählt«, schrieb die FR über Attila Bartis und seinen Roman Die Ruhe. »Unerklärlich die atemberaubende Stilsicherheit« (ZEIT) des jungen Autors, seine »Leichtigkeit im Umgang mit der Last der Geschichte« (NZZ). Fünfzehn Jahre hat Attila Bartis an seinem nächsten Roman gearbeitet: Das Ende ist sein opus magnum: ein Werk, das mit unerbittlicher Genauigkeit von erotischer Abhängigkeit, Lüge und Erpressung erzählt.
Als er Jahrzehnte später vom Unfalltod Évas erfährt, einer nach Amerika emigrierten Pianistin, mit der ihn eine Amour fou verband, beginnt er sein Leben niederzuschreiben – kurze Episoden, gestochen scharfe Dialoge, wie in einem Kammerspiel. Eine unheimliche Kälte und Einsamkeit durchweht diesen Künstlerroman, der um die Frage kreist, woher die Gewalt und die Verletzlichkeit kommen, die András in sich spürt.
»Schöner hat lange niemand mehr von der Düsternis erzählt«, schrieb die FR über Attila Bartis und seinen Roman Die Ruhe. »Unerklärlich die atemberaubende Stilsicherheit« (ZEIT) des jungen Autors, seine »Leichtigkeit im Umgang mit der Last der Geschichte« (NZZ). Fünfzehn Jahre hat Attila Bartis an seinem nächsten Roman gearbeitet: Das Ende ist sein opus magnum: ein Werk, das mit unerbittlicher Genauigkeit von erotischer Abhängigkeit, Lüge und Erpressung erzählt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Leben und lieben im akademischen Prekariat
Größere Phantasten als die Schriftsteller sind die Literaturwissenschaftler. Sebastian Lehmanns Roman "Parallel leben" macht darauf die Probe.
Von Jan Wiele
Ganz ohne parodistischen Reflex scheint es noch immer nicht möglich zu sein, über akademisches Leben in Deutschland einen Roman zu schreiben. Natürlich muss ein alter Germanistikprofessor Zigarillos rauchen, jede Tasse Kaffee mit Rum verlängern und ob seiner ungesunden Lebensweise kurz vor dem Herzinfarkt stehen. Und dann auch noch Sätze raushauen wie "Jedes Seminar, das ich nicht gebe, ist ein gutes Seminar".
Aber auch wenn die Ausgangssituation von Sebastian Lehmanns Debütroman gleichermaßen überzeichnet wirkt - der Doktorand des besagten Professors, Protagonist des Buches, sitzt an einer niemals fertigwerdenden Dissertation über "Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" -, schafft der Autor es doch, einen schnell für seine Geschichte einzunehmen, weil er trotz mancher Zuspitzung das Lebensgefühl des akademischen Prekariats vermittelt. Und das ist eines, das ziemlich viele Menschen in Deutschland teilen.
Dieser nicht mehr ganz junge Paul also, der einen von Gnaden des Doktorvaters immer wieder verlängerten Dozentenvertrag an der Freien Universität Berlin hat, interessiert sich im Grunde kaum noch für sein Fach, verachtet oder bemitleidet seine Studenten, hat sich aber trotz allem mit seinem Dasein bestens arrangiert: "Die Universität bedeutete für mich einen Ruheraum, ich fühlte mich wohl hier - in den muffigen Gängen, in der Bibliothek, in meinem winzigen Büro, das ich mir mit einem anderen Doktoranden teilte, der höchstens einmal im Monat vorbeischaute, um seine Post abzuholen." Nach fast fünfzehn Jahren Mensa hat Paul zwar noch nicht herausgefunden, "warum alle Gerichte einen penetranten süßen Honiggeschmack aufwiesen", aber nichtsdestotrotz geht er weiter jeden Mittag dort essen, denn was hilft es? "Ich war hier zu Hause."
Im Gegensatz zu seiner Freundin Johanna hat er es da sogar noch gut, denn die gehört zur Generation Praktikum und hat sich jahrelang mit befristeten Stellen ohne eigenen Arbeitsplatz durchgeschlagen. Nun betreut sie Produktionen in einem sehr kleinen Hörbuchverlag. "Diese Artikel über die mobile und flexible Arbeitswelt, die sind alle über mich", sagt sie einmal zu Paul. Dennoch scheint das Paar zusammen mit Johannas von einem früheren Partner gezeugten Sohn am Anfang des Buches auf eine gewisse Art glücklich zu sein. Bis zu dem Moment, in dem der Autor den besten Trick des Campusroman-Altmeisters David Lodge vollführt: nämlich auf einer langweiligen Konferenz eine geheimnisvolle Frau auftauchen zu lassen.
