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Amy Waldman kennt Afghanistan aus eigenem Erleben. Ihr Roman "Das ferne Feuer" zeigt ein Land, dem mit westlichen Vorstellungen nicht beizukommen ist.
Die amerikanische Journalistin Amy Waldman beschrieb vor zwanzig Jahren in einem Artikel für die "New York Times" ihre Schwierigkeiten, in Afghanistan mit vollverschleierten Frauen ins Gespräch zu kommen. Sie selbst, die ihr Gesicht zeigte, wurde nach den Jahren der Taliban-Herrschaft angestarrt von Frauen wie Männern, als hätte man noch nie ein weibliches Antlitz erblickt. Diese Eindrücke haben sie nicht losgelassen.
Nach ihrem Romandebüt "Der amerikanische Architekt" (F.A.Z. vom 4. Februar 2013), in dem sie virtuos durchspielte, gegen welchen Generalverdacht Muslime in Amerika nach dem 11. September 2001 zu kämpfen hatten, widmet sie sich in ihrem zweiten Roman abermals den Folgen jenes Terroranschlags: "Das ferne Feuer" handelt von einer Studentin der medizinischen Anthropologie an der Universität Berkeley, die aus Gründen in ein Dorf reist, die sie mit vielen jungen Menschen aus dem Westen teilt - einmal kurz die Welt retten und nebenbei vielleicht Material für die Masterarbeit abstauben.
Ein wenig anders liegt der Fall aber doch. Die zweiundzwanzigjährige Parvin Schams ist in erster Generation Amerikanerin, ihre Eltern flohen aus Kabul und landeten, nicht sehr privilegiert, in Union City. Parvins Mutter ist, als die Geschichte einsetzt, unlängst verstorben und der Vater wenig angetan, als ihm seine Tochter eröffnet, sie wolle für mehrere Monate nach Afghanistan reisen. Auslöser dafür ist die Lektüre eines Buches. Der Augenarzt Gideon Crane, Ehebrecher und Honorarbetrüger, hat sich zur Buße seiner Schuld als Helfer nach Afghanistan begeben. Als ihm der Versuch misslingt, eine gebärende Frau zu retten, baut er als Wiedergutmachung eine Klinik in ihrem Dorf und schreibt ein Buch über seine Wohltätermission: "Mother Afghanistan" wird ein Millionenseller, Crane ein humanitärer Star, seine Stiftung steinreich.
Parvin ist elektrisiert von Buch und Autor, es gelingt ihr, im Auftrag der Stiftung nach Afghanistan zu reisen, um den Fortschritt in der Bekämpfung der Müttersterblichkeit zu dokumentieren. Das Dorf, "ein idyllisches, von Ausländern unberührtes Fleckchen Erde", lebt ohne die Segnungen der Moderne. Nur ein Haus verfügt über einen dieselbetriebenen Generator, fließendes Wasser gibt es nicht. Zurückgeworfen auf einfachste Lebensverhältnisse - Handy und Yogamatte entpuppen sich als überflüssig -, entdeckt Parvin die Kraft ihrer fünf Sinne und der Stille, die Abwesenheit von "Berieselung mit Neuigkeiten aus dem Leben anderer", von Multitasking und Internet. "Das Dorf war wie von jeder Schrift reingewaschen. Welche Verwendung hätten die Dorfbewohner für Beschriftungen gehabt? Die meisten von ihnen konnten nicht lesen, und abgesehen davon brauchten sie keine derartigen Hinweise in einem Ort, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatten." Parvin dagegen entstammt einer Kultur, in der das Lesen "vielleicht das einzige angelernte Verhalten" ist, "das so unwillkürlich wurde wie Atmen".
Die unverschleierte Kalifornierin taucht ein in den zehrenden Alltag der Muslimas, in Eifersüchteleien, Streitereien, aber auch in Zuneigung und Fürsorge. Sie beginnt, Cranes Buch vorzulesen, spricht mit Zeitzeugen, und je mehr sie erfährt, desto klarer wird, dass darin so ziemlich alle Details falsch bis frei erfunden sind.
