Nobelpreis für Literatur 2022
Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.
Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf? Mit schonungsloser Offenheit erzählt Annie Ernaux von ihrem eigenen Schwangerschaftsabbruch. Und von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste – und die bis heute nachhallen.
Oktober 1963: Die 23-jährige Annie entdeckt, dass sie schwanger ist. Die Studentin aus bescheidenen Verhältnissen weiß: Wenn sie ein uneheliches Kind zur Welt bringt, wird sie alles verlieren. Das hart erkämpfte Universitätsstudium, die Hoffnung, dem engen, prekären Milieu der Eltern zu entkommen. Sie ist entschlossen, die Schwangerschaft zu beenden, aber im Frankreich der 1960er Jahre ist Abtreiben illegal, und so beginnt für die junge Frau ein Spießrutenlauf, der sie von der Praxis eines überheblichen Arztes ins Hinterzimmer einer zweifelhaften Engelmacherin führt und schließlich in der Notaufnahme endet. Voller Scham versucht Annie, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und begegnet dabei überall erschreckender Gleichgültigkeit.
Wie ist es, wenn man als Frau abtreiben will und es nicht darf? Mit schonungsloser Offenheit erzählt Annie Ernaux von ihrem eigenen Schwangerschaftsabbruch. Und von den Demütigungen, Verletzungen und Stigmatisierungen, die sie dabei erleiden musste – und die bis heute nachhallen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Melanie Mühl stockt der Atem bei der Lektüre von Annie Ernaux' Buch über ihre ungewollte Schwangerschaft und Abtreibung, das nun "endlich" auf Deutsch vorliegt. Um Empfindsamkeit geht es der Autorin als allerletztes, konstatiert Mühl, und mit schockierenden Details halte sie nicht zurück: Beschrieben werde etwa, wie die damals 23-Jährige zunächst erfolglos und unter großen Schmerzen selbst versucht, den Fötus mit dicken Stricknadeln abzutreiben. Aber auch schon der "erniedrigende Spießrutenlauf" zwischen bevormundenden Ärzten der sechziger-Jahre oder die kritischen Blicke von Ernaux' Kommilitoninnen schlauchen die Rezensentin; manchmal mag sie kaum weiterblättern. Von der Wichtigkeit des Buchs, das - gerade mit Blick auf Polen - auch zwanzig Jahre nach Ersterscheinung leider nichts an Aktualität verloren hat, hat sie aber keinen Zweifel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Keine Schande
Annie Ernaux spricht in „Das Ereignis“ über eine Abtreibung
und erkämpft einmal mehr die Freiheit der literarischen Form
VON MEIKE FESSMANN
Der Weg war weit für Annie Ernaux und für die Art, wie über ihre Bücher gesprochen wird. Der Goldene Löwe beim Filmfestival Venedig für Audrey Diwans Verfilmung ihrer Erzählung „Das Ereignis“ ist nur die sichtbare Krönung eines Werks, das seit einigen Jahren große Bewunderung erfährt. Es ist bezeichnend, dass die französische Schriftstellerin in Deutschland erst durch den Erfolg von Didier Eribon und Édouard Louis berühmt wurde. Die beiden Männer mussten zugeben, dass die Methode, für die man sie feierte, von einer Frau erfunden worden war. Die 1940 in der Normandie geborene und in Yvetot aufgewachsenen Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“, als eine Schriftstellerin also, die mit der eigenen Biografie immer auch die Sitten und Gewohnheiten ihrer jeweiligen Zeit erkundet. Das macht sie schon lange so. Doch bis 2017, als ihr großartiger Roman „Die Jahre“ („Les années“, 2008) in der Übersetzung von Sonja Finck herauskam, war sie hier kaum bekannt.
Es ist eine gute Sache, wenn Themen, die plötzlich Konjunktur haben, das Augenmerk auch auf Schreibweisen lenken, die für diese Themen ausgebildet worden sind. Es geht bei Annie Ernaux immer wieder um zwei wesentliche Tatsachen ihrer Existenz: um ihre Herkunft aus einer Familie von Arbeitern und kleinen Händlern, in der sie die Erste war, die studierte. Und darum, mit einem weiblichen Körper geboren worden zu sein. Dass das nicht trivial ist, zeigt „Das Ereignis“ auf frappierende Weise.
