Brachial gut
Wow, was für ein Buch! Guillermo Arriaga kennt sich aus und schafft es tatsächlich über – sage und schreibe – 800 Seiten den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen. Und das Ganze mit einem sehr ungewöhnlichen Schreibstil, zumindest
mutet es in der Übersetzung aus dem Spanischen so an. OT „Salvar el fuego“. Ich habe fünfzehn farbige…mehrBrachial gut
Wow, was für ein Buch! Guillermo Arriaga kennt sich aus und schafft es tatsächlich über – sage und schreibe – 800 Seiten den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen. Und das Ganze mit einem sehr ungewöhnlichen Schreibstil, zumindest mutet es in der Übersetzung aus dem Spanischen so an. OT „Salvar el fuego“. Ich habe fünfzehn farbige Klebchen (Pagemarker) reingepackt, aber bevor ich die durchgehe, möchte ich kurz zum Inhalt kommen.
Die Protagonistin Marina, die einzig in der Ich-Form erzählt, ist Tänzerin und Choreografin, hat drei Kinder und einen verständnisvollen, vermögenden Mann, Claudio, und reichlich Hauspersonal in Mexiko-Stadt. Ihr gehört eine Tanzschule: „Danzamantes“ und sie ist ständig auf der Suche nach ungewöhnlichen Choreografien. „Es [gemeint ist hier Chan Chan] war das Lieblingslied der Truppe, seit wir eine Choreografie zu der Wahnsinnsversion von Compay Segundo auf die Bühne gebracht hatten.“ (S. 173)
Die männliche Hauptfigur des Romans heißt José Cuauhtémoc, oft kurz als JC bezeichnet, ein großer blonder Indio, zu fünfzig Jahren Knast verurteilt wegen mehrfachen Mordes und er sitzt ein im „Reclusio Oriente“. „Der Mann hatte Gesichtszüge wie der Schauspieler >Indio< Fernandez, nur in blond. Seine Physiognomie eines aztekischen Fürsten passte irgendwie nicht zu seiner Wikingermähne und seiner imposanten Statur.“ (S. 174) Schade, dass es kein Hörbuch gibt, denn ich hätte gern gewusst, wie man JCs Namen richtig ausspricht. JC mag auf jeden Fall die Gute-Laune-Music von Celso Piña. (S. 115)
Eines Tages beschließt Marina mit ihrer Tanztruppe im Gefängnis aufzutreten und mehrere ihrer reichen und einflussreichen Freunde unterstützen dieses Vorhaben. Zusätzlich gibt es eine Schreibwerkstatt im Knast, zwei Mal pro Woche, die ein weiterer Freund von Marina leitet. Oft ist sie dann auch dabei. Zahlreiche literarische „Knastschriftstücke“, wilde und harte Prosa, bereichern diesen Roman. Sofort erkennbar am Schrifttyp, unterschrieben jeweils vom Häftling soundso, Nummer soundso, samt Dauer der Haftstrafe und wofür.
In Kursivschrift finden wir dann noch aufschlussreiche „Briefe“ von JCs Bruder Francisco, gerichtet an deren ermordeten Vater Ceferino. Dieser war eine intelligente, aber furchtbar grausame Kreatur.
Marina verliebt sich in JC und der Leser fragt sich natürlich, wie diese von JC erwiderte Liebe, die alle Grenzen sprengt, Erfüllung finden kann, zumal JC zu fünfzig Jahren Haft verurteilt wurde. Oder ist jede zufällige Begegnung eine Verabredung? (Frei nach Borges, S. 552)
Hier werden oft die Zeitebenen gewechselt, das bringt unerwartet viel Schwung in die Handlung und stört keineswegs den Lesefluss. Im Gegenteil, so manches Geschehen erhellt sich noch im Nachhinein. Die Blickwinkel der verschiedenen Protagonisten sind ebenfalls leicht erkennbar, es schreiben Marina, JC, etliche Häftlinge vom Reclusio Oriente, z. T. wird das Gefängnispersonal beschrieben und natürlich berichtet Francisco dem toten Ceferino. Der Leser wird an mehrere Seiten der Medaille herangeführt: Das abgehobene Luxusdasein reicher Familien, wie der Longines; das unbeschreibliche Elend im Knast und die Brutalität der rivalisierenden Banden im Außen, samt korrupter Polizei und Behörden. Sprachgewaltig der Stil, oft das Englische in Lautschrift, um innezuhalten. Kein gutes Haar wird an den USA gelassen: „Die Vereinigten Staaten behaupten, sie seien das Land der Freiheit, dabei sind sie in Wirklichkeit das Land der Repression und der eigennützigen Gesetze.“ (S. 450)
Fazit: Diese 800 Seiten vergehen wie im Flug. Wir bekommen nicht nur eine Liebesgeschichte, so intensiv und von einer Wucht, die einen umhaut, wie ich sie noch nie zuvor gelesen habe, sondern wir erleben auch die gegensätzlichsten Welten Mexikos. Angereichert mit den feinsten Literatur- und Musiktipps, die die Latinowelt so zahlreich zu bieten hat. Beispiele Autoren: Álvaro Mutis oder Jorge Luis Borges. Für hartgesottene Leser überaus empfehlenswert. Von mir höchst verdiente 5 Sterne.