In seiner dritten Essaysammlung nimmt uns Jonathan Franzen mit auf ferne Kontinente, in Wüsten, auf tropische Inseln, ja sogar auf eine Luxuskreuzfahrt in die Antarktis. Allein auf Deck, bei rauem Wind und eisiger Kälte, ausgestattet mit seinem Fernglas und viel Geduld, hält er Ausschau nach dem, was es in wenigen Jahren wohl nicht mehr geben wird: Kaiserpinguine, die auf Eisbergen stehen. Und er erinnert sich an seinen verstorbenen Onkel Walt - einen Mann, der trotz schwerer Schicksalsschläge niemals aufhörte, das Leben zu lieben. - Einsichten eines der größten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart, der mit sich selber ringt. Und mit einigen der wichtigsten Themen unserer Zeit. Klug, aufrüttelnd und notwendig.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2019An der
Deadline
In seinem neuen Essayband
„Das Ende vom Ende der Welt“
fordert der Romanautor, Erzähler
und Birdwatcher Jonathan Franzen
die Klimaapokalyptiker heraus
VON FELIX STEPHAN
Der Schriftsteller Jonathan Franzen beginnt seine Essay-Sammlung „Das Ende vom Ende der Welt“, indem er das offen zutage liegende Problem des Buches direkt anspricht: die Form des Essays selbst. Zur Erinnerung: Der Essay verlegt das Argument eines Autor von der Ebene der Rhetorik auf die Ebene der individuellen Anschauung, der Assoziation und Introspektion. Als Michel de Montaigne 1580 seine „Essais“ veröffentlichte, war dieses Vorgehen an sich schon eine rebellische Geste. Wenn die Welt von Gott geordnet und diese Ordnung von der Kirche instand gehalten wird, welchen Erkenntnisgewinn sollte es dann bringen, wenn sich ein Einzelner selbst beim Denken zuschaut? Die Regeln lagen auf dem Tisch, was gab es da zu diskutieren?
Heute hingegen, im Zeitalter der sozialen Medien, ist die Situation genau umgekehrt: „Die Grundannahme sozialer Medien besteht darin“, schreibt Franzen, „dass noch das winzigste subjektive Mikronarrativ es wert ist, nicht nur privat, wie in einem Tagebuch, notiert, sondern auch mit anderen geteilt zu werden.“ In der Kulturkritik und im Journalismus habe das subjektive Erleben das Argument schon weitgehend verdrängt, in der Literatur der authentische Bericht wie bei Rachel Cusk oder Karl Ove Knausgård die Imagination abgelöst. Der traditionelle Essay werde heute nur noch von Zeitschriften gepflegt, „die zusammen weniger Leser haben als Margaret Atwood Follower auf Twitter“.
Die Frage sei nun, ob der Essay deshalb ausgestorben oder im Gegenteil allgegenwärtig sei. Die Antwort findet Franzen bei Kierkegaard. In „Entweder – Oder“ habe sich Kierkegaard über den „geschäftigen Menschen“ lustig gemacht, der ständig etwas zu erledigen hat und sich deshalb nicht um die wichtigen Fragen kümmern kann, etwa eine ehrliche Selbsteinschätzung. Vor dem Hintergrund dieser Idee, so Franzen, „kommen einem all diese subjektiven Tweets und hastigen Blogposts gar nicht so essayistisch vor. Eher scheinen sie ein Weg zu sein, das zu umgehen, was ein richtiger Essay uns zumuten könnte.“
Diese Haltung ist Jonathan Franzen schon einige Male zum Verhängnis geworden. Zum Selbstverständnis der Social-Media-Stars gehört die Auffassung, dass sie in einem hierarchischen Medienunternehmen, in Verlagen und Redaktionen, in denen Texte vor der Veröffentlichung geprüft werden, nie auf dieselbe Weise Gehör gefunden hätten wie in den sozialen Medien, die theoretisch jedem einen gleichwertigen Kanal zur Verfügung stellen.