„L’Évènement“, im französischen Original bereits im Jahr 2000 erschienen, erzählt von einer Abtreibung im Januar 1964, also unter den Bedingungen der Illegalität. Annie Ernaux, damals noch Annie Duchesne, macht keinen Hehl daraus, dass sie selbst es ist, die diese Abtreibung erlebt hat – sie, die dreiundzwanzigjährige Studentin von damals, die natürlich nicht mehr identisch ist mit der Schriftstellerin von beinahe sechzig Jahren, die diese Erzählung schrieb. Aus der Differenz zwischen dem früheren und dem gegenwärtigen Ich, der Spaltung des Ichs durch die Zeit, hat Annie Ernaux in anderen Büchern ein Formprinzip gemacht. In „Erinnerung eines Mädchens“ („Mémoire de fille“, 2016) spricht sie in der dritten Person von sich, als „sie“ („la fille“) und nicht als „ich“. „Das Ereignis“ jedoch erzählt in der ersten Person von der Frau, die sie im Oktober 1963 war, als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie wusste sofort, dass sie „das Ding“, wie sie den Fötus in ihrem Tagebuch nannte, nicht bekommen wollte. Sie rekonstruiert, dass sie auch deshalb nie von einem „Baby“ oder „Kind“ sprach, weil es nicht infrage kam, die Schwangerschaft fortzuführen.
Annie Ernaux versucht stets, möglichst exakt an die Stelle ihrer Biografie – oder in „Der Platz“ und „Eine Frau“ der Biografie ihrer Eltern – zurückzukehren, über die sie schreibt. Sie versenkt sich in Bilder, die aus ihrer Erinnerung auftauchen, sie spürt einem Gefühl nach, findet Worte wieder, die sich eingeprägt haben. Etwa den aufgeschnappten Satz über eine junge Frau, die eine Fehlgeburt erlitt: „sie hat die ganze Nacht gewimmert“. „Das Mädchen“ erzählte von ihrer ersten Liebe und den körperlichen Folgen, die es hatte, als der Mann, mit dem sie schlief, sie danach einfach ignorierte. Die Fachbegriffe dafür wären Anorexie und Bulimie. Dabei ist es das Zusammenspiel von Ich und Welt, auf das sie das Augenmerk lenkt, indem sie die Codes der Zeit einkalkuliert. Sie weiß, dass das Ich niemals im luftleeren Raum schwebt, dass es immer nur tun kann, was Sitten und Umstände ermöglichen.
Annie Ernaux’ Stil ist nüchtern, distanziert. Sie vermeidet alles, was sich nach weiblichen Klischees anhört, auch wenn sie über weibliche Körpererfahrung schreibt. Zwei große Konzepte spielen in dieser Erzählung eine Rolle: „Erfahrung“ und „Ereignis“. Zwei Formen subjektiven Erlebens, die sie durch ihren Stil so weit abstrahiert, dass sie den Anschein des Objektiven erhalten. Der Stoff ist der gleiche, über den beispielsweise Karin Struck in den 1970er-Jahren in „Klassenliebe“ schrieb, einem Paraderoman der „Neuen Subjektivität“. Aber Ernaux geht ganz anders damit um. Die Schlacke des Subjektiven gelangt nicht ungefiltert in ihre Prosa. Es ist ein Destillationsprozess, den sie beim Schreiben unternimmt. Anders als die 1947 in Mecklenburg geborene Karin Struck, man könnte aber auch Marlene Streeruwitz nennen, benützt Annie Ernaux die Codes der Distinktion, die Codes der „feinen Unterschiede“, wie das Pierre Bourdieu nannte, um ihre Themen zu platzieren. Sie sind bei ihr eine Frage des literarischen Stils.