Eigentlich hatte Paul gar nicht zu dieser Konferenz nach Leipzig gewollt. Doch sein väterlicher Professor zwingt ihn, damit er bei der Verwaltung Gründe für die Stellenverlängerung vorweisen kann. Die Tagung über Nachkriegsliteratur, bei der Paul einfach "irgendein altes Kapitel aus seiner komischen Arbeit" referieren soll, wird dann auch bald Nebensache: Denn mit dem Auftritt von Lea, einer Schönheit mit halblangen braunen Haaren, die einen "viel zu großen olivgrünen Armeeparka mit fellbesetzter Kapuze" trägt, erhält die Geschichte ihre Fallhöhe: Aus dem spöttisch-witzigen Universitätsroman wird eine vertrackte Beziehungsgeschichte. Von Liebe zu sprechen wäre hier unangebracht, denn von Gefühlen handelt dieser Roman wenig. Für Paul geht es wohl vielmehr um die Erfahrung, noch ein zusätzliches, geheimes Leben mit Lea in Leipzig beginnen zu können, kaum mehr als eine Zugstunde entfernt von seinem Familienleben in Berlin. In Lea hat er eine ihm noch ähnlichere Partnerin gefunden: Auch sie ist Doktorandin der Literaturwissenschaft, aber vor allem hadert auch sie mit ihrem Thema sowie ihrer gesamten Existenz, ist bedroht vom Niemalsfertigwerden. Ohne dass viel und Genaueres davon erzählt würde, erfährt man außerdem, dass die Beziehung von Paul und Lea vor allem auf Sex gebaut ist.
Beiden Frauen verschweigt Paul die jeweils andere und steuert damit auf die Katastrophe zu. Durch einen weiteren Erzählertrick kann er Lea noch für einen Sommeraufenthalt nach New York folgen, ohne dass Johanna es bemerkt - das verschafft dem Roman, nach einigen interessanten Szenen in Leipziger Altbauten, auch noch einen weltgewandten, um nicht zu sagen: hippen Dreh in die Wohnkaschemmen von Brooklyn, wo Kakerlaken lauern und die Begegnungen hitziger und schwitziger werden.
An vielen Stellen merkt man Sebastian Lehmanns Roman den Lesebühnen-Hintergrund seines Autors an. Das sorgt für meist kurze, auch auf Pointe geschriebene Absätze und Kapitel, ähnlich wie man es etwa zuletzt bei Bov Bjerg gesehen hat. Weniger schlau war es vielleicht, dauernd die Perspektive zu wechseln und so auch die anderen Figuren in der Ich-Form erzählen zu lassen - das hat einen gewissen Baukasten-Effekt.
An den besten Stellen weicht der Witz einem wenn auch ironisch verbrämten, so doch ernsten Blick auf die Sekundärexistenz von Literaturwissenschaftlern im Vergleich zu den Literaten selbst: "Wir sind nur zu Besuch, wir sind der Gast, der bis zum Ende der Party bleibt - und noch darüber hinaus, denn niemand schmeißt uns hinaus in die kalte Nacht der Realität. Wir sind wahrscheinlich noch viel größere Phantasten als die Schriftsteller!", heißt es einmal.
Wenn das Genre "Campusroman" mehr will, als nur Unterhaltung oder Liebelei in universitärem Setting zu bieten, dann kann dies in der plausiblen Verflechtung der Forschungsgegenstände der Figuren mit deren Leben gelingen. Dass hier diese Gegenstände vor allem in altbekannten Weisheiten aus Max Frischs Romanen "Stiller" und "Mein Name sei Gantenbein" bestehen, gibt dem Roman eine weitere Fallhöhe; er ist, böse gesagt und im Vergleich etwa zu Mathias Énards "Kompass", der in der Verflechtung von Wissenschaft und Leben ungeheure Tiefe erreicht, eine Art Campusroman für Anfänger. Aber das ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schon eine große Errungenschaft.
Attila Bartis: "Das Ende".
Roman.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 751 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Größere Phantasten als die Schriftsteller sind die Literaturwissenschaftler. Sebastian Lehmanns Roman "Parallel leben" macht darauf die Probe.
Von Jan Wiele
Ganz ohne parodistischen Reflex scheint es noch immer nicht möglich zu sein, über akademisches Leben in Deutschland einen Roman zu schreiben. Natürlich muss ein alter Germanistikprofessor Zigarillos rauchen, jede Tasse Kaffee mit Rum verlängern und ob seiner ungesunden Lebensweise kurz vor dem Herzinfarkt stehen. Und dann auch noch Sätze raushauen wie "Jedes Seminar, das ich nicht gebe, ist ein gutes Seminar".
Aber auch wenn die Ausgangssituation von Sebastian Lehmanns Debütroman gleichermaßen überzeichnet wirkt - der Doktorand des besagten Professors, Protagonist des Buches, sitzt an einer niemals fertigwerdenden Dissertation über "Konzeptionen der Liebe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" -, schafft der Autor es doch, einen schnell für seine Geschichte einzunehmen, weil er trotz mancher Zuspitzung das Lebensgefühl des akademischen Prekariats vermittelt. Und das ist eines, das ziemlich viele Menschen in Deutschland teilen.