Bei verschiedenen Anlässen, etwa als Franzen seine „Zehn Regeln für den Romanautor“ veröffentlichte und dort unter anderem dazu riet, das Internet abzustellen, organisierte sich der Schwarm gegen ihn, machte sexistische Passagen in seinen Romanen ausfindig, verbreitete sie eifrig, stigmatisierte ihn als Millionär und weißen Mann, der sich seiner Privilegien nicht bewusst sei. Er selbst sei nicht in den sozialen Medien unterwegs, schreibt er jetzt, aber Freunde hätten ihm zugetragen, was dort über ihn zu lesen war. Und: „Es funktionierte. Ohne diese Salven auch nur zu lesen – einzig im Bewusstsein, dass andere sie lasen –, schämte ich mich. Ich fühlte mich, wie ich mich in der achten Klasse gefühlt hatte – von den anderen gemieden und mit Namen bedacht, die mich nicht hätten verletzen sollen, es aber taten.“
Die heftigsten Angriffe hatte Franzen auszustehen, nachdem er im New Yorker einen Essay veröffentlicht hatte, in dem er sich an einer Unterscheidung zwischen Klimaschutz und Umweltschutz versuchte. Klimaschutz sei eschatologisch, schreibt Franzen: Man glaube an einen jüngsten Tag, den man hinauszuzögern hoffe. Naturschutz aber sei franziskanisch: Man schütze etwas, das man liebt, etwas in unmittelbarer Nähe, und man sehe unmittelbar das Ergebnis. Selbst Umweltorganisationen aber hätten sich in ihren Kampagnen heute auf die eschatologische Orthodoxie des Klimaschutzes verlegt, weil das in den liberalen Medien größere Aufmerksamkeit garantiere. Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick kleinkrämerisch, auf diese Unterscheidung zu bestehen, bei näherem Hinsehen aber ist sie fundamental. Sie bezeichnet den Unterschied zwischen puritanischem und liberalem Denken.
Für Jonathan Franzen bedeutete diese Unterscheidung aber erst einmal, unter anderem die amerikanische Vogelschutzorganisation „National Audubon Society“ anzugreifen, deren Mitglied er war, und außerdem zahlreiche Klimaaktivisten, mit denen er eigentlich viele gemeinsame Interessen teilte. Die National Aubudon Society hatte behauptet, der Klimawandel sei die größte Bedrohung für die Artenvielfalt unter den Vögeln. In Wahrheit aber, schreibt Franzen, seien die größten Gefahren für amerikanische Vögel in jenem Jahr der Verlust ihres Habitats und frei herumlaufende Katzen gewesen. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf den Vogelbestand habe, sei hingegen völlig unklar. Kein einziger Vogeltod könne unmittelbar auf menschlichen CO&sub2;-Ausstoß zurückgeführt werden.
Vielleicht könnten sich Vögel besser an die veränderten Bedingungen anpassen, als man allgemein erwarte, vielleicht vergrößere sich die Artenvielfalt sogar. Genau wisse das niemand. Weil es aber mehr Aufmerksamkeit garantierte, hatte sich auch die Audubon Society auf die Klimaapokalyptik verlegt, statt beispielsweise dafür zu kämpfen, Naturschutzparks zu verteidigen, von denen die Vögel konkret profitieren könnten. „Der einzige praktische Effekt von Audubons Erklärung, so schien mir, bestand darin, Menschen im Kampf gegen die realen Gefahren, denen die Natur gegenwärtig ausgesetzt ist, zu entmutigen.“
Während Franzen den Artikel schrieb, machte er eine Erfahrung, die Essayisten, wenn sie es ernst meinen, so gut wie nie erspart bleibt: „Für einen Schriftsteller ist der Essay ein Spiegel, und mir gefiel nicht, was ich in ihm sah.“ Ihn beschlichen Zweifel bezüglich seiner Motivation, der Wahl seiner Gegner, der Priorisierung seiner Anliegen. Sei es nicht obszön, über Vögel zu schreiben, wenn Kindern in Bangladesch Gefahr drohe? Nach drei durchgrübelten Nächten rief er in der Redaktion an und sagte den Text ab. Der Redakteur bekniete ihn, Franzen schrieb den Text doch und handelte sich den erwarteten Ärger seiner Alliierten ein.
