Wilhelm Dilthey ist aufgrund seiner deskriptiv-analytischen Psychologie – im Zusammenspiel mit seinen wissenschaftstheoretischen und geistesgeschichtlichen Schriften – als ein Vorläufer der wissenschaftlichen Phänomenologie anzusehen. Da er zudem die Begriffe ›Erlebnis‹ und ›Stimmung‹ in seinen literaturgeschichtlichen Studien kategorial entwickelt hat, ist ein Bezug auf sein Werk für die philosophische Grundlagenreflexion unserer Gegenwart unverzichtbar. Das individuelle wie auch das kollektive Erlebnis ist der anthropologisch gemeinsame Nenner einer Theorie und Praxis des Verstehens, wie sie Dilthey in der Perspektivik historischer Vernunft konzipiert. Der Geschichtlichkeit von Individualität entspricht die Unendlichkeit kultureller Variation und beiden entspricht die Differenzialität von Stimmungen. Stimmungen avancieren zu einer Art transitorischem Ort, an dem die Grundbedingungen für spezifische Weltbezüge erkennbar werden – seien diese in einem individuellen oder kollektiven Imaginären verwurzelt. Entsprechend deutet Dilthey Stimmungen in der Literatur- und Philosophiegeschichte als Objektivationen des persönlichen wie des zeitgeschichtlichen Lebens, d.h. als ästhetische Verarbeitungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit einer Epoche. Due to his descriptive-analytical psychology – in combination with his writings on the theory of science and the history of thought – Wilhelm Dilthey is to be regarded as a forerunner of modern scientific phenomenology. Since he also developed the terms lived 'experience' (Erlebnis) and 'mood' (Stimmung) categorically in his literary-historical studies, a return to his work is indispensable for the fundamental philosophical reflection of our present. Individual as well as collective experience is the anthropologically common factor of a theory and practice of understanding as conceptualized by Dilthey in the perspective of historical reason. The historicity of individuality corresponds to the infinity of cultural variation and both correspond to the differentiation of moods.