Alles, was sie über die Abtreibung schreibt, ist grausam und schockierend: die Herablassung der Ärzte, wie umständlich es war, an Informationen zu kommen, der Rückzug derjenigen, die ihr helfen wollen und dann doch Angst bekommen, die fast obszöne Neugier von Kommilitonen, das Desinteresse des Studenten P., der sie geschwängert hat, der Versuch, den Fötus mit Stricknadeln abzutreiben, die gewaltsame Bergtour mit Kunstlederstiefeln im Schnee, und schließlich die dunkle Gasse im 17. Arrondissement in Paris, wo die in Rouen lebende Studentin zu einer „Engelmacherin“ geht, die sie zwei Mal aufsuchen muss, bis sich der Fötus löst und Tage später unter heftigen Krämpfen abgeht. Um nicht zu verbluten, muss sie schließlich doch ins Krankenhaus, wo neben der körperlichen Tortur eine weitere Demütigung auf sie wartet. „Ich bin doch nicht der Klempner!“, stöhnt der Arzt bei der Ausschabung, nur um sich später zu beklagen, dass sie ihm nicht gesagt habe, dass sie Studentin ist. Dann hätte er sie anders behandelt, als seinesgleichen.
Was der Studentin zustößt, bekommt durch das Schreiben einen Sinn. Wenn es „das Ereignis“ schon in ihrem Leben gegeben habe, dann sei sie auch verpflichtet, etwas daraus zu machen, so empfindet es die Schriftstellerin Jahrzehnte später. Was genau macht sie daraus? Ein Lehrstück? Eine Anklage? Schließlich gelten beispielsweise in Texas neuerdings wieder Gesetze, die Frauen verbieten, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
Was diese Erzählung vielmehr anstrebt, ist eine Rückeroberung der körperlichen Unversehrtheit durch die Form. Die Schilderung des Aborts auf der Toilette des Studentenwohnheims ist drastisch: „Ich drückte mit aller Kraft. Es schoss aus mir heraus wie eine Granate, das Fruchtwasser spritzte bis zur Tür. Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich musste damit bis zu meinem Zimmer laufen. Ich nahm es in eine Hand – es war seltsam schwer – und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier.“
Bei aller Drastik strahlt Ernaux’ Prosa „etwas Unsagbares von einer gewissen Schönheit“ aus, wie es einmal über ihre Zeit heißt, eine atmosphärische Mischung aus Nouvelle Vague und Noveau Roman. Das ist weniger befremdlich, als es sich anhören mag. Denn was die Schriftstellerin bei ihrer Recherche findet, ist ein gewisser Stolz. Nicht Scham, nicht Schuld, nicht Schande. Sie hat es geschafft, sich ihr Leben nicht ruinieren zu lassen – denn das hätte es für sie bedeutet, wenn aus der Studentin eine unverheiratete Mutter geworden wäre, das Stigma sozialen Versagens, das es damals war.
Dass die Erzählung mit einer Rahmenhandlung in den 1980er-Jahren beginnt, als die Lehrerin, die aus der Studentin geworden ist, mit klopfendem Herzen zu einem Aids-Test geht, zeigt, wie sehr Körper eingebunden sind in gesellschaftliche Prozesse. Die größte Furcht der schwangeren Studentin war nicht der Verlust ihres hart erkämpften sozialen Status, sondern die Angst, ihr gehe mit der Schwangerschaft ihre Intellektualität verloren. Eine weitverbreitete weibliche Furcht, von Simone de Beauvoir über Susan Sontag bis Sheila Heti. Der Stil, den Annie Ernaux ausgebildet hat, demonstriert genau dies: Schriftstellerinnen können Mütter, Geliebte, Ehefrauen, Alleinlebende und alles Mögliche sein, mit ihren intellektuellen Fertigkeiten hat das nichts zu tun. „Das Ereignis“ ist eine Kampfansage an Geschlechterklischees.
Die Schlacke des
Subjektiven gelangt nicht
ungefiltert in ihre Prosa
Annie Ernaux:
Das Ereignis.
Aus dem Französischen
von Sonja Finck.
Suhrkamp,
Berlin 2021.