Aus diesem Schlüsselerlebnis sind fast alle anderen Essays in diesem Buch hervorgegangen. Der Eindruck ist, dass es einen erheblichen Ehrgeiz freigesetzt hat und Franzen mit seinem neuen Buch den größten und ungreifbarsten Gegenstand niedergerungen hat, mit dem er es je zu tun hatte: das Nature Writing im Spätanthropozän. Das ist für Franzen, den Meister des auktorialen Gesellschaftsromans, ein entschieden neuer Ansatz, eine brutale Neuerfindung des eigenen Schreibens. Aus der Traditionslinie von Thomas Mann und Henry James ist er in die von J. A. Baker und Annie Dillard hinübergewechselt. Diese Metamorphose gelingt ihm scheinbar völlig mühelos. Die Prosa ist über die gesamte Strecke hinweg auf einsamem Niveau, das Buch liest sich, als hätte Franzen nie etwas anderes geschrieben.
Den größten Teil des Buches verbringt man damit, Franzen auf Individualreisen durch Ghana, Jamaika, Albanien, Ägypten, Costa Rica, die Antarktis und einige andere Orte zu begleiten, an denen er einerseits Vögel beobachtet und andererseits eine eigene Naturphilosophie entwickelt.
Er porträtiert Umweltschützer, die in Costa Rica einen Nationalpark vor Plünderern gerettet haben, indem sie die Nachbarn mit der Pflege betrauten, woraufhin diese ein Gefühl dafür entwickelten, dass der Nationalpark nicht der Regierung gehört, sondern ihnen. Er porträtiert Jäger in Albanien und Ägypten, die Zugvögel, für die in der EU millionenschwere Schutzprogramme aufgelegt wurden, zu Hunderttausenden vom Himmel holen. Ein Essay handelt von den Lummen, die auf kalifornischen Inseln brüten und nur knapp vor der Ausrottung bewahrt wurden, ein anderer von endemischen Vogelarten in der Karibik. Trotzdem ist keiner dieser Texte reine Reportage, weil sie sich letztlich immer um die Frage drehen, was eigentlich genau vor sich geht, wenn sich der Mensch seiner selbst bewusst wird, indem er die Natur betrachtet.
Das Anliegen dieser Essays besteht darin, den apokalyptischen Klimaaktivisten einen milderen Ton zur Seite zu stellen, weniger melodramatisch, weniger abgesichert, dafür subjektiver und nachdenklicher. Immer wieder kommt er auf das Schuldbewusstsein zurück, das ihn plagt, weil er eine Liste der Vögel führt, die er schon gesehen hat. Am Ende des Jahres zieht er Bilanz. In der Welt der Vogelbeobachter gilt er damit als „Lister“ und den anderen Vogelbeobachtern, die der Leidenschaft aus reinem Vergnügen nachgehen, moralisch unterlegen, was ihn einigermaßen fertigmacht. Das ist genau die Art von beharrlicher Selbstbespiegelung im Angesicht des Infernos, die man, wenn einem daran gelegen ist, leicht als dekadente Luxusneurose missverstehen kann. Gemessen an den Reaktionen ist die Einführung des Subjekts in die Klimadebatte heute aber wieder fast so waghalsig, wie sie es einst bei Montaigne gewesen ist.