Dieser nicht mehr ganz junge Paul also, der einen von Gnaden des Doktorvaters immer wieder verlängerten Dozentenvertrag an der Freien Universität Berlin hat, interessiert sich im Grunde kaum noch für sein Fach, verachtet oder bemitleidet seine Studenten, hat sich aber trotz allem mit seinem Dasein bestens arrangiert: "Die Universität bedeutete für mich einen Ruheraum, ich fühlte mich wohl hier - in den muffigen Gängen, in der Bibliothek, in meinem winzigen Büro, das ich mir mit einem anderen Doktoranden teilte, der höchstens einmal im Monat vorbeischaute, um seine Post abzuholen." Nach fast fünfzehn Jahren Mensa hat Paul zwar noch nicht herausgefunden, "warum alle Gerichte einen penetranten süßen Honiggeschmack aufwiesen", aber nichtsdestotrotz geht er weiter jeden Mittag dort essen, denn was hilft es? "Ich war hier zu Hause."
Im Gegensatz zu seiner Freundin Johanna hat er es da sogar noch gut, denn die gehört zur Generation Praktikum und hat sich jahrelang mit befristeten Stellen ohne eigenen Arbeitsplatz durchgeschlagen. Nun betreut sie Produktionen in einem sehr kleinen Hörbuchverlag. "Diese Artikel über die mobile und flexible Arbeitswelt, die sind alle über mich", sagt sie einmal zu Paul. Dennoch scheint das Paar zusammen mit Johannas von einem früheren Partner gezeugten Sohn am Anfang des Buches auf eine gewisse Art glücklich zu sein. Bis zu dem Moment, in dem der Autor den besten Trick des Campusroman-Altmeisters David Lodge vollführt: nämlich auf einer langweiligen Konferenz eine geheimnisvolle Frau auftauchen zu lassen.
Eigentlich hatte Paul gar nicht zu dieser Konferenz nach Leipzig gewollt. Doch sein väterlicher Professor zwingt ihn, damit er bei der Verwaltung Gründe für die Stellenverlängerung vorweisen kann. Die Tagung über Nachkriegsliteratur, bei der Paul einfach "irgendein altes Kapitel aus seiner komischen Arbeit" referieren soll, wird dann auch bald Nebensache: Denn mit dem Auftritt von Lea, einer Schönheit mit halblangen braunen Haaren, die einen "viel zu großen olivgrünen Armeeparka mit fellbesetzter Kapuze" trägt, erhält die Geschichte ihre Fallhöhe: Aus dem spöttisch-witzigen Universitätsroman wird eine vertrackte Beziehungsgeschichte. Von Liebe zu sprechen wäre hier unangebracht, denn von Gefühlen handelt dieser Roman wenig. Für Paul geht es wohl vielmehr um die Erfahrung, noch ein zusätzliches, geheimes Leben mit Lea in Leipzig beginnen zu können, kaum mehr als eine Zugstunde entfernt von seinem Familienleben in Berlin. In Lea hat er eine ihm noch ähnlichere Partnerin gefunden: Auch sie ist Doktorandin der Literaturwissenschaft, aber vor allem hadert auch sie mit ihrem Thema sowie ihrer gesamten Existenz, ist bedroht vom Niemalsfertigwerden. Ohne dass viel und Genaueres davon erzählt würde, erfährt man außerdem, dass die Beziehung von Paul und Lea vor allem auf Sex gebaut ist.
Beiden Frauen verschweigt Paul die jeweils andere und steuert damit auf die Katastrophe zu. Durch einen weiteren Erzählertrick kann er Lea noch für einen Sommeraufenthalt nach New York folgen, ohne dass Johanna es bemerkt - das verschafft dem Roman, nach einigen interessanten Szenen in Leipziger Altbauten, auch noch einen weltgewandten, um nicht zu sagen: hippen Dreh in die Wohnkaschemmen von Brooklyn, wo Kakerlaken lauern und die Begegnungen hitziger und schwitziger werden.
An vielen Stellen merkt man Sebastian Lehmanns Roman den Lesebühnen-Hintergrund seines Autors an. Das sorgt für meist kurze, auch auf Pointe geschriebene Absätze und Kapitel, ähnlich wie man es etwa zuletzt bei Bov Bjerg gesehen hat. Weniger schlau war es vielleicht, dauernd die Perspektive zu wechseln und so auch die anderen Figuren in der Ich-Form erzählen zu lassen - das hat einen gewissen Baukasten-Effekt.
An den besten Stellen weicht der Witz einem wenn auch ironisch verbrämten, so doch ernsten Blick auf die Sekundärexistenz von Literaturwissenschaftlern im Vergleich zu den Literaten selbst: "Wir sind nur zu Besuch, wir sind der Gast, der bis zum Ende der Party bleibt - und noch darüber hinaus, denn niemand schmeißt uns hinaus in die kalte Nacht der Realität. Wir sind wahrscheinlich noch viel größere Phantasten als die Schriftsteller!", heißt es einmal.