104 Seiten, 18 Euro.
Auf dem Weg in die Binderei: Mitunter kommt es vor,
dass die Maschinen so ineinander verbaut sind, dass sie für das
ungeschulte Auge nicht mehr auseinanderzuhalten sind.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Annie Ernaux spricht in „Das Ereignis“ über eine Abtreibung
und erkämpft einmal mehr die Freiheit der literarischen Form
VON MEIKE FESSMANN
Der Weg war weit für Annie Ernaux und für die Art, wie über ihre Bücher gesprochen wird. Der Goldene Löwe beim Filmfestival Venedig für Audrey Diwans Verfilmung ihrer Erzählung „Das Ereignis“ ist nur die sichtbare Krönung eines Werks, das seit einigen Jahren große Bewunderung erfährt. Es ist bezeichnend, dass die französische Schriftstellerin in Deutschland erst durch den Erfolg von Didier Eribon und Édouard Louis berühmt wurde. Die beiden Männer mussten zugeben, dass die Methode, für die man sie feierte, von einer Frau erfunden worden war. Die 1940 in der Normandie geborene und in Yvetot aufgewachsenen Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“, als eine Schriftstellerin also, die mit der eigenen Biografie immer auch die Sitten und Gewohnheiten ihrer jeweiligen Zeit erkundet. Das macht sie schon lange so. Doch bis 2017, als ihr großartiger Roman „Die Jahre“ („Les années“, 2008) in der Übersetzung von Sonja Finck herauskam, war sie hier kaum bekannt.
Es ist eine gute Sache, wenn Themen, die plötzlich Konjunktur haben, das Augenmerk auch auf Schreibweisen lenken, die für diese Themen ausgebildet worden sind. Es geht bei Annie Ernaux immer wieder um zwei wesentliche Tatsachen ihrer Existenz: um ihre Herkunft aus einer Familie von Arbeitern und kleinen Händlern, in der sie die Erste war, die studierte. Und darum, mit einem weiblichen Körper geboren worden zu sein. Dass das nicht trivial ist, zeigt „Das Ereignis“ auf frappierende Weise.
„L’Évènement“, im französischen Original bereits im Jahr 2000 erschienen, erzählt von einer Abtreibung im Januar 1964, also unter den Bedingungen der Illegalität. Annie Ernaux, damals noch Annie Duchesne, macht keinen Hehl daraus, dass sie selbst es ist, die diese Abtreibung erlebt hat – sie, die dreiundzwanzigjährige Studentin von damals, die natürlich nicht mehr identisch ist mit der Schriftstellerin von beinahe sechzig Jahren, die diese Erzählung schrieb. Aus der Differenz zwischen dem früheren und dem gegenwärtigen Ich, der Spaltung des Ichs durch die Zeit, hat Annie Ernaux in anderen Büchern ein Formprinzip gemacht. In „Erinnerung eines Mädchens“ („Mémoire de fille“, 2016) spricht sie in der dritten Person von sich, als „sie“ („la fille“) und nicht als „ich“. „Das Ereignis“ jedoch erzählt in der ersten Person von der Frau, die sie im Oktober 1963 war, als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie wusste sofort, dass sie „das Ding“, wie sie den Fötus in ihrem Tagebuch nannte, nicht bekommen wollte. Sie rekonstruiert, dass sie auch deshalb nie von einem „Baby“ oder „Kind“ sprach, weil es nicht infrage kam, die Schwangerschaft fortzuführen.
Annie Ernaux versucht stets, möglichst exakt an die Stelle ihrer Biografie – oder in „Der Platz“ und „Eine Frau“ der Biografie ihrer Eltern – zurückzukehren, über die sie schreibt. Sie versenkt sich in Bilder, die aus ihrer Erinnerung auftauchen, sie spürt einem Gefühl nach, findet Worte wieder, die sich eingeprägt haben. Etwa den aufgeschnappten Satz über eine junge Frau, die eine Fehlgeburt erlitt: „sie hat die ganze Nacht gewimmert“. „Das Mädchen“ erzählte von ihrer ersten Liebe und den körperlichen Folgen, die es hatte, als der Mann, mit dem sie schlief, sie danach einfach ignorierte. Die Fachbegriffe dafür wären Anorexie und Bulimie. Dabei ist es das Zusammenspiel von Ich und Welt, auf das sie das Augenmerk lenkt, indem sie die Codes der Zeit einkalkuliert. Sie weiß, dass das Ich niemals im luftleeren Raum schwebt, dass es immer nur tun kann, was Sitten und Umstände ermöglichen.