In der Orthodoxie der Klimaaktivisten kommt der Mensch nur als Verunreinigung und Mängelwesen vor, der protestantische Ehrgeiz äußert sich schon in dem Wort „Klimasünder“. Dieser Tonlage versucht Jonathan Franzen nun einen Menschen entgegenzusetzen, der auch im Anthropozän ein Mensch bleibt: idealistisch, widersprüchlich, irrational und gerade deshalb zur Liebe fähig. „Die Tiere können uns nicht dafür danken, dass wir sie am Leben erhalten, und sie würden bestimmt nicht das Gleiche für uns tun, wären die Rollen vertauscht. Aber wir, nicht sie, sind diejenigen, für die das Leben einen Sinn haben muss.“
Vielleicht legt Franzen deshalb so viel Wert darauf, sich physisch und konkret in der Natur aufzuhalten: Dass sie lebt, erschließt sich erst dann richtig, wenn man ihr beim Sterben zusieht. Auf diese Weise entsteht eine gewisse Schicksalsgemeinschaft zwischen der Natur und dem, der sie betrachtet: Als seine Reise in die Antarktis bevorsteht und sich endlich die langersehnte Chance ergibt, Königspinguine zu sehen, hat Franzen „das Gefühl, keine Vorfreude zustande zu bringen. Vielleicht lag es daran, dass mich die Antarktis an den Tod denken ließ – an den ökologischen Tod, mit dem die Erderwärmung sie bedrohte, oder an meinen eigenen Tod, die Deadline, wenn ich sie noch sehen wollte.“
Schon oft ist Franzen die Kritik
an Tweets und Blogspots
zum Verhängnis geworden
Die Prosa dieser Essays ist über
die gesamte Strecke hinweg
auf einsamem Niveau
Dass die Natur lebt, erschließt
sich erst richtig, wenn
man ihr beim Sterben zusieht
Foto: dpa
Jonathan Franzen:
Das Ende vom Ende der Welt. Essays. Aus dem
Englischen von Bettina
Abarbanell und Wieland Freund. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
251 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Deadline
In seinem neuen Essayband
„Das Ende vom Ende der Welt“
fordert der Romanautor, Erzähler
und Birdwatcher Jonathan Franzen
die Klimaapokalyptiker heraus
VON FELIX STEPHAN
Der Schriftsteller Jonathan Franzen beginnt seine Essay-Sammlung „Das Ende vom Ende der Welt“, indem er das offen zutage liegende Problem des Buches direkt anspricht: die Form des Essays selbst. Zur Erinnerung: Der Essay verlegt das Argument eines Autor von der Ebene der Rhetorik auf die Ebene der individuellen Anschauung, der Assoziation und Introspektion. Als Michel de Montaigne 1580 seine „Essais“ veröffentlichte, war dieses Vorgehen an sich schon eine rebellische Geste. Wenn die Welt von Gott geordnet und diese Ordnung von der Kirche instand gehalten wird, welchen Erkenntnisgewinn sollte es dann bringen, wenn sich ein Einzelner selbst beim Denken zuschaut? Die Regeln lagen auf dem Tisch, was gab es da zu diskutieren?
Heute hingegen, im Zeitalter der sozialen Medien, ist die Situation genau umgekehrt: „Die Grundannahme sozialer Medien besteht darin“, schreibt Franzen, „dass noch das winzigste subjektive Mikronarrativ es wert ist, nicht nur privat, wie in einem Tagebuch, notiert, sondern auch mit anderen geteilt zu werden.“ In der Kulturkritik und im Journalismus habe das subjektive Erleben das Argument schon weitgehend verdrängt, in der Literatur der authentische Bericht wie bei Rachel Cusk oder Karl Ove Knausgård die Imagination abgelöst. Der traditionelle Essay werde heute nur noch von Zeitschriften gepflegt, „die zusammen weniger Leser haben als Margaret Atwood Follower auf Twitter“.