Wenn das Genre "Campusroman" mehr will, als nur Unterhaltung oder Liebelei in universitärem Setting zu bieten, dann kann dies in der plausiblen Verflechtung der Forschungsgegenstände der Figuren mit deren Leben gelingen. Dass hier diese Gegenstände vor allem in altbekannten Weisheiten aus Max Frischs Romanen "Stiller" und "Mein Name sei Gantenbein" bestehen, gibt dem Roman eine weitere Fallhöhe; er ist, böse gesagt und im Vergleich etwa zu Mathias Énards "Kompass", der in der Verflechtung von Wissenschaft und Leben ungeheure Tiefe erreicht, eine Art Campusroman für Anfänger. Aber das ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schon eine große Errungenschaft.
Attila Bartis: "Das Ende".
Roman.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 751 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2017Die Kamera, die den Tod abfängt
Von der innigen Beziehung zwischen einem Hund namens Laika und einem Fotoapparat, der Leica heißt:
Attila Bartis erzählt von einer Jugend in Ungarn, mit der Wahrheit und der surrealen Kraft von Bildern in Schwarz-Weiß
VON LOTHAR MÜLLER
Sehr seltsam ist die früheste Kindheitserinnerung des Fotografen András Szabad. Sie führt zurück in die ungarische Provinz, nach Melyar, in das Jahr 1945, kurz vor Kriegsende, als András zwei Jahre alt war. Ein Pfau spielt in der Szene die Hauptrolle: „Er ging um den großen Tisch herum, auf dem das Glas von Oberst Dr. Johann Wolfgang Adler stand, setzte sich ein wenig auf den blutigen Armlehnstuhl, von dort zog er auf die Vitrine um und ging dann los, dorthin, wo er eine Stimme rufen hörte. Spazierte durch das Vorzimmer, kam zu mir herein und flog auf den Kachelofen hinauf. Dort trat er ein wenig von einem Bein aufs andere, als wüsste er noch nicht, was er zu tun habe, obwohl ich mir da schon die Kehle aus dem Leib brüllte. Schließlich flog er, seinen regenbogenfarbenen Schweif hinter sich herziehend, durchs Zimmer. Diese kreischende Sternschnuppe ist meine erste Erinnerung.“
András Szabad ist der Ich-Erzähler und die Hauptfigur in dem großen neuen Roman „Das Ende“ des Schriftstellers und Fotografen Attila Bartis, der eine Generation jünger ist als sein Held. Er wurde 1968 in Marosvásárhely im rumänischen Siebenbürgen geboren, übersiedelte als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Budapest und veröffentlichte seinen ersten Roman „Der Spaziergang“ 1995 (dt. 1999). Das schmale Buch hatte er 1986 zu schreiben begonnen, und schon darin spielte die Fotografie eine Schlüsselrolle. Sarkastisch, hart und genau wurde eine Geschichte erzählt, die alle Züge eines „coming-of-age“-Romans trug. Aber das Etikett passt nicht recht, es wäre längst an der Zeit, einen neuen für das eigenständige osteuropäisch Gegenüber zu diesem angelsächsisch codierten Genre zu prägen.
Auch mit seinem zweiten, umfangreicheren Roman „Die Ruhe“ (2001, dt. 2005) hat Attila Bartis zur Entfaltung dieses Genres beigetragen. Alle Kinder in diesem Roman waren frühreif und mit einer Fantasie begabt, der von Beginn an die Unschuld fehlte. Nun, in „Das Ende“, ist wieder die Geschichte eines Heranwachsenden im osteuropäischen Realsozialismus der Kern. Als er seinen Lebensbericht zu erzählen beginnt, ist András Szabad 52 Jahre alt, die große Liebe seines Lebens seit zwei Jahren tot, die Euphorie des Jahres 1989, in dem die Mauer fiel und der Parteiführer János Kádár starb, ist verflogen, die Brücke von Mostar wird gesprengt, Jagdflieger kreisen im Himmel über Sarajevo. Aber über jede Gegenwart in diesem Roman fallen die Schatten der frühen Erinnerungen, an die letzten Kriegsjahre und an die Revolution 1956. Und András Szabad hat eine unklare Krankheitsdiagnose im Leib.
Schauen wir uns die Kindheitserinnerung an den Pfau genauer an. Was hat es mit dem deutschen Oberst auf sich, der die Vornamen Goethes trägt? Er hatte den Pfau von Zigeunern requiriert, ehe er diese hat liquidieren lassen, und der Mutter des Erzählers geschenkt. Warum ist der Armlehnstuhl im Zimmer blutig? Weil der Deutsche, das Kriegsende vor Augen, sich soeben erschossen hat. Was hat die Panik des Kindes ausgelöst? András Szabad wird es später im Verlauf des Romans seiner großen Liebe, der Pianistin Eva Zárai, erzählen: weil der Pfau ihm die Augen aushacken wollte.