Annie Ernaux’ Stil ist nüchtern, distanziert. Sie vermeidet alles, was sich nach weiblichen Klischees anhört, auch wenn sie über weibliche Körpererfahrung schreibt. Zwei große Konzepte spielen in dieser Erzählung eine Rolle: „Erfahrung“ und „Ereignis“. Zwei Formen subjektiven Erlebens, die sie durch ihren Stil so weit abstrahiert, dass sie den Anschein des Objektiven erhalten. Der Stoff ist der gleiche, über den beispielsweise Karin Struck in den 1970er-Jahren in „Klassenliebe“ schrieb, einem Paraderoman der „Neuen Subjektivität“. Aber Ernaux geht ganz anders damit um. Die Schlacke des Subjektiven gelangt nicht ungefiltert in ihre Prosa. Es ist ein Destillationsprozess, den sie beim Schreiben unternimmt. Anders als die 1947 in Mecklenburg geborene Karin Struck, man könnte aber auch Marlene Streeruwitz nennen, benützt Annie Ernaux die Codes der Distinktion, die Codes der „feinen Unterschiede“, wie das Pierre Bourdieu nannte, um ihre Themen zu platzieren. Sie sind bei ihr eine Frage des literarischen Stils.
Alles, was sie über die Abtreibung schreibt, ist grausam und schockierend: die Herablassung der Ärzte, wie umständlich es war, an Informationen zu kommen, der Rückzug derjenigen, die ihr helfen wollen und dann doch Angst bekommen, die fast obszöne Neugier von Kommilitonen, das Desinteresse des Studenten P., der sie geschwängert hat, der Versuch, den Fötus mit Stricknadeln abzutreiben, die gewaltsame Bergtour mit Kunstlederstiefeln im Schnee, und schließlich die dunkle Gasse im 17. Arrondissement in Paris, wo die in Rouen lebende Studentin zu einer „Engelmacherin“ geht, die sie zwei Mal aufsuchen muss, bis sich der Fötus löst und Tage später unter heftigen Krämpfen abgeht. Um nicht zu verbluten, muss sie schließlich doch ins Krankenhaus, wo neben der körperlichen Tortur eine weitere Demütigung auf sie wartet. „Ich bin doch nicht der Klempner!“, stöhnt der Arzt bei der Ausschabung, nur um sich später zu beklagen, dass sie ihm nicht gesagt habe, dass sie Studentin ist. Dann hätte er sie anders behandelt, als seinesgleichen.
Was der Studentin zustößt, bekommt durch das Schreiben einen Sinn. Wenn es „das Ereignis“ schon in ihrem Leben gegeben habe, dann sei sie auch verpflichtet, etwas daraus zu machen, so empfindet es die Schriftstellerin Jahrzehnte später. Was genau macht sie daraus? Ein Lehrstück? Eine Anklage? Schließlich gelten beispielsweise in Texas neuerdings wieder Gesetze, die Frauen verbieten, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
Was diese Erzählung vielmehr anstrebt, ist eine Rückeroberung der körperlichen Unversehrtheit durch die Form. Die Schilderung des Aborts auf der Toilette des Studentenwohnheims ist drastisch: „Ich drückte mit aller Kraft. Es schoss aus mir heraus wie eine Granate, das Fruchtwasser spritzte bis zur Tür. Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich musste damit bis zu meinem Zimmer laufen. Ich nahm es in eine Hand – es war seltsam schwer – und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier.“
Bei aller Drastik strahlt Ernaux’ Prosa „etwas Unsagbares von einer gewissen Schönheit“ aus, wie es einmal über ihre Zeit heißt, eine atmosphärische Mischung aus Nouvelle Vague und Noveau Roman. Das ist weniger befremdlich, als es sich anhören mag. Denn was die Schriftstellerin bei ihrer Recherche findet, ist ein gewisser Stolz. Nicht Scham, nicht Schuld, nicht Schande. Sie hat es geschafft, sich ihr Leben nicht ruinieren zu lassen – denn das hätte es für sie bedeutet, wenn aus der Studentin eine unverheiratete Mutter geworden wäre, das Stigma sozialen Versagens, das es damals war.