Waldman montiert diese kursiv gesetzten Passagen aus dem fiktiven Buch "Mutter Afghanistan" geschickt in den Erzählfluss. Cranes Märchen ist ein Echo auf den amerikanischen Philanthropen Greg Mortenson, dessen Buch "Three Cups of Tea" (2008) ein auch ins Deutsche übersetzter Welterfolg war - bis die Reporterlegende Jon Krakauer mit dem nicht ins Deutsche übersetzten Buch "Three Cups of Deceit" (2011) die Luft aus der Sache ließ. Auch Mortenson ließ seiner Phantasie freien Lauf - gestört hat das niemanden, schon gar nicht jene Wohltäter, die auf Amerika komm raus Schulen und Kindergärten in Afghanistan gebaut haben. Viele dieser Einrichtungen ereilte das gleiche Schicksal wie die Klinik Cranes, ein strahlend weißer Bau am Ortsrand, der so aussieht, als zöge er sich demnächst einen Sonnenbrand zu. Das Haus steht leer, einmal die Woche nimmt eine Ärztin aus der nächsten Stadt den beschwerlichen mehrstündigen Weg in die Berge auf sich, um den Frauen zu helfen - männliche Ärzte aufzusuchen ist ihnen verboten.
"Das ferne Feuer" nimmt eine Wendung, als amerikanische Soldaten auftauchen und verkünden, der Präsident der Vereinigten Staaten habe beschlossen, aus der beinahe unpassierbaren Schotterpiste eine solide Straße zu machen, von der alle nur profitieren könnten. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Propaganda-Aktion, um im Land der "gütigen" Besatzungsmacht die Stimmung pro Kriegseinsatz lebendig zu halten. Und so beginnen unumstößliche Wahrheiten des Westens, die Parvin in sich trägt, zu bröckeln.
Der für die deutsche Übersetzung gewählte Titel macht sich kleiner als das Original: "A Hole in The Earth" ist ein Zitat aus der Ilias-Nachdichtung "Memorial" (2011) der gegenwärtigen Inhaberin der Oxforder Poetik-Professur, Alice Oswald. Über Paris, der durch die Entführung Helenas den Trojanischen Krieg lostrat, heißt es da: "Er öffnete eine Tür in der Erde / Und eine ganze Generation ging hinein." Amy Waldman verkoppelt den Roman auch noch an anderer Stelle mit der Antike, wenn sie Parvin und Trotter das Theseus-Paradoxon erörtern lässt, von dem zuerst Plutarch berichtet: Verliert ein Schiff - ein Gegenstand - seine Identität, wenn nach und nach alle Einzelteile ausgetauscht werden?
Waldman will mehr als eine in Romanform umgegossene journalistische Story. Ihr Kernthema ist die Frage, wie mit den Ärmsten der Armen, muslimischen Frauen in patriarchalischen Gesellschaften, umzugehen sei. Eine bündige Antwort liefert sie nicht, stattdessen die Einsicht, dass unsere Moral hier an Grenzen stößt. Die Vereinigten Staaten kommen nicht gut weg in dieser Geschichte aus einem Land, das bis heute keinen Frieden gefunden hat. Oberflächliche Freundlichkeit und guter Wille werden als etwas dekonstruiert, das keine Substanz hat: Es nutzt nichts, Kliniken und Schulen zu bauen, wenn hinterher kein geschultes Personal bezahlt werden kann, um die Einrichtungen zu betreiben.
Der Straßenbau der Besatzer wird Ziel von Sabotageakten, und je länger die Geschichte sich in den Herbst hineinzieht, desto klarer wird Parvin, dass sie ein störendes Element in der Dorfgemeinschaft ist. Sie gehört zu beiden Kulturen, und damit zu keiner. Waldman lastet der schmalen jungen Frau ein bisschen viel Schicksal auf, nicht alle ihre am Ende immer heroischeren Kraftanstrengungen wirken psychologisch noch überzeugend, und manchmal muss sie auch als reine Ideentransporteurin herhalten. Auch wirkt das Finale im Stil oft gesehener Kriegsfilmbilder mit Hubschraubereinsatz dick aufgetragen. Aber im Vergleich zu dem Panorama, das Waldman auffaltet, und zu den Fragen, die sie stellt, wiegen diese Einwände wenig.
HANNES HINTERMEIER
Amy Waldman:
"Das ferne Feuer". Roman.
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2021. 496 S., geb., 26.- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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