Attila Bartis teilt das Zugleich von Schriftsteller und Fotograf mit seinem ungarischen Landsmann Péter Nádas, dessen Roman „Aufleuchtende Details“ im Herbst auf Deutsch erschienen ist. Darin bettet Nadás in minutiöser Rekonstruktion und aus dem Einfallswinkel seiner individuellen Existenz die Geschichte seiner Familie in die Katastrophenlandschaft Europas im zwanzigsten Jahrhundert ein.
Nádas ist ein Jahr älter als der Held in „Das Ende“, auch bei ihm gibt es eine früheste Kindheitserinnerung, an ein Treppenhaus in Budapest. Aus diesem Bild gehen die letzten Kriegsjahre, geht die Welt der Nomenklatura der kommunistischen Partei im Ungarn der Nachkriegszeit hervor, der die Eltern des Erzählers angehören. Und auch hier stecken in den Kindern einer Familie die gebrannten Kinder einer Epoche der hochfahrenden Utopien und der grenzenlosen Gewalt.
Der Roman von Attila Bartis steht dem von Nádas selbständig und mit einem eigenen Einfallswinkel gegenüber. Nadas berichtet aus der Innenwelt einer jüdischen Familie. Die Welt, in der Andrász Szabad aufgewachsen ist, gehört zum christlich-katholischen Ungarn. Die in den Kriegswirren unterbliebene Taufe des Kindes wird im sozialistischen Ungarn nachgeholt. Der Bruder der Mutter wird in einer bestialischen Aktion der ungarischen Pfeilkreuzler mit der jüdischen Mutter seines Kindes und dem Säugling ermordet. Das Verhängnis aber, das über der Familie liegt, ist, wie bei Nádas, das Scheitern der ungarischen Revolution des Jahres 1956.
In ihrer Folge wird der Vater verhaftetet, weil er vor den russischen Panzern Teller verstreut hat, die kaum ein Panzerfahrer im Ernst mit Tellerminen verwechselt haben wird. Er verschwindet für drei Jahre im Gefängnis und muss danach in einer Gummifabrik arbeiten, die Mutter verliert ihre Stelle als Bibliothekarin und hält die Familie als Näherin über Wasser.
Fast überlappen sich der Tod der Mutter und die Haftentlassung des Vaters, leises Aufatmen und tiefer Abschwung. Das Porträt der Kádar-Ära, das hier im Blick auf die Innenwelt eines Heranwachsenden entsteht, ist bedrängend, gerade weil die Zeitgeschichte ganz im Hintergrund bleibt und sich der Staat nur gelegentlich, wenn ein Polizeiauto vor dem Haus hält und man nicht weiß, wer darin verschwinden wird, als eine der heimlichen Hauptfiguren des Romans zu erkennen gibt. Er wird es bis über das Ende des Sozialismus hinaus bleiben, wenn auf den längst verstorbenen Vater der Verdacht fällt, er sei nicht nur Opfer des Staatsapparates, sondern auch dessen Informant gewesen.
Das Zwielicht gibt es in diesem Roman aber nur im Stoff, nicht im Stil. Die klare, vollkommen unpathetische Prosa, in der Attila Bartis seine Figuren zur Darstellung bringt, rivalisiert mit der Art von Fotografie, die sein Held von Kindheit an obsessiv betreibt, schon als er die Kamera auf die tote Mutter richtet, ohne zu wissen, dass sie keine Film enthält. Große Distanz wahrt diese Prosa zu allen Metaphern, sie ähnelt der dokumentarischen Seite der Schwarzweiß-Fotografie und zugleich dem surrealen Glanz, der in ihr enthalten sein kann. Ausgerechnet der jüdische Inhaber des Passfoto-Ateliers, in dem der junge András eine Anstellung findet, entwickelt die Theorie, Christus selbst sei der vom Grabtuch von Turin bezeugte Erfinder aller Menschenfotografie.
Zu nicht geringen Teilen besteht das Werk des Fotografen András Szabat aus Aktfotografie. Das Zugleich aus Melancholie und Lebenshunger, das in ihm herrscht, macht aus der Romanfigur, als die er dem Leser gegenübertritt, ein Laboratorium, in dem Sex und Liebe mal explosiv zusammengeführt, mal nicht minder explosiv voneinander geschieden werden. Aus diesem Laboratorium gehen die Bilder hervor, die ihn nach der Wende zu einem international gefragten Star der Fotografie-Szene machen.
Zur hinreißenden Liebesgeschichte entwickelt sich die bei einem Voyeurs- Foto entstandene Beziehung zur Pianistin Eva Zárai, sie gehört zu den Schlüsselfiguren, die im Werk von Attila Bartis Ungarn vor 1989 verlassen.