Dass die Erzählung mit einer Rahmenhandlung in den 1980er-Jahren beginnt, als die Lehrerin, die aus der Studentin geworden ist, mit klopfendem Herzen zu einem Aids-Test geht, zeigt, wie sehr Körper eingebunden sind in gesellschaftliche Prozesse. Die größte Furcht der schwangeren Studentin war nicht der Verlust ihres hart erkämpften sozialen Status, sondern die Angst, ihr gehe mit der Schwangerschaft ihre Intellektualität verloren. Eine weitverbreitete weibliche Furcht, von Simone de Beauvoir über Susan Sontag bis Sheila Heti. Der Stil, den Annie Ernaux ausgebildet hat, demonstriert genau dies: Schriftstellerinnen können Mütter, Geliebte, Ehefrauen, Alleinlebende und alles Mögliche sein, mit ihren intellektuellen Fertigkeiten hat das nichts zu tun. „Das Ereignis“ ist eine Kampfansage an Geschlechterklischees.
Die Schlacke des
Subjektiven gelangt nicht
ungefiltert in ihre Prosa
Annie Ernaux:
Das Ereignis.
Aus dem Französischen
von Sonja Finck.
Suhrkamp,
Berlin 2021.
104 Seiten, 18 Euro.
Auf dem Weg in die Binderei: Mitunter kommt es vor,
dass die Maschinen so ineinander verbaut sind, dass sie für das
ungeschulte Auge nicht mehr auseinanderzuhalten sind.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Nur keine Sentimentalitäten
Nach zwanzig Jahren erscheint "Das Ereignis" von Annie Ernaux endlich auf Deutsch, weniger aktuell ist das Abtreibungsbuch aber leider nicht geworden.
Eine Frau wird ungewollt schwanger. Sie ist dreiundzwanzig, stammt aus einer Arbeiterfamilie, lebt und studiert in Rouen, und wir schreiben das Jahr 1963. Abtreibungen sind in Frankreich per Gesetz verboten. Wer trotzdem selbst über seinen Körper und sein zukünftiges Leben bestimmt, wer sich aus welchen Gründen auch immer gegen das in ihm heranwachsende Kind entscheidet, dem droht eine Geld- oder Gefängnisstrafe. Die Frau, inzwischen längst eine berühmte Autorin zahlreicher autofiktionaler Romane, die sich als "Ethnologin ihrer selbst" bezeichnet, heißt Annie Ernaux, das Buch, das sie über ihre Abtreibung geschrieben hat und das nun auf Deutsch vorliegt, "Das Ereignis".
Vielleicht ist das Verblüffendste an dieser schmalen Erzählung, dass die Autorin keine Sekunde mit dem Gedanken spielt, dieses Kind, mit dessen Vater sie eine dahinplätschernde Fernbeziehung führt, zu bekommen. Sie malt sich nicht aus, wie es wäre, Mutter zu sein. In ihrem Tagebuch steht weder "Ich erwarte ein Kind", noch "Ich bin schwanger" "und erst recht nicht ,Schwangerschaft', auf Französisch grossesse, was wie ,grotesk' klingt. Dies hätte die Akzeptanz einer Zukunft bedeutet, die nicht eintreten würde. Es lohnt sich nicht zu benennen, was wegzumachen ich beschlossen hatte. In meinem Kalender steht ,es', ,das Ding', nur ein einziges Mal ,schwanger'." Kühl klingende Sätze, die indes nichts mit Herzlosigkeit zu tun haben, sondern Ausdruck tiefer Verzweiflung sind.
Annie Ernaux, wissenshungrig, intellektuell, ist die Erste in ihrer Familie, die studiert, sozial aufsteigt. Ihr graust vor einem stigmatisierten Leben als unverheiratete Mutter, in dem ihre geistigen Fähigkeiten verkümmern. Die Schwangerschaft trennt sie von ihren Kommilitonen, von den Frauen mit den "leeren Bäuchen". Jene, denen sie ihr Geheimnis erzählt, begegnen ihr mit voyeuristischer Neugierde. Sie betrachten Annie Ernaux, als wäre sie die Hauptdarstellerin eines Dramas mit ungewissem Ausgang. Bestürzt und fasziniert zugleich weiden sie sich an ihrem Unglück. Jean beispielsweise schlägt lachend vor, ihr gemeinsam mit Freunden eine Sonde einzuführen.
