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© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Boris Sawinkows Terror-Roman „Das fahle Pferd“
Vor genau einem Jahrhundert ist Boris Sawinkows Roman „Das fahle Pferd“ erstmals erschienen, und sein Thema ist in diesen Tagen wieder hoch aktuell: Was bewegt Terroristen dazu, andere Menschen zu töten? Sawinkow war damals eine Berühmtheit, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte er Terroranschläge auf höchste Repräsentanten des Zarenreichs geplant, wurde steckbrieflich im ganzen Land gesucht, gefasst und floh aus dem Gefängnis. Den Roman schrieb er im französischen Exil, ein russischer Exilverlag in Nizza gab ihn unter dem Pseudonym W. Ropschin heraus, in Russland war er verboten. Doch wurden einzelne Exemplare ins Land geschmuggelt und heftig diskutiert.
Das Buch war damals eine Sensation; es wühlte die russischen Intellektuellen in der Endzeitstimmung der letzten Jahren der Zarenherrschaft auf. In Form eines Tagebuchs beschreibt Sawinkow die Vorbereitungen für ein letztlich erfolgreiches Attentat auf den Gouverneur von Moskau, ähnlich den Terroranschlägen, wie sie der Autor im realen Leben organisiert hat. Zwar gibt George, der Verfasser des Tagebuchs, vor, dass er ohne Gefühlsregungen töte, denn es sei „eine Tätigkeit wie jede andere auch“. Doch ist er keine seelenlose Killermaschine, denn er muss sich zwischen zwei Frauen entscheiden: Da ist die in ihn verliebte Chemikerin Erna, die die Bomben für die Anschläge baut, die er also braucht, aber gänzlich langweilig, sogar abstoßend findet. Ihre Rivalin ist die schöne jungen Jelena, die mit einem uncharmanten älteren Beamten verheiratet ist, sich von dem Terroristen, der aus seinem Handwerk keinen Hehl macht, ebenso erotisch angezogen fühlt wie er von ihr, aber ihren Ehemann nicht verlassen möchte.
Doch ist dies nur Nebensache. Im Mittelpunkt der Tagebuchaufzeichnungen stehen vielmehr die Dialoge Georges mit den Mitverschwörern. In kurzen Sätzen, atemlosen Fragen und Repliken suchen sie Begründungen für ihr Tun, auf das der Titel des Romans hinweist: Der Tod, Hölle, Pest bringende vierte Reiter in der Apokalypse des Johannes kommt auf einem „fahlen Pferd“. Seine Mitstreiter packen immer wieder Zweifel am Töten: „In wessen Namen, sag es mir, sag es mir!“ Oder: „Hinter all dem Abfall ahnen wir Gott nicht.“ Doch George möchte von Gott nichts hören: „Du redest wie ein Pfaffe!“ Ebenso wischt er die Bedenken gegen einen Angriff auf den Palast des Gouverneurs zur Seite, Bedenken, weil dabei Unbeteiligte, gar Kinder getötet werden könnten.
Er nimmt sich vor, der geliebten Jelena seine Beweggründe darzulegen: „Ich möchte ihr sagen, dass Blutvergießen das Blut nur reinigt, dass wir gegen unseren Willen töten, dass der Terror der Revolution dient und die Revolution dem Volk.“ Doch seine junge Geliebte ist offenkundig daran nicht interessiert, also schweigt er. Der Bombenwerfer Wanja dagegen erkennt einen göttlichen Auftrag; zunächst quält ihn das fünfte Gebot, dann aber kehrt er es einfach in sein Gegenteil um: „Du sollst töten, auf dass die Menschen in Gott leben, auf dass die Liebe die Welt erleuchte.“ Wanja wird nach einem missglückten Anschlag verhaftet und zum Tode verurteilt. Aus dem Gefängnis wird sein Brief an George geschmuggelt, in dem er sich vom Terror lossagt und gänzlich Gott zuwendet: „Nicht durch das Schwert, vielmehr durch die Liebe wird die Welt erlöst!“
Nicht nur Wanja, sondern auch die unglücklich in den Zyniker George verliebte Erna findet den Tod. Sie sprengt sich in die Luft, um der drohenden Festnahme zu entgehen. George rührt dies alles nicht. Er erschießt den Mann Jelenas im Duell, doch kommen beide danach nicht zusammen. George setzt sich schließlich von seiner revolutionären Zelle ab, geht aber weiter mit seinem Revolver durch sein paranoides Leben, in dem er Terrorist um des Terrors willen war, „ein steuerloses Schiff in den Fluten“. So endet dieses fiktive fulminante Tagebuch, verfasst in hartem Staccato, von Alexander Nitzberg präzise übersetzt.