Die Frage sei nun, ob der Essay deshalb ausgestorben oder im Gegenteil allgegenwärtig sei. Die Antwort findet Franzen bei Kierkegaard. In „Entweder – Oder“ habe sich Kierkegaard über den „geschäftigen Menschen“ lustig gemacht, der ständig etwas zu erledigen hat und sich deshalb nicht um die wichtigen Fragen kümmern kann, etwa eine ehrliche Selbsteinschätzung. Vor dem Hintergrund dieser Idee, so Franzen, „kommen einem all diese subjektiven Tweets und hastigen Blogposts gar nicht so essayistisch vor. Eher scheinen sie ein Weg zu sein, das zu umgehen, was ein richtiger Essay uns zumuten könnte.“
Diese Haltung ist Jonathan Franzen schon einige Male zum Verhängnis geworden. Zum Selbstverständnis der Social-Media-Stars gehört die Auffassung, dass sie in einem hierarchischen Medienunternehmen, in Verlagen und Redaktionen, in denen Texte vor der Veröffentlichung geprüft werden, nie auf dieselbe Weise Gehör gefunden hätten wie in den sozialen Medien, die theoretisch jedem einen gleichwertigen Kanal zur Verfügung stellen.
Bei verschiedenen Anlässen, etwa als Franzen seine „Zehn Regeln für den Romanautor“ veröffentlichte und dort unter anderem dazu riet, das Internet abzustellen, organisierte sich der Schwarm gegen ihn, machte sexistische Passagen in seinen Romanen ausfindig, verbreitete sie eifrig, stigmatisierte ihn als Millionär und weißen Mann, der sich seiner Privilegien nicht bewusst sei. Er selbst sei nicht in den sozialen Medien unterwegs, schreibt er jetzt, aber Freunde hätten ihm zugetragen, was dort über ihn zu lesen war. Und: „Es funktionierte. Ohne diese Salven auch nur zu lesen – einzig im Bewusstsein, dass andere sie lasen –, schämte ich mich. Ich fühlte mich, wie ich mich in der achten Klasse gefühlt hatte – von den anderen gemieden und mit Namen bedacht, die mich nicht hätten verletzen sollen, es aber taten.“
Die heftigsten Angriffe hatte Franzen auszustehen, nachdem er im New Yorker einen Essay veröffentlicht hatte, in dem er sich an einer Unterscheidung zwischen Klimaschutz und Umweltschutz versuchte. Klimaschutz sei eschatologisch, schreibt Franzen: Man glaube an einen jüngsten Tag, den man hinauszuzögern hoffe. Naturschutz aber sei franziskanisch: Man schütze etwas, das man liebt, etwas in unmittelbarer Nähe, und man sehe unmittelbar das Ergebnis. Selbst Umweltorganisationen aber hätten sich in ihren Kampagnen heute auf die eschatologische Orthodoxie des Klimaschutzes verlegt, weil das in den liberalen Medien größere Aufmerksamkeit garantiere. Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick kleinkrämerisch, auf diese Unterscheidung zu bestehen, bei näherem Hinsehen aber ist sie fundamental. Sie bezeichnet den Unterschied zwischen puritanischem und liberalem Denken.
Für Jonathan Franzen bedeutete diese Unterscheidung aber erst einmal, unter anderem die amerikanische Vogelschutzorganisation „National Audubon Society“ anzugreifen, deren Mitglied er war, und außerdem zahlreiche Klimaaktivisten, mit denen er eigentlich viele gemeinsame Interessen teilte. Die National Aubudon Society hatte behauptet, der Klimawandel sei die größte Bedrohung für die Artenvielfalt unter den Vögeln. In Wahrheit aber, schreibt Franzen, seien die größten Gefahren für amerikanische Vögel in jenem Jahr der Verlust ihres Habitats und frei herumlaufende Katzen gewesen. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf den Vogelbestand habe, sei hingegen völlig unklar. Kein einziger Vogeltod könne unmittelbar auf menschlichen CO&sub2;-Ausstoß zurückgeführt werden.
