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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Beraubt all dessen, was einen Menschen ausmacht: Yavuz Ekincis großer Roman "Das ferne Dorf meiner Kindheit" erzählt vom türkisch-
kurdischen Konflikt.
Über dieser Geschichte liegt ein Schmerz, der sich wie eine dunkle Wolke über das Leben ihrer Protagonisten legt und sich aus Verlust speist. Verlust der Heimat, der eigenen Identität, der Selbstbestimmtheit, der Liebe. Und der tief sitzende Schmerz, im eigenen Verlust nicht verstanden zu werden.
Der kurdische Schriftsteller Yavuz Ekinci hat mit "Das ferne Dorf meiner Kindheit" einen großen Familienroman geschrieben, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Im Kleinen wird hier von einem der längsten und ältesten Konflikte erzählt, den die Weltgemeinschaft nicht befrieden kann. Im Original lautet der Titel des bereits 2012 in der Türkei erschienenen Werks "Die verlorene Erde des Paradieses", und dieser Titel trifft es genauer, denn Verlust ist es, was den Roman treibt - auch wenn sich manche Trauer erst nach und nach erschließt.
Ekinci erzählt die Geschichte mehrerer Generationen, die unterschiedliche Traumata zu verarbeiten haben: Vertreibung, Mord, Schuld, Verleugnung. Es geht um die bittere Geschichte der Türkei und Kurdistans im zwanzigsten Jahrhundert. Plastisch beschreibt Ekinci die Brutalität türkischer Soldaten gegenüber kurdischen Dorfbewohnern, ihre gefühlte Überlegenheit, die sich in jedem Tritt in die Magengrube der am Boden Liegenden ausdrückt.
Ekinci wurde 1979 in Batman im kurdischen Südosten der Türkei geboren. Seine Geschichte spielt dort, wo er aufgewachsen ist. Als er begann, den Roman zu schreiben, war er gerade Anfang zwanzig und sehr wütend, wie er in einem Gespräch mit dem "Tagesspiegel" erzählt hat: "Ich fand, dass dieser Stoff eine harte, eine realistische, aber auch zerstörerische Sprache erfordert. Das Land ist in eine Art Hölle verwandelt worden, in einen verfluchten Ort. Seit hundert Jahren gibt es Gewalt mit unglaublich vielen Toten und schrecklichem Leid."
Der erste Teil des Romans erzählt aus der kindlichen Perspektive Rüstems, des jüngsten Mitglieds der Familie, vom Aufwachsen im Südosten der Türkei in den Achtzigerjahren. Es sind Bilder einer noch nicht verstehenden Kinderseele, durch deren Augen wir den Alltag in einem Dorf in den Bergen erleben. Traditionen, Riten, Märchen, Magie, Religion und Aberglaube mischen sich in dieser patriarchalen Gesellschaft zu einem sich immer wiederholenden Rhythmus der Jahreszeiten. Doch Rüstems Kindheit ist nicht nur unbeschwert. Sein älterer Bruder Ebubekir ist als Guerillakämpfer in die Berge geflüchtet, der Vater Mirza trauert und bangt um den Sohn, nie wissend, ob dieser noch lebt und kämpft oder schon längst von einer der vielen Granaten der Armee, die in den nahen Bergen einschlagen, zerfetzt wurde. Als der Sohn einmal für Sekunden im Fernsehen zu sehen ist, wird von da an alles in einer Zeitrechnung vor und nach diesen Fernsehbildern gemessen. Gleichzeitig leidet Mirza unter seinem patriarchalen Vater Hasan, der ein dunkles Geheimnis hütet, für Rüstem jedoch ein liebevoller Großvater ist.
Die Unterdrückung, die auf den Menschen lastet, erfährt Rüstem zum ersten Mal am eigenen Leib, als er eingeschult wird. Hier wird ihm die eigene und einzige Sprache genommen, die er spricht. Rüstem erinnert sich so: "Der Lehrer baute sich vor uns auf und sagte: 'Ihr redet von jetzt an nur noch Türkisch, ob zu Hause, in der Schule oder auf dem Feld. Kurdisch ist verboten. Und wer sich nicht daran hält, kriegt eine Tracht Prügel von mir. Ein paar von euch bekommen von mir den Auftrag, jeden zu melden, der weiterhin Kurdisch spricht.'" Unterdrückung mit System, Freunde werden zu Spitzeln der Obrigkeit.