Im echten Leben entsagte Sawinkow tatsächlich vorübergehend dem Terror: Er sah in der Februarrevolution 1917, die zur Abdankung des Zaren führte, eine Chance für eine gerechtere Gesellschaft, wurde sogar Vizekriegsminister im Kabinett des Sozialdemokraten Alexander Kerenski. Diese Hoffnung machte der später zur „Oktoberrevolution“ verklärte Putsch der Bolschewiken zunichte. Sawinkow versuchte, deren Regime mit Terrorakten zum Wanken zu bringen – und scheiterte. Zur Strecke wurde er gebracht durch den sowjetischen Geheimdienst GPU, bis dahin die größte Terrororganisation der Geschichte, die Zehntausende im „Klassenkampf“ ermordete. Sawinkow starb auf ungeklärte Weise 1925 in der berüchtigten Moskauer Geheimdienstzentrale Lubjanka.
„Das fahle Pferd“, in dem er sich selbst ein Denkmal gesetzt hat, ist nicht nur ein unübersehbar von Dostojewskis Auseinandersetzung mit Gut und Böse beeinflusster Polit-Psycho-Krimi, sondern enthält auch für unsere Gegenwart eine Botschaft, die frösteln macht.
THOMAS URBAN
Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen. Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Galiani Verlag, Berlin 2015, 304 Seiten. 22,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Bei seinem Erscheinen
am Ende der Zarenherrschaft
war das Buch eine Sensation
Der Abenteurer Boris Sawinkow (1879-1925). Foto: oh
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Auf einem fahlen Pferd sitzt der vierte apokalyptische Reiter. Sein Name ist Tod. Den Titel wählte Boris Sawinkow (1879 bis 1925) bewusst für seinen im Jahre 1909 erstmals erschienenen Roman. Es ist das Tagebuch eines Terroristen und offenbart nicht nur die bis heute relativ unveränderten Techniken der Gewalt, sondern auch Einblicke in die Psyche eines sich radikalisierenden Sozialrevolutionärs, seine Daseinsweise in der Anonymität der Großstadt, die durch die Konspiration erzwungene Isolation der Terrorzelle, aber auch die sehr unterschiedlichen Motive für das Morden bei den jungen Akteuren, ihre kleinen Fluchten ins private Glück, ihre Gewissensnöte, ihr Schwanken zwischen Todeswahn und Lebenshunger.
Nachdem Russland am Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine erste Welle terroristischer Gewalt erlebt hatte, bei der neben zahlreichen Regierungsvertretern auch der Zar und seine Familie getötet wurden, hatten sich die revolutionären Kräfte gespalten und größtenteils vom Terrorismus verabschiedet, denn er erzeugte nicht die erhoffte Wirkung im Volk, sondern füllte im Gegenteil nur die Gefängnisse und Straflager des Staates. Für einige von ihnen hatte sich das Morden jedoch verselbständigt, es ging nach der Revolution von 1905 nicht mehr um den gesellschaftlichen Umsturz, sondern vor allem um den symbolischen Akt der Gewalt, um Zersetzung und Verunsicherung.
Boris Sawinkow, Sohn eines Staatsanwaltes, war vermutlich einer der ersten Berufsterroristen überhaupt. In seinem gut lesbaren und sehr aufschlussreichen Nachwort zeichnet der Berliner Historiker Boris Baberowski das Leben dieses "modernen Gewaltunternehmers" nach, der vom Regimekritiker zum "Terroristen aus Leidenschaft" mutierte und jedes System ablehnte. Im Roman wird deutlich, wie sich der Erzähler von seinen aus politischer Überzeugung handelnden Mitterroristen unterscheidet: "Ich habe einen Menschen getötet ... Bisher hatte ich gute Gründe: Ich tötete im Namen des Terrors und im Namen der Revolution ... Aber jetzt töte ich einzig für mich. Ich will es so, also töte ich."
Boris Sawinkows Erzähler, in der Tradition der Nihilisten Dostojewskis stehend, erlebt das Töten, auch den Suizid, der einer Festnahme zuvorkommen soll, als blanken Akt, als geradezu ästhetische Inszenierung. Boris Sawinkow selbst, der unter anderem an der Ermordung des russischen Innenministers von Plehwe maßgeblich beteiligt war, konnte seiner eigenen Hinrichtung entkommen und aus dem Gefängnis in Odessa ins Ausland fliehen. Im Jahr 1917 kehrte er nach Russland zurück und wurde kurzzeitig Kriegsminister unter Kerenski. Als überzeugter Gegner der Bolschewiki ging er aufs Neue in die Emigration und starb schließlich nach einem Sprung aus dem Fenster des berüchtigten Moskauer Gefängnisses Lubjanka, wohin ihn der sowjetische Geheimdienst 1924 aus dem Ausland verbracht hatte. Ob Mord oder Selbstmord, lässt sich vermutlich nie mehr klären.
sber.
Boris Sawinkow: "Das fahle Pferd". Roman eines Terroristen. Übersetzt und kommentiert von Alexander Nitzberg. Mit einem Nachwort von Jörg Baberowski.
Galiani Verlag, Berlin 2015. 290 S., geb., 22,99 [Euro].
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