Vielleicht könnten sich Vögel besser an die veränderten Bedingungen anpassen, als man allgemein erwarte, vielleicht vergrößere sich die Artenvielfalt sogar. Genau wisse das niemand. Weil es aber mehr Aufmerksamkeit garantierte, hatte sich auch die Audubon Society auf die Klimaapokalyptik verlegt, statt beispielsweise dafür zu kämpfen, Naturschutzparks zu verteidigen, von denen die Vögel konkret profitieren könnten. „Der einzige praktische Effekt von Audubons Erklärung, so schien mir, bestand darin, Menschen im Kampf gegen die realen Gefahren, denen die Natur gegenwärtig ausgesetzt ist, zu entmutigen.“
Während Franzen den Artikel schrieb, machte er eine Erfahrung, die Essayisten, wenn sie es ernst meinen, so gut wie nie erspart bleibt: „Für einen Schriftsteller ist der Essay ein Spiegel, und mir gefiel nicht, was ich in ihm sah.“ Ihn beschlichen Zweifel bezüglich seiner Motivation, der Wahl seiner Gegner, der Priorisierung seiner Anliegen. Sei es nicht obszön, über Vögel zu schreiben, wenn Kindern in Bangladesch Gefahr drohe? Nach drei durchgrübelten Nächten rief er in der Redaktion an und sagte den Text ab. Der Redakteur bekniete ihn, Franzen schrieb den Text doch und handelte sich den erwarteten Ärger seiner Alliierten ein.
Aus diesem Schlüsselerlebnis sind fast alle anderen Essays in diesem Buch hervorgegangen. Der Eindruck ist, dass es einen erheblichen Ehrgeiz freigesetzt hat und Franzen mit seinem neuen Buch den größten und ungreifbarsten Gegenstand niedergerungen hat, mit dem er es je zu tun hatte: das Nature Writing im Spätanthropozän. Das ist für Franzen, den Meister des auktorialen Gesellschaftsromans, ein entschieden neuer Ansatz, eine brutale Neuerfindung des eigenen Schreibens. Aus der Traditionslinie von Thomas Mann und Henry James ist er in die von J. A. Baker und Annie Dillard hinübergewechselt. Diese Metamorphose gelingt ihm scheinbar völlig mühelos. Die Prosa ist über die gesamte Strecke hinweg auf einsamem Niveau, das Buch liest sich, als hätte Franzen nie etwas anderes geschrieben.
Den größten Teil des Buches verbringt man damit, Franzen auf Individualreisen durch Ghana, Jamaika, Albanien, Ägypten, Costa Rica, die Antarktis und einige andere Orte zu begleiten, an denen er einerseits Vögel beobachtet und andererseits eine eigene Naturphilosophie entwickelt.
Er porträtiert Umweltschützer, die in Costa Rica einen Nationalpark vor Plünderern gerettet haben, indem sie die Nachbarn mit der Pflege betrauten, woraufhin diese ein Gefühl dafür entwickelten, dass der Nationalpark nicht der Regierung gehört, sondern ihnen. Er porträtiert Jäger in Albanien und Ägypten, die Zugvögel, für die in der EU millionenschwere Schutzprogramme aufgelegt wurden, zu Hunderttausenden vom Himmel holen. Ein Essay handelt von den Lummen, die auf kalifornischen Inseln brüten und nur knapp vor der Ausrottung bewahrt wurden, ein anderer von endemischen Vogelarten in der Karibik. Trotzdem ist keiner dieser Texte reine Reportage, weil sie sich letztlich immer um die Frage drehen, was eigentlich genau vor sich geht, wenn sich der Mensch seiner selbst bewusst wird, indem er die Natur betrachtet.