Annie Ernaux' Stil ist nüchtern, und sie erzählt so präzise, wie es ihre eigenen Erinnerungen erlauben, denen sie mit aller Kraft nachspürt. Vor schockierenden Details schreckt sie nicht zurück. Nichts liegt ihr ferner als Sentimentalität. Das Geschriebene entfaltet mitunter eine derart erschütternde Wucht, dass man zögert umzublättern, weiterzulesen. Von dem erniedrigenden Spießrutenlauf etwa auf der Suche nach jemandem, der sie von dem Fötus befreit. Statt ärztlicher Empathie dominiert im Frankreich der sechziger Jahre die Arroganz weißbekittelter Männer, die auf Frauen wie Ernaux herabblicken. Schließlich versucht sie es selbst mit dicken, metallisch blauen Stricknadeln, aber der Schmerz lässt sie rasch aufgeben.
Über Umwege gelangt sie zu einer "Engelmacherin" in Paris, die wie eine "Hexe" aussieht und den Eingriff für vierhundert Francs in ihrem Schlafzimmer vornimmt. Erst nach einem zweiten Besuch stößt sie den Fötus ab. Ernaux verliert ihn im Studentenwohnheim, wie eine Granate schießt er aus ihr heraus. "Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich nahm es in eine Hand - es war seltsam schwer - und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier."
"Das Ereignis" ist bereits vor zwanzig Jahren in Frankreich erschienen, doch die Geschichte hat nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt, im Gegenteil. Ein Blick nach Texas oder Polen, wo rigide Abtreibungsgesetze den Spielraum von Frauen existenziell begrenzen, zeigt, dass der weibliche Körper noch immer durch Paragraphen zu beherrschen versucht wird. Erst Anfang Januar protestierten Tausende von Menschen in mehreren polnischen Städten gegen das Abtreibungsverbot, das einen legalen Schwangerschaftsabbruch quasi verunmöglicht - eine junge Frau war an einem septischen Schock gestorben, weil die Ärzte nach dem Verlust des Fruchtwassers erst den Tot des Fötus abwarten wollten, bevor sie ihr halfen.
Annie Ernaux, die bei dem Abgang viel Blut verliert, muss ebenfalls ins Krankenhaus, wo ihre Gebärmutter ausgeschabt wird. Die einzige Schuld, die sie je auf dieses Ereignis bezogen empfunden habe, schreibt Ernaux, sei, dass sie aus dieser Erfahrung von Leben und Tod nichts gemacht habe - eine Schuld, die sie beglichen hat. MELANIE MÜHL
Annie Ernaux: "Das Ereignis".
Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 104 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach zwanzig Jahren erscheint "Das Ereignis" von Annie Ernaux endlich auf Deutsch, weniger aktuell ist das Abtreibungsbuch aber leider nicht geworden.
Eine Frau wird ungewollt schwanger. Sie ist dreiundzwanzig, stammt aus einer Arbeiterfamilie, lebt und studiert in Rouen, und wir schreiben das Jahr 1963. Abtreibungen sind in Frankreich per Gesetz verboten. Wer trotzdem selbst über seinen Körper und sein zukünftiges Leben bestimmt, wer sich aus welchen Gründen auch immer gegen das in ihm heranwachsende Kind entscheidet, dem droht eine Geld- oder Gefängnisstrafe. Die Frau, inzwischen längst eine berühmte Autorin zahlreicher autofiktionaler Romane, die sich als "Ethnologin ihrer selbst" bezeichnet, heißt Annie Ernaux, das Buch, das sie über ihre Abtreibung geschrieben hat und das nun auf Deutsch vorliegt, "Das Ereignis".
Vielleicht ist das Verblüffendste an dieser schmalen Erzählung, dass die Autorin keine Sekunde mit dem Gedanken spielt, dieses Kind, mit dessen Vater sie eine dahinplätschernde Fernbeziehung führt, zu bekommen. Sie malt sich nicht aus, wie es wäre, Mutter zu sein. In ihrem Tagebuch steht weder "Ich erwarte ein Kind", noch "Ich bin schwanger" "und erst recht nicht ,Schwangerschaft', auf Französisch grossesse, was wie ,grotesk' klingt. Dies hätte die Akzeptanz einer Zukunft bedeutet, die nicht eintreten würde. Es lohnt sich nicht zu benennen, was wegzumachen ich beschlossen hatte. In meinem Kalender steht ,es', ,das Ding', nur ein einziges Mal ,schwanger'." Kühl klingende Sätze, die indes nichts mit Herzlosigkeit zu tun haben, sondern Ausdruck tiefer Verzweiflung sind.
