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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland sehr unterschiedliche Vorstellungen von Europa. Erst in den späten fünfziger und sechziger Jahren setzte sich das Modell eines liberal-demokratischen, eines westlichen Europas durch. Die lange Zeit konkurrierenden Europakonzepte verortet Vanessa Conze sowohl politik- als auch sozialhistorisch. Nicht zuletzt geht sie der Frage nach, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Europaideen zum Nationalsozialismus und insbesondere den nationalsozialistischen Plänen einer europäischen Ordnung standen. Gerade in diesem Zusammenhang…mehr

Produktbeschreibung
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland sehr unterschiedliche Vorstellungen von Europa. Erst in den späten fünfziger und sechziger Jahren setzte sich das Modell eines liberal-demokratischen, eines westlichen Europas durch. Die lange Zeit konkurrierenden Europakonzepte verortet Vanessa Conze sowohl politik- als auch sozialhistorisch. Nicht zuletzt geht sie der Frage nach, in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Europaideen zum Nationalsozialismus und insbesondere den nationalsozialistischen Plänen einer europäischen Ordnung standen. Gerade in diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Identifikation von Europagedanken und freiheitlicher Demokratie erst das Ergebnis jüngerer politischer Entwicklungen ist und es in Deutschland bis weit in die Nachkriegszeit hinein dauerte, bis ältere antidemokratische, antiliberale oder antiwestliche Europavorstellungen überwunden waren.

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Autorenporträt
Vanessa Conze (geb. Plichta), geboren 1970, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" an der Universität Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2006

Vor- und Nachläufer
Die Entmythologisierung der europäischen Idee

Im "Niemandsland" zwischen Kriegsende und Kaltem Krieg hatten hochidealisierte Europavisionen in Deutschland Konjunktur. Alsbald standen sich gegenüber die Abendländische Bewegung mit Politikern wie Richard Jaeger und Hans-Joachim von Merkatz auf der einen Seite, die stark von ihren Präsidenten Eugen Kogon, Ernst Friedländer und Friedrich Carl von Oppenheim geprägte Europa-Union auf der anderen Seite. Sowohl die Repräsentanten des abendländischen Modells, die sich stark am Mittelalter als goldener Epoche mit christlich-katholischem und ständischem Einschlag orientierten, als auch die anfangs auf ein Europa als dritte und sozialistische Kraft setzenden Protagonisten der Europa-Union "waren indes nur chronologisch, nicht aber inhaltlich die Vorläufer des politischen Integrationsprozesses, der in den fünfziger Jahren begann. Für diesen bedurfte es des Kalten Krieges."

Mit dieser treffenden und richtungweisenden These setzt die Autorin ein. Sie kommt in ihrem Beitrag zur Entmythologisierung der europäischen Idee sowie zur Aufdeckung der Wurzeln unseres heutigen Europaverständnisses zu beachtlichen Ergebnissen. Anzulasten bleibt der Studie lediglich, daß die tiefe Verwurzelung der von ihr behandelten Ideen im 19. Jahrhundert und im Ersten Weltkrieg allzu rigide ausgeblendet bleibt, was der Interpretation deutliche Grenzen setzt; auch hätte eine Straffung der Arbeit gutgetan. Deren Ausgangspunkt ist eine Betrachtung besagter Gruppen in den fünfziger Jahren, bei der Vanessa Conze betont, daß Europa zunächst noch keineswegs als Wertegemeinschaft gesehen wurde, die - wie heute selbstverständlich - auf eine demokratische, liberale, föderalistische und den Menschenrechten verpflichtete Ordnung abzielte.

Im Vordergrund standen vielmehr höchst traditionelle, das heißt national ausgerichtete Hoffnungen Deutschlands auf ein Europa, das der am Boden liegenden Nation als Auffangstation dienen sollte. Aus einem Geflecht von konfessionellen, ständischen, elitären, imperialen, monarchistischen oder sozialistischen Vorgaben für dieses Europa verschwanden stillschweigend nur bestimmte, durch das "Dritte Reich" diskreditierte Elemente, was auch darin zum Ausdruck kam, daß sich von den vorher beherrschenden, mehr oder weniger synonym gebrauchten Schlagworten der deutschen Europavorstellungen wie "Reich", "Mitteleuropa" und "Abendland" nur die scheinbar unbelastete letzte Variante behauptete und eine erstaunliche Faszination ausübte.