Das Anliegen dieser Essays besteht darin, den apokalyptischen Klimaaktivisten einen milderen Ton zur Seite zu stellen, weniger melodramatisch, weniger abgesichert, dafür subjektiver und nachdenklicher. Immer wieder kommt er auf das Schuldbewusstsein zurück, das ihn plagt, weil er eine Liste der Vögel führt, die er schon gesehen hat. Am Ende des Jahres zieht er Bilanz. In der Welt der Vogelbeobachter gilt er damit als „Lister“ und den anderen Vogelbeobachtern, die der Leidenschaft aus reinem Vergnügen nachgehen, moralisch unterlegen, was ihn einigermaßen fertigmacht. Das ist genau die Art von beharrlicher Selbstbespiegelung im Angesicht des Infernos, die man, wenn einem daran gelegen ist, leicht als dekadente Luxusneurose missverstehen kann. Gemessen an den Reaktionen ist die Einführung des Subjekts in die Klimadebatte heute aber wieder fast so waghalsig, wie sie es einst bei Montaigne gewesen ist.
In der Orthodoxie der Klimaaktivisten kommt der Mensch nur als Verunreinigung und Mängelwesen vor, der protestantische Ehrgeiz äußert sich schon in dem Wort „Klimasünder“. Dieser Tonlage versucht Jonathan Franzen nun einen Menschen entgegenzusetzen, der auch im Anthropozän ein Mensch bleibt: idealistisch, widersprüchlich, irrational und gerade deshalb zur Liebe fähig. „Die Tiere können uns nicht dafür danken, dass wir sie am Leben erhalten, und sie würden bestimmt nicht das Gleiche für uns tun, wären die Rollen vertauscht. Aber wir, nicht sie, sind diejenigen, für die das Leben einen Sinn haben muss.“
Vielleicht legt Franzen deshalb so viel Wert darauf, sich physisch und konkret in der Natur aufzuhalten: Dass sie lebt, erschließt sich erst dann richtig, wenn man ihr beim Sterben zusieht. Auf diese Weise entsteht eine gewisse Schicksalsgemeinschaft zwischen der Natur und dem, der sie betrachtet: Als seine Reise in die Antarktis bevorsteht und sich endlich die langersehnte Chance ergibt, Königspinguine zu sehen, hat Franzen „das Gefühl, keine Vorfreude zustande zu bringen. Vielleicht lag es daran, dass mich die Antarktis an den Tod denken ließ – an den ökologischen Tod, mit dem die Erderwärmung sie bedrohte, oder an meinen eigenen Tod, die Deadline, wenn ich sie noch sehen wollte.“
Schon oft ist Franzen die Kritik
an Tweets und Blogspots
zum Verhängnis geworden
Die Prosa dieser Essays ist über
die gesamte Strecke hinweg
auf einsamem Niveau
Dass die Natur lebt, erschließt
sich erst richtig, wenn
man ihr beim Sterben zusieht
Foto: dpa
Jonathan Franzen:
Das Ende vom Ende der Welt. Essays. Aus dem
Englischen von Bettina
Abarbanell und Wieland Freund. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
251 Seiten, 25 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Ursula März kann durchaus bewundern, mit welcher Brillanz Jonathan Franzen den den literarischen Essay als Gattung und die Vogelwelt als Ganze verteidigt, auch wenn sie nicht unbedingt in allen Fragen seine Ansichten teilt. Als Franzens Hauptgegner macht sie zum einen die sozialen Medien aus, zum anderen die schematische Erklärung aller Umweltveränderungen mit dem Klimawandel. Das hat ihm viel Ärger eingetragen, weiß die Rezensentin, dabei ging es ihm nicht darum, den Klimawandel zu leugnen, sondern darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel das Sterben der Vögel auch mit der Unsitte in Mittelmeerländern zu tun hat, sie millionenfach abzuschießen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die Prosa dieser Essays ist über die gesamte Strecke hinweg auf einsamem Niveau. Felix Stephan Süddeutsche Zeitung 20190518