„Liebe, Mondlandung, Kunst, Ballett im Sumpf“ waren die letzten Worte in seinem Erstling „Der Spaziergang“. Durch alle seine Romane geistern die Kosmonauten, fällt Mondlicht. „Wir hatten Gagarin, aber Gagarin hatte auch uns“, so lautet ein Vers des 1963 geborenen deutschen Lyrikers Lutz Seiler. Attila Bartis lässt seinen Fotografen in der Welt der Erwachsenen ankommen, aber die Bilder Gagarins, der 1961 ins All flog, und die an sie geknüpfte Utopie der Schwerelosigkeit wird er nicht los. Eine der dichtesten Engführungen dieses Romans geht daraus hervor, die Verknüpfung eines Goya-Bildes, in dem der Himmel auf dem Kopf eines Hundes lastet, mit der Hündin Laika, die vor Gagarin ins All flog und dort starb, und der Kamera des Fotografen, der im Alter von zwei Jahren fast sein Augenlicht verloren hatte: „Eine der enttäuschendsten Augenblicke meines Lebens war vermutlich, als ich meinen Fotoapparat streichelte. Ich sagte zu ihm: Ruhig, Laika. Andererseits war es auch eine verständliche Geste. Es gibt Gegenstände, die Sicherheit verleihen. Nicht aufgrund ihres Nutzens oder ihres Werts, sondern wegen gewisser menschlicher Eigenschaften, die sie besitzen. Eine Leica zum Beispiel ist verlässlich. Berechenbar. Sie lässt einen nicht im Stich. Kann sein, dass sie einmal kaputtgeht, aber sie suggeriert es nicht wochen-oder monatelang vorher. Sie hält einen nicht in Angst gefangen. Mehr noch, es kam vor, dass sie jemandem das Leben rettete. Wir wissen von mehr als einem Fall, in dem der Fotoapparat die Kugel abfing.“
Terézia Mora hat den Roman „Die Ruhe“ in eine deutsche Prosa übertragen, deren Glanz aus der Verbindung von schmuckloser Einfachheit und suggestiver Bildlichkeit hervorgeht.
Über jede Gegenwart in diesem
Roman fallen die Schatten
der frühen Erinnerungen
Attila Bartis: Das Ende. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 751 Seiten, 32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
Kamerauge und
Kunst des Romans:
Der ungarische
Autor und Fotograf
Attila Bartis.
Foto: Alberto Cristofari/laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von der innigen Beziehung zwischen einem Hund namens Laika und einem Fotoapparat, der Leica heißt:
Attila Bartis erzählt von einer Jugend in Ungarn, mit der Wahrheit und der surrealen Kraft von Bildern in Schwarz-Weiß
VON LOTHAR MÜLLER
Sehr seltsam ist die früheste Kindheitserinnerung des Fotografen András Szabad. Sie führt zurück in die ungarische Provinz, nach Melyar, in das Jahr 1945, kurz vor Kriegsende, als András zwei Jahre alt war. Ein Pfau spielt in der Szene die Hauptrolle: „Er ging um den großen Tisch herum, auf dem das Glas von Oberst Dr. Johann Wolfgang Adler stand, setzte sich ein wenig auf den blutigen Armlehnstuhl, von dort zog er auf die Vitrine um und ging dann los, dorthin, wo er eine Stimme rufen hörte. Spazierte durch das Vorzimmer, kam zu mir herein und flog auf den Kachelofen hinauf. Dort trat er ein wenig von einem Bein aufs andere, als wüsste er noch nicht, was er zu tun habe, obwohl ich mir da schon die Kehle aus dem Leib brüllte. Schließlich flog er, seinen regenbogenfarbenen Schweif hinter sich herziehend, durchs Zimmer. Diese kreischende Sternschnuppe ist meine erste Erinnerung.“
András Szabad ist der Ich-Erzähler und die Hauptfigur in dem großen neuen Roman „Das Ende“ des Schriftstellers und Fotografen Attila Bartis, der eine Generation jünger ist als sein Held. Er wurde 1968 in Marosvásárhely im rumänischen Siebenbürgen geboren, übersiedelte als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Budapest und veröffentlichte seinen ersten Roman „Der Spaziergang“ 1995 (dt. 1999). Das schmale Buch hatte er 1986 zu schreiben begonnen, und schon darin spielte die Fotografie eine Schlüsselrolle. Sarkastisch, hart und genau wurde eine Geschichte erzählt, die alle Züge eines „coming-of-age“-Romans trug. Aber das Etikett passt nicht recht, es wäre längst an der Zeit, einen neuen für das eigenständige osteuropäisch Gegenüber zu diesem angelsächsisch codierten Genre zu prägen.