Annie Ernaux, wissenshungrig, intellektuell, ist die Erste in ihrer Familie, die studiert, sozial aufsteigt. Ihr graust vor einem stigmatisierten Leben als unverheiratete Mutter, in dem ihre geistigen Fähigkeiten verkümmern. Die Schwangerschaft trennt sie von ihren Kommilitonen, von den Frauen mit den "leeren Bäuchen". Jene, denen sie ihr Geheimnis erzählt, begegnen ihr mit voyeuristischer Neugierde. Sie betrachten Annie Ernaux, als wäre sie die Hauptdarstellerin eines Dramas mit ungewissem Ausgang. Bestürzt und fasziniert zugleich weiden sie sich an ihrem Unglück. Jean beispielsweise schlägt lachend vor, ihr gemeinsam mit Freunden eine Sonde einzuführen.
Annie Ernaux' Stil ist nüchtern, und sie erzählt so präzise, wie es ihre eigenen Erinnerungen erlauben, denen sie mit aller Kraft nachspürt. Vor schockierenden Details schreckt sie nicht zurück. Nichts liegt ihr ferner als Sentimentalität. Das Geschriebene entfaltet mitunter eine derart erschütternde Wucht, dass man zögert umzublättern, weiterzulesen. Von dem erniedrigenden Spießrutenlauf etwa auf der Suche nach jemandem, der sie von dem Fötus befreit. Statt ärztlicher Empathie dominiert im Frankreich der sechziger Jahre die Arroganz weißbekittelter Männer, die auf Frauen wie Ernaux herabblicken. Schließlich versucht sie es selbst mit dicken, metallisch blauen Stricknadeln, aber der Schmerz lässt sie rasch aufgeben.
Über Umwege gelangt sie zu einer "Engelmacherin" in Paris, die wie eine "Hexe" aussieht und den Eingriff für vierhundert Francs in ihrem Schlafzimmer vornimmt. Erst nach einem zweiten Besuch stößt sie den Fötus ab. Ernaux verliert ihn im Studentenwohnheim, wie eine Granate schießt er aus ihr heraus. "Ich sah eine kleine Babypuppe an einer rötlichen Schnur aus meiner Scheide hängen. Ich hatte keine Vorstellung davon gehabt, dass ich so etwas in mir trug. Ich nahm es in eine Hand - es war seltsam schwer - und überquerte den Flur, indem ich es zwischen meinen Schenkeln hielt. Ich war ein Tier."
"Das Ereignis" ist bereits vor zwanzig Jahren in Frankreich erschienen, doch die Geschichte hat nichts an Aktualität und Brisanz eingebüßt, im Gegenteil. Ein Blick nach Texas oder Polen, wo rigide Abtreibungsgesetze den Spielraum von Frauen existenziell begrenzen, zeigt, dass der weibliche Körper noch immer durch Paragraphen zu beherrschen versucht wird. Erst Anfang Januar protestierten Tausende von Menschen in mehreren polnischen Städten gegen das Abtreibungsverbot, das einen legalen Schwangerschaftsabbruch quasi verunmöglicht - eine junge Frau war an einem septischen Schock gestorben, weil die Ärzte nach dem Verlust des Fruchtwassers erst den Tot des Fötus abwarten wollten, bevor sie ihr halfen.
Annie Ernaux, die bei dem Abgang viel Blut verliert, muss ebenfalls ins Krankenhaus, wo ihre Gebärmutter ausgeschabt wird. Die einzige Schuld, die sie je auf dieses Ereignis bezogen empfunden habe, schreibt Ernaux, sei, dass sie aus dieser Erfahrung von Leben und Tod nichts gemacht habe - eine Schuld, die sie beglichen hat. MELANIE MÜHL
Annie Ernaux: "Das Ereignis".
Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 104 S., geb., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»In ihren schmalen Büchern steckt eine ganze Welt. Es ist eine oft brutale Welt. Ernaux' Reflexionen rütteln auf, und sie machen zornig. Sie bedeuten auch: Es darf nicht so bleiben. Das Erreichte muss verteidigt, das Mangelhafte beseitigt werden.« Mira Landwehr neues deutschland 20211216