Im zweiten Teil des Romans wechselt nicht nur die Perspektive der erzählenden Person, sondern hier eröffnet sich dem Leser auch eine weitere Dimension des Konflikts: Es ist der wuchtige innere Monolog von Hatice, der im Sterben liegenden Großmutter Rüstems. Sie ist verstummt, aber innerlich leidet sie Seelenqualen. "Mir war meine Religion genommen worden, mein Name, mein Dorf war geplündert worden, meine Angehörigen niedergemetzelt und den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, und ich stand da und schwieg, als hätte ich geschworen, nie wieder zu sprechen."
Sie, die eigentlich Armenierin und gläubige Christin ist, überlebte als Einzige das Massaker an ihrer Familie, ihrem Dorf. Gefunden wurde sie von Hasan, der sie aufnahm, doch damit verlor sie das Letzte, was ihr geblieben war aus dem alten Leben: ihre Identität. Es ist ein Schmerz, der sie nie verlässt.
Aus der Christin Almast wird die Muslimin Hatice, und ihr wird nicht nur der Name genommen, sondern Vergangenheit und Seele. Sie lebt unter den Mördern, und die Ironie der Geschichte ist, dass jene, die sich schuldig an der Vertreibung und den Massakern an den Armeniern gemacht haben, später selbst zu Gejagten werden, die ihrer Identität und Heimat beraubt werden sollen. "Wenn ich an die Täler dachte, in denen man Frauen und Kindern den Bauch und die Kehle durchtrennt hatte, und daran, dass ich unter dem gleichen Himmel mit Menschen zusammenlebte, die den Opfern, die sie abgeschlachtet hatten, noch nicht einmal ein Grab gönnten." Noch auf dem Sterbebett hadert Hatice mit diesem Schicksal.
Als Mirza den letzten Wunsch seiner Mutter erfüllen will, wird deutlich, wie unbarmherzig die türkische Regierung den Menschen eine Rückkehr in ihre Heimat verwehrt und damit deren Identität und Geschichte auszulöschen versucht. Ihre Wurzeln werden aus dem Boden gerissen und dürfen nie wieder den Boden dieser Gegend berühren. Noch nicht einmal die Toten dürfen in dieser Erde begraben werden. Heimat wird zum Sperrgebiet.
Ekinci erzählt diese oft brutale Geschichte in sehr poetischer und bildlicher Sprache, die oft märchenhaft und rätselhaft erscheint. Der Schriftsteller lebt seit Juni 2023 in Deutschland, PEN Berlin unterstützt ihn. In der Türkei stand der Autor mehrfach vor Gericht, ihm wird "terroristische Propaganda" vorgeworfen, weil er sich in Social-Media-Beiträgen von 2013 und 2014 solidarisch mit den Kurden gezeigt hatte, ihm drohen mehrere Jahre Gefängnis. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass dieser düstere, brutale Roman 2012 in der Türkei erscheinen konnte.
Damals sei in der Türkei viel über die Notwendigkeit einer Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung diskutiert worden, sagte Ekinci. Davon ist heute in der Türkei unter Präsident Erdogan längst nichts mehr zu spüren. Umso wichtiger ist ein Werk wie "Das ferne Dorf meiner Kindheit", um den Schmerz und das erlittene Unrecht nicht zu vergessen. Für Ekinci sollte die "Schriftstellerei uns helfen, Menschen zu verstehen, uns einzufühlen auch in jene, mit denen wir gar nicht einverstanden sind". AMIRA EL AHL
Yavuz Ekinci : "Das ferne Dorf meiner Kindheit". Roman.
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Kunstmann Verlag, München 2023. 325 S., geb., 26,- Euro.
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