Auch mit seinem zweiten, umfangreicheren Roman „Die Ruhe“ (2001, dt. 2005) hat Attila Bartis zur Entfaltung dieses Genres beigetragen. Alle Kinder in diesem Roman waren frühreif und mit einer Fantasie begabt, der von Beginn an die Unschuld fehlte. Nun, in „Das Ende“, ist wieder die Geschichte eines Heranwachsenden im osteuropäischen Realsozialismus der Kern. Als er seinen Lebensbericht zu erzählen beginnt, ist András Szabad 52 Jahre alt, die große Liebe seines Lebens seit zwei Jahren tot, die Euphorie des Jahres 1989, in dem die Mauer fiel und der Parteiführer János Kádár starb, ist verflogen, die Brücke von Mostar wird gesprengt, Jagdflieger kreisen im Himmel über Sarajevo. Aber über jede Gegenwart in diesem Roman fallen die Schatten der frühen Erinnerungen, an die letzten Kriegsjahre und an die Revolution 1956. Und András Szabad hat eine unklare Krankheitsdiagnose im Leib.
Schauen wir uns die Kindheitserinnerung an den Pfau genauer an. Was hat es mit dem deutschen Oberst auf sich, der die Vornamen Goethes trägt? Er hatte den Pfau von Zigeunern requiriert, ehe er diese hat liquidieren lassen, und der Mutter des Erzählers geschenkt. Warum ist der Armlehnstuhl im Zimmer blutig? Weil der Deutsche, das Kriegsende vor Augen, sich soeben erschossen hat. Was hat die Panik des Kindes ausgelöst? András Szabad wird es später im Verlauf des Romans seiner großen Liebe, der Pianistin Eva Zárai, erzählen: weil der Pfau ihm die Augen aushacken wollte.
Attila Bartis teilt das Zugleich von Schriftsteller und Fotograf mit seinem ungarischen Landsmann Péter Nádas, dessen Roman „Aufleuchtende Details“ im Herbst auf Deutsch erschienen ist. Darin bettet Nadás in minutiöser Rekonstruktion und aus dem Einfallswinkel seiner individuellen Existenz die Geschichte seiner Familie in die Katastrophenlandschaft Europas im zwanzigsten Jahrhundert ein.
Nádas ist ein Jahr älter als der Held in „Das Ende“, auch bei ihm gibt es eine früheste Kindheitserinnerung, an ein Treppenhaus in Budapest. Aus diesem Bild gehen die letzten Kriegsjahre, geht die Welt der Nomenklatura der kommunistischen Partei im Ungarn der Nachkriegszeit hervor, der die Eltern des Erzählers angehören. Und auch hier stecken in den Kindern einer Familie die gebrannten Kinder einer Epoche der hochfahrenden Utopien und der grenzenlosen Gewalt.
Der Roman von Attila Bartis steht dem von Nádas selbständig und mit einem eigenen Einfallswinkel gegenüber. Nadas berichtet aus der Innenwelt einer jüdischen Familie. Die Welt, in der Andrász Szabad aufgewachsen ist, gehört zum christlich-katholischen Ungarn. Die in den Kriegswirren unterbliebene Taufe des Kindes wird im sozialistischen Ungarn nachgeholt. Der Bruder der Mutter wird in einer bestialischen Aktion der ungarischen Pfeilkreuzler mit der jüdischen Mutter seines Kindes und dem Säugling ermordet. Das Verhängnis aber, das über der Familie liegt, ist, wie bei Nádas, das Scheitern der ungarischen Revolution des Jahres 1956.
In ihrer Folge wird der Vater verhaftetet, weil er vor den russischen Panzern Teller verstreut hat, die kaum ein Panzerfahrer im Ernst mit Tellerminen verwechselt haben wird. Er verschwindet für drei Jahre im Gefängnis und muss danach in einer Gummifabrik arbeiten, die Mutter verliert ihre Stelle als Bibliothekarin und hält die Familie als Näherin über Wasser.
Fast überlappen sich der Tod der Mutter und die Haftentlassung des Vaters, leises Aufatmen und tiefer Abschwung. Das Porträt der Kádar-Ära, das hier im Blick auf die Innenwelt eines Heranwachsenden entsteht, ist bedrängend, gerade weil die Zeitgeschichte ganz im Hintergrund bleibt und sich der Staat nur gelegentlich, wenn ein Polizeiauto vor dem Haus hält und man nicht weiß, wer darin verschwinden wird, als eine der heimlichen Hauptfiguren des Romans zu erkennen gibt. Er wird es bis über das Ende des Sozialismus hinaus bleiben, wenn auf den längst verstorbenen Vater der Verdacht fällt, er sei nicht nur Opfer des Staatsapparates, sondern auch dessen Informant gewesen.
