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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wenn Rechtsbruch die Voraussetzung für die Erlangung eines Rechtes ist: Europa und die Menschen, die kommen um (besser) zu leben.
Gerade in jüngster Zeit, in der es europaweit zu einer immer stärkeren Renationalisierung im Bereich der Asylpolitik kommt, führt das Thema Flucht und Migration wieder zu manchmal heftigem Streit. Während die einen, insbesondere Menschenrechtsorganisationen und christliche Kirchen, einen humanen Umgang mit Geflüchteten anmahnen, sprechen andere von "Sozialtourismus" oder sehen gar das christliche Abendland in Gefahr. Und eine große deutsche Boulevardzeitung konfrontiert ihre Leserinnen und Leser regelmäßig mit SOS-Meldungen, wobei es bezeichnenderweise nicht um die Hilferufe derer geht, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen, sondern um Länder und Kommunen, die auf erheblichen Platzmangel in ihren Flüchtlingsunterkünften hinweisen.
Es sind Paradoxien wie diese, für die die österreichische Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger in ihrem engagiert geschriebenen Buch den Blick zu schärfen versucht, um auf diese Weise neue Perspektiven für eine verantwortungsbewusste Asylpolitik zu entwickeln. Um welche Paradoxien geht es konkret? Erstens identifiziert Kohlenberger ein "Asylparadox". Um überhaupt ihr Recht auf Asyl geltend machen zu können, müssten Geflüchtete mangels legaler Fluchtwege oftmals zunächst Recht brechen, nämlich ohne Visa und Einreisegenehmigungen staatliche Grenzen passieren. Zweitens weist die Autorin auf ein "Flüchtlingsparadox" hin. Denn die Erwartungshaltung, mit der Geflüchtete in der Regel konfrontiert seien, bestehe darin, "gleichzeitig schwach und schutzbedürftig, aber auch leistungswillig und integrationsfähig" zu sein. Drittens thematisiert Kohlenberger in enger Anlehnung an den Soziologen Aladin El-Mafaalani ein "Integrationsparadox". Einerseits werde "Integration durch Leistung" seitens der Mehrheitsgesellschaft nämlich nachdrücklich eingefordert, andererseits sei allzu großer beruflicher und sozialer Erfolg oftmals nicht erwünscht; vielmehr könne er sogar Anlass zu stärkerer Diskriminierung sein. Und schließlich spricht die Autorin mit einem Begriff der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe von einem "demokratischen Paradox", um deutlich zu machen, dass gerade diejenigen, deren Menschenrechte nicht beachtet würden, zugleich kaum in der Lage seien, diese Rechte erfolgreich einzuklagen.
Obwohl Kohlenbergers Überlegungen insgesamt nicht vollkommen neu sind, gelingt es ihr doch, auf grundsätzliche Widersprüche hinzuweisen, vor denen nicht nur die Asylpolitik in Europa zurzeit steht. Das gilt beispielsweise auch, wie das 2016 zwischen der EU und der Türkei geschlossene Abkommen zeigt, für den Versuch, Fragen der Asylverantwortung zunehmend nach außen zu verlagern und damit an Länder zu delegieren, deren Rechtsstaatlichkeit mehr als fragwürdig ist. Aber nicht nur auf solche sehr problematischen Tendenzen weist die Autorin zu Recht hin. Sie sensibilisiert ebenso für sprachliche Phänomene der Dehumanisierung, die sich etwa dann beobachten lassen, wenn von Geflüchteten nicht mehr als individuellen Personen und konkreten Menschen die Rede ist, sondern ausschließlich in Form einer drohenden "Flüchtlingswelle". Mit diesem Bild verbinden sich in den Zielländern dann vor allem Ängste und Gefahren, während die Potentiale und Chancen von Migration ebenso ausgeblendet werden wie die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Humanität, denen sich Europa grundsätzlich verpflichtet weiß. Insofern ist es ein wichtiges Anliegen, wenn Kohlenberger nicht nur die unmittelbar politisch Verantwortlichen, sondern uns alle mit den Worten von Emmanuel Levinas und Hannah Arendt nachdrücklich daran erinnert, dass es immer auch um das "Antlitz des Anderen" gehe und dass "das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden" müsse.
Gleichwohl hinterlässt das Buch stellenweise einen ambivalenten Eindruck. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Text, wie man im Nachwort lesen kann, offenbar "wild und spontan" geschrieben wurde, was zu mancher Zuspitzung, zu vereinzelten Ungenauigkeiten und vor allem zu zahlreichen Redundanzen führt. Zum anderen schießt Kohlenberger bei aller berechtigten Kritik an einem oftmals problematischen "Asylregime" manchmal deutlich über ihr Ziel hinaus; etwa dann, wenn sie behauptet, Staaten brauchten Flüchtlinge, "die sie offiziell abwehren und draußen halten wollen, weil sie damit nach innen hin ihre Macht und Souveränität signalisieren" und zugleich "denen, die in den Staat als demos eingeschlossen sind, ihre Rechte und Privilegien verdeutlichen" könnten. Und nicht zuletzt hätte man sich gewünscht, dass die Autorin ihr Plädoyer für einen humaneren Umgang mit Geflüchteten nicht auf die insgesamt eher vage Reflexion grundsätzlicher Handlungsmaximen beschränkt, sondern dass sie ganz konkrete Schritte benennt, um politisches Handeln zu verändern und den Skeptikern einer liberaleren und menschenrechtskonformen Asylpolitik argumentativ den Wind aus den Segeln zu nehmen. Trotz dieser Kritik kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass Kohlenberger ein sehr wichtiges Buch geschrieben hat. Es legt einerseits zahlreiche Paradoxien der gegenwärtigen Migrationspolitik schonungslos offen, andererseits bietet es die Chance, einen oft eindimensionalen Blick auf Migration und insbesondere auf die Geflüchteten selbst nachhaltig zu differenzieren. Und vor allem wird kaum jemand nach der Lektüre dieses Buches noch einen Zweifel daran haben, dass es nicht nur inhuman, sondern angesichts von (Bürger-)Kriegen, Wirtschaftskrisen und Klimakatastrophen auch völlig unrealistisch ist, die vermeintliche "Festung Europa" mithilfe immer schärfer bewachter Grenzen oder gar neuer Mauern vom Rest der Welt hermetisch abzuriegeln. Auch wenn die Chancen dafür schon einmal deutlich besser standen, brauchen wir endlich eine verantwortungsbewusste Weltinnenpolitik. HOLGER THÜNEMANN
Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2022. 240 S., 24,- Euro.
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