Die Autorin verfolgt die Ideen, Interessen und personellen Geflechte ihrer beiden europapolitischen Gruppierungen bis in die Zeit der frühen Weimarer Republik zurück, wobei die rekonstruierten Viten führender Persönlichkeiten eine spannende Lektüre darstellen. Sie zeigt, daß insbesondere das Streben der abendländischen, zumeist von antimodernen Kräften Süd- und Westdeutschlands getragenen Bewegung über alle politischen Umbrüche hinweg frappierend konstant blieb. Deren durchgängige Verhaftung in Vorstellungen einer autoritär-hierarchischen Staats- und Gesellschaftsordnung schloß allerdings massive politische Kehrtwenden nicht aus.

Scharf kontrastierten beispielsweise Bestrebungen in der Locarno-Ära, die auf einen Ausgleich souveräner Nationen in Europa, vor allem mit Frankreich, zielten, mit der rasch folgenden Annäherung an den Nationalsozialismus. Zwar wich eine Minderheit der Abendländer im nationalsozialistischen Staat ins Exil aus, doch kooperierte deren Mehrheit - verführt durch Leitbegriffe wie "Mitteleuropa", "Drittes Reich", "Großraum" oder "Neues Europa", die mit dem eigenen gedanklichen Umfeld zusammenzupassen schienen. Daß hierbei rassenideologische Motive nicht übernommen wurden, erleichterte nach 1945 das Wiederzusammenfinden von Persönlichkeiten des Exils wie von Kollaborateuren. Es ermöglichte einen gemeinsamen neuen Start bei großer gedanklicher Kontinuität.

Das Streben der Abendländer nach einer europäischen Kultureinheit wurde mit der Verfestigung des Kalten Krieges zunächst zunehmend reaktionär, wodurch ihr ohnehin begrenzter politischer Einfluß im Zuge der Liberalisierung der Bundesrepublik schließlich dahinschmolz. Immerhin reagierten die Abendländer, indem sie ihre lange Tradition samt antiwestlicher Ausrichtung in den sechziger Jahren preisgaben. Dies ließ sie gleichsam in letzter Minute doch noch in die Reihe der Väter der Integration Europas unter westlichen Prämissen einscheren.

Erheblich vielschichtiger waren das historische Erbe und die Struktur der Mitglieder der Europa-Union. Hier fanden gleichfalls schon in der Weimarer Zeit aktive "Europäer", aber auch am Westhandel interessierte Wirtschaftskreise der späteren Bundesrepublik zusammen. Vielfach als führend erwiesen sich jedoch jene Kräfte, die aus dem westlichen Exil nach Deutschland zurückkehrten und denen es relativ rasch gelang, die Europa-Union nach hier gleichfalls zu beobachtenden Um- und Irrwegen zur Abkehr vom Weg der dritten Kraft und Hinwendung zum Westen zu veranlassen. Damit wurden mehr noch als die Abendländer auch die Anhänger der Europa-Union zu Gefolgsleuten oder Trägern der Ende der fünfziger Jahre einsetzenden "Westernisierung" und Liberalisierung der Politik der Bundesrepublik auf europapolitischer Ebene.

GÜNTER WOLLSTEIN

Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970). R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 453 S., 64,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zufrieden legt der Rezensent Günter Wollstein Vanessa Conzes Studie über deutsche Europa-Bewegungen im direkten Anschluss an den Zweiten Weltkrieg (insbesondere die "Abendländische Bewegung" und die "Europa-Union") zur Seite. Ausgangspunkt ihres Vorhabens, die europäische Idee zu "entmythologisieren", sei die Feststellung, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs als "Wertegemeinschaft" gedacht wurde, sondern eher als Nationenkonglomerat, und dass die untersuchten Europa-Bewegungen lediglich als historische, nicht aber als "inhaltliche Vorläufer" des in den fünfziger Jahren einsetzenden politischen Integrationsprozesses gelten können. Wie Conze sowohl die Ideen, Interessen und persönlichen Verquickungen als auch die Biografien der innerhalb beider Bewegungen führenden Persönlichkeiten rekonstruiert, findet der Rezensent sehr lesenswert. Dennoch hätte sich Wollstein insgesamt mehr Verknappung gewünscht. Vor allem aber findet er es schade, dass Conze die Wurzeln beider Europa-Bewegungen nur bis zu den Anfängen der Weimarer Republik zurückverfolgt (und nicht bis in das 19. Jahrhundert), was nach Meinung des Rezensenten zur Folge hat, dass es ihrer Deutung an Reichweite fehlt.

© Perlentaucher Medien GmbH