Das Zwielicht gibt es in diesem Roman aber nur im Stoff, nicht im Stil. Die klare, vollkommen unpathetische Prosa, in der Attila Bartis seine Figuren zur Darstellung bringt, rivalisiert mit der Art von Fotografie, die sein Held von Kindheit an obsessiv betreibt, schon als er die Kamera auf die tote Mutter richtet, ohne zu wissen, dass sie keine Film enthält. Große Distanz wahrt diese Prosa zu allen Metaphern, sie ähnelt der dokumentarischen Seite der Schwarzweiß-Fotografie und zugleich dem surrealen Glanz, der in ihr enthalten sein kann. Ausgerechnet der jüdische Inhaber des Passfoto-Ateliers, in dem der junge András eine Anstellung findet, entwickelt die Theorie, Christus selbst sei der vom Grabtuch von Turin bezeugte Erfinder aller Menschenfotografie.
Zu nicht geringen Teilen besteht das Werk des Fotografen András Szabat aus Aktfotografie. Das Zugleich aus Melancholie und Lebenshunger, das in ihm herrscht, macht aus der Romanfigur, als die er dem Leser gegenübertritt, ein Laboratorium, in dem Sex und Liebe mal explosiv zusammengeführt, mal nicht minder explosiv voneinander geschieden werden. Aus diesem Laboratorium gehen die Bilder hervor, die ihn nach der Wende zu einem international gefragten Star der Fotografie-Szene machen.
Zur hinreißenden Liebesgeschichte entwickelt sich die bei einem Voyeurs- Foto entstandene Beziehung zur Pianistin Eva Zárai, sie gehört zu den Schlüsselfiguren, die im Werk von Attila Bartis Ungarn vor 1989 verlassen.
„Liebe, Mondlandung, Kunst, Ballett im Sumpf“ waren die letzten Worte in seinem Erstling „Der Spaziergang“. Durch alle seine Romane geistern die Kosmonauten, fällt Mondlicht. „Wir hatten Gagarin, aber Gagarin hatte auch uns“, so lautet ein Vers des 1963 geborenen deutschen Lyrikers Lutz Seiler. Attila Bartis lässt seinen Fotografen in der Welt der Erwachsenen ankommen, aber die Bilder Gagarins, der 1961 ins All flog, und die an sie geknüpfte Utopie der Schwerelosigkeit wird er nicht los. Eine der dichtesten Engführungen dieses Romans geht daraus hervor, die Verknüpfung eines Goya-Bildes, in dem der Himmel auf dem Kopf eines Hundes lastet, mit der Hündin Laika, die vor Gagarin ins All flog und dort starb, und der Kamera des Fotografen, der im Alter von zwei Jahren fast sein Augenlicht verloren hatte: „Eine der enttäuschendsten Augenblicke meines Lebens war vermutlich, als ich meinen Fotoapparat streichelte. Ich sagte zu ihm: Ruhig, Laika. Andererseits war es auch eine verständliche Geste. Es gibt Gegenstände, die Sicherheit verleihen. Nicht aufgrund ihres Nutzens oder ihres Werts, sondern wegen gewisser menschlicher Eigenschaften, die sie besitzen. Eine Leica zum Beispiel ist verlässlich. Berechenbar. Sie lässt einen nicht im Stich. Kann sein, dass sie einmal kaputtgeht, aber sie suggeriert es nicht wochen-oder monatelang vorher. Sie hält einen nicht in Angst gefangen. Mehr noch, es kam vor, dass sie jemandem das Leben rettete. Wir wissen von mehr als einem Fall, in dem der Fotoapparat die Kugel abfing.“
Terézia Mora hat den Roman „Die Ruhe“ in eine deutsche Prosa übertragen, deren Glanz aus der Verbindung von schmuckloser Einfachheit und suggestiver Bildlichkeit hervorgeht.
Über jede Gegenwart in diesem
Roman fallen die Schatten
der frühen Erinnerungen
Attila Bartis: Das Ende. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 751 Seiten, 32 Euro. E-Book 27,99 Euro.
Kamerauge und
Kunst des Romans:
Der ungarische
Autor und Fotograf
Attila Bartis.
Foto: Alberto Cristofari/laif
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Meisterlich" findet Rezensentin Judith Leister Attila Bartis' Vermögen, in "karger" und zugleich "eruptiver" Sprache die unaussprechlichen Gräuel nach dem gescheiterten Ungarnaufstand von 1956 zu schildern. Sie folgt hier dem Protagonisten Andras, der als Kind erlebt, wie der Vater als Widerständler inhaftiert wird und die Mutter an Krebs stirbt, liest, wie Andras mit neorealistischen Fotografien eine eigene Form des Widerstands entdeckt und seine Liebe zu der Pianistin Eva an der Sphäre des Misstrauens scheitert. Wie Bartis der realsozialistischen Wirklichkeit eine zweite, "subtile" Ebene ablauscht, hat die Kritikerin beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Fünfzehn Jahre hat Attila Bartis an seinem Roman gearbeitet. Entstanden ist ein Meisterwerk, erzählt mit dem dunklen Blick eines Fotografen.« Lennart Laberenz der